Plädoyer für das Hörbuch
Das Hörbuch hat noch immer den Ruf, etwas für Lese- und Denkfaule zu sein. Unsinn, sagt Sören Heim: Für nicht wenige klassische und moderne Werke ist das Hörbuch eine geradezu unverzichtbare Darreichungsform.
Hörbücher gehen mal gar nicht. Ein Buch muss man anfassen können. Es riechen. Schmecken. Darin blättern. Vielleicht sogar etwas reinschreiben. Ein Hörbuch wird man nie mit der gleichen Aufmerksamkeit wahrnehmen wie ein richtiges Buch. Das ist etwas für die Lese- und, sind wir ehrlich, eigentlich auch die Denkfaulen.
Dünkel, Vorurteile
So weit allenthalben bekannte Vorurteile gegen ein verbreitetes aber immer noch nicht wirklich etabliertes Medium, mir besonders bekannt, weil ich sie – mit Ausnahme der esoterischen Riech&Schmeckeskapaden – wohl allesamt selbst einmal hegte. Und gerade die Sache mit dem aufmerksamen „wissenschaftlichen“ Lesen leuchtet ja auch irgendwie ein, nicht?
Eine Verletzung, die es mir fortan schwer machte noch stundenlang zu sitzen und in Büchern zu schwelgen zwang mir dann vor einigen Jahren das Hörbuch geradezu auf. Und viele, wenn auch nicht alle Kritiken, lösten sich in Luft auf. Auch wenn ich nach dem Bau eines Stehpultes nun wieder länger am Stück in normalen Büchern lesen kann: Das Hörbuch ist geblieben. Und einige gute Gründe, es in manchen Fällen sogar jenen aus Papier vorzuziehen.
I – Zeit
An vorderster Stelle ein ganz pragmatischer. Ab einem gewissen Alter will Geld verdient werden, die Wohnung macht sich sowieso nicht von alleine sauber und auch das Essen kocht sich nicht selbst. Autofahrten, Zugfahrten, Sportereignisse die spannend genug sind um zuzuschauen, aber doch nicht interessant genug um auch noch den Kommentar zu ertragen. Kurz: 100 Seiten und mehr am Tag sind ohne weiteres mal gehört, lesend Zeit dafür zu finden ist gar nicht so einfach. Und ehe ich ganz auf den literarischen Genuss verzichte, höre ich lieber.
II – Klangerfahrung
Die Vorstellung, dass Literatur in erster Linie im stillen Kämmerlein genossen wird ist eine mit den Individualisierungsprozessen der aufklärerischen Moderne aufgekommene. Voraufklärerische Literatur war auf das Hören hin ausgelegt und entsprechend komponiert. Doch auch Goethe las seine Texte noch gerne vor, und eigentlich endete die Zeit der still gelesenen Literatur, zumindest im Bereich der nicht auf reine Unterhaltung/Berieselung ausgelegten, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Spätestens seit den ersten Erzählungen James Joyce‘ hat auch ambitionierte Prosa (wieder) eine bedeutungstragende klangliche Seite, die, wer nur so über die Zeilen fliegt, all zu leicht überliest, und die zudem vorgelesen zum Leben erweckt einfach Spaß macht. Aber auch Dialekte und Soziolekte bei Dickens, Twain, Mann oder Storm von einem Vortragenden aufbereitet zu bekommen, der sich nicht an den Formulierungen einen abbricht, ist ein großer Gewinn.
Ja, der ideale Leser fasst all das auch lesend auf. Aber stelle ich meine ersten Lektüren von Eliots Wasteland gegen das erste Hören, war Letzteres eine Offenbarung. Auch für spätere Lektüren. Probieren Sie es, gern auch mit den melodischen Meisterwerken Dylan Thomas‘.
III – Komposition
Der moderne Roman ist auch in seiner Gesamtanlage stärker am musikalischen Großkunstwerk geschult als an traditionellen vorher-nachher Erzählungen. Die subtile Art und Weise, wie verschiedene Handlungsstränge miteinander verwebt sind, sich spiegeln und konterkarieren, verlangt spätestens seit Werken wie den Buddenbrooks eigentlich zwingend nach mehrmaliger Lektüre. So wenig sich die Neunte Sinfonie nach einem Mal durchhören abhaken lässt, so wenig geht das mit kunstvoller Prosa. Allerdings, und da wären wir wieder bei 1), wer hat lesend Zeit dafür? Wer überwindet sich? Ein Meisterwerk ist eher dreimal gehört als gelesen. Selbst wenn man teilweise weniger aufmerksam vorgeht als beim akribischen Lesen mit Stift und Papier, entsteht so eine ganz neue Art der Aufmerksamkeit auf die Anlage des Ganzen. Und das nur nebenbei: Wer es wirklich wissenschaftlich will, weil Stellen zitiert werden müssen z.B., dem dürfte es nicht schwer fallen zwischendurch einfach mal in den Text zu schauen. Menschen, die nicht nur in Bücher schreiben (nix gegen einzuwenden), sondern das gern als Ausweis ihrer geistigen Überlegenheit erwähnen, sollten sogar fähig sein Hörbuchminuten in Buchseiten umzurechnen. Lässt sich tatsächlich mit überraschender Genauigkeit bewerkstelligen.
Überfliegen unmöglich
Zuletzt: Ja, es gibt Bücher die KANN man nicht hören. Ich stelle die These in den Raum: Es sind schlechte Bücher. Denn was das Hörbuch nicht erlaubt ist das Überfliegen. Schwächen, die man bei Büchern, die man aus irgendeinem Grund lieb gewonnen hat, überliest, drängen dem Ohr sich schmerzhaft auf. Sich ständig wiederholende banale Formulierungen? Das Aus für Harry Potter. Lang gezogene erbärmliche Sexszenen? Good Bye Murakami, Good Bye Tom Wolfe. Überfrachtete pseudoarchaische Sprache und außer Kontrolle geratene Plotlines? Dann schau ich lieber Southpark, statt ASOIAF zu lesen. Undsoweiterundsofort.
Auch um das eigene ästhetische Urteil einmal von ungewohnter Seite auf die Probe zu stellen kann das Hörbuch ein nützliches Mittel sein.
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