Schamanen des Weltgeistes
Lang ist es her, dass Kolumnist Sören Heim ein herausragendes Buch auf ausdrückliche persönliche Empfehlung entdeckt hat. Fehlt etwas, wenn der Großteil der Lesebiografie von Autoritäten verordnet wurde oder selbst im Internet recherchiert?
Du sitzt in einem Alkohol ausdünstenden (!) verrauchten (!) düsteren Hinterhofantiquariat in irgendeiner verschwitzten lateinamerikanischen Großstadt. Über einen schweren runden Tisch gebeugt bringen die Genossen dich zum ersten Mal mit Marx und Engels in Kontakt, aber auch en passant mit Sartre und Flaubert, und einem vertrackten Labyrinthebastler namens Borges.
Oder: ein nordhessisches Kaff. Man steht auf der Haupt- und einzigen Straße, einem staubigen, manchmal matschigen Kiesweg, sontagmorgens, noch eh es zur Kirche läutet, und erwartet sehnsüchtig das Büchermobil der amerikanischen Gis. Die haben nicht nur Cooper dabei und alles von Mark Twain, sondern auch ein paar verwirrende englischsprachige Modernisten in deutscher Übertragung, die man tausendfach verschlingt obwohl man kaum etwas versteht, und irgendetwas davon bleibt dennoch.
Fremde Erinnerungen
Das sind natürlich nicht meine Erinnerungen. Die Bilder sind autobiografisch angehauchten Romanen entnommen, so wie sie bei mir eben hängen blieben, also womöglich grotesk entstellt, Romanen von Mario Vargas Llosa und Peter Kurzeck. Sie stiegen mir zuletzt wieder auf, als ich endlich mal wieder ein paar faszinierende Bücher entdeckte, die wohl auch bleiben werden. Wenn mich nicht die Uni lehrplanmäßig auf solche Bücher stieß, geschah das sonst meist durch bewusste Recherche. Um Lücken zu füllen, die man wahrnimmt, ohne zu wissen was fehlt. Um Themen weiterzuverfolgen, die man schon einmal angerissen hat. Oder weil man eigentlich auf der Suche nach etwas ganz anderem, halb zufällig, über eine Perle stolpert.
Manchmal scheint mir, es fehle auf diese Weise etwas: Diese fast magische persönliche Bindung an Bücher oder auch andere Kunstwerke, die weit über den Text und die ästhetische Qualität hinaus strahlt, und die uns von jeder Seite der oben genannten wieder entgegentritt, nicht im Sinne gelehrter Lesefrüchte, sondern als Erfahrenes, das tiefe Spuren hinterlässt.
Kann man solche Erfahrungen in Zeiten des allgegenwärtigen Internets noch machen? Oder nimmt man gerade, weil man in eine bestimmte Richtung Interessen hegt, für gewöhnlich vorweg, was andere einem ent-decken können?
Und: Ist das Überhaupt ein Problem?
Persönlich prägende Texte
Ich habe lange in mir gegraben, und finde doch nur drei (oder vier) prägende Texte, die mir auf ganz altmodische Weise vermittelt worden sind. Der erste ist ein Buch, das einem eigentlich von allen Seiten um die Ohren gehauen werden sollte, aber wenn man auf einem kleinen Dorf aufwächst ist doch einiges anders. Der Herr der Ringe lernte ich so im Alter zwischen acht und zwölf Jahren zuerst nur aus Erzählungen eines älteren Nachbarn kennen, mit dem ich verbotenerweise so manche Nacht bei Prince of Persia und Mortal Combat am Sega Mastersystem verzockte. Diese Erzählungen verdichteten sich zu obskuren, surrealistischen Bildern: Wälder, die nach Wandernden greifen, Adler im Gebirge, ein giganttesker Zauberer, der über einem schwarzen Vulkan mit feurigen Ringen jongliert. Obwohl ich Jahre später dann endlich das Buch in die Finger bekam und es seitdem mit schwindender Begeisterung noch einige Male gelesen habe sind diese Bilder das erste, was wieder heraufdämmert, wenn ich Der Herr der Ringe höre.
Der Gott der kleinen Dinge dann war knapp acht Jahre später das Lieblingsbuch meiner ersten „ernsthaften“ Freundin. Noch nicht richtig auf der Uni angekommen, wurde es mein erstes nicht-deutsches Stück Weltliteratur, den Text lernte ich dabei eher Bruchstückhaft im Wechsel mit anderen schönen kleinen Dingen kennen. Autorin Arundathi Roy hat sich seitdem als ständig gegen alles westliche stänkernde Daueraktivistin mit bösartigem Zungenschlag gegen Israel für mich disqualifiziert. Der Gott der kleinen Dinge lese (oder höre) ich dennoch fast jedes Jahr mindestens einmal und darf festhalten: Werke können ihre Autoren bei weitem überragen. Vor allem fasziniert an diesem kurzen indischen Roman, so sehr auch schon auch darin Kolonialismus und Wachstumszwang gebrandmarkt werden sollen, wie fast alle Momente des kleinen Glücks von der Orangen-Zitronen-Limonade über Coca Cola und die Lieder Elvis‘ bis hin zum Glücksversprechen romantischer Zweisamkeit ebenfalls ihre westlich-universalistischen Prägung mitbringen. Ein mächtiger, zwiespältiger, facettenreicher Text, den man auch Roy ruhig einmal zur öfteren Lektüre anempfehlen könnte.
Der dritte und der vierte Text sind Sadeq Hedayats Die blinde Eule, sowie die gesammelten Gedichte von Forrugh Farrochsad, auf die mich eine gute Freundin in etwa parallel zu den Protesten in Iran 2009 aufmerksam machte. Inwiefern sich Farrochsad und mein seitdem anhaltendes Interesse an der politischen Situation in Iran miteinander vermischten, habe ich hier schon einmal ausführlicher beschrieben. Hedayat dagegen taugt zur politischen Anknüpfung so sehr oder so wenig wie Kafka. Die blinde Eule ist ein eindringlich düsterer Rätseltext, der dem Leser kaum lang werden kann, und dabei ohne die Bemühtheit des gewollt verdunkelnden Schreibens, die deutschsprachige Kafka-Epigonen oft so unerträglich macht.
Schamanen des Weltgeistes
Nun wird man die Zeit nicht rückwärts drehen können. Derart zwischen-menschliche Kunsterfahrungen, wie sie in den eigenen und fiktiven Beispielen oben geschildert werden, werden vielleicht umso unwahrscheinlicher, je vernetzter die Welt und je aktiver man sich selbst auf die Suche begibt. Es soll auch gar nicht gesagt sein, dass eine Tiefe, das Leben prägende Bindung an ganz allein Entdecktes per se nicht möglich wäre, oder dass ein jeder gleich viel vom Weitergereichten, vom gemeinsam erlebten Werk profitieren wird. Aber manchmal scheint mir, mit den von Kurzeck und Llosa geschilderten „Erweckungserlebnissen“, in denen wie ein Schamane des Weltgeistes uns ein Anderer eine ganz neue Erkenntnis aufschließt, könnte doch etwas Bedeutendes verloren gegangen sein. Etwas universalistisch-gemeinschaftsstiftendes jenseits von Nation, Religion, Scholle. Ein emphatisches Weltbürgertum, das nicht schon die Vereinzelung in der Anonymität (nicht nur) des World-Wide-Web in sich trägt. Etwas globales, vielleicht, anstelle von etwas nur „globalisierten“. Doch das mögen romantische Anwandlungen sein.
Und immerhin: Etwas von dieser Erfahrung lässt sich retten. Wenn man selbst Texte weiter empfiehlt, selbst über Literatur Kontakte knüpft und vielleicht, vielleicht, wenn schon keine Kneipe dann doch zumindest eine verranzte Ramschbibliothek findet, in der es sich saufen und rauchen lässt. Muss es doch irgendwo geben…
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