Russland zwischen West und Ost

Was hielt das zarische und das sowjetische Imperium zusammen? Eine historische Betrachtung aus aktuellem Anlass von Leonid Luks


Foto: Jean-Marc Nattier zugeschrieben 4. Eremitage, Sankt Petersburg 3. Ursprung unbekannt 2. http://img15.nnm.ru/3/c/9/6/9/3223e6d548f3dff6bc0cb50f947.jpg 1. Eremitage, Sankt Petersburg  (Ausschnitt)

 

Als Wladimir Putin im April 2005 die Auflösung der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete, gab er zwischen den Zeilen zu verstehen, dass er sich mit diesem „Urteil der Geschichte“ nicht abfinden wolle. Die Wiederherstellung des untergegangenen Reiches, in welcher Form auch immer, gehört zu den vorrangigsten Zielen seines politischen Programms. Dabei lässt Putin Folgendes außer Acht: Sowohl beim Zarenreich als auch beim bolschewistischen Imperium handelte es sich um Ideokratien, deren Herzstück ein ausgeklügeltes weltanschauliches System darstellte, mit dessen Hilfe sie ihre jeweilige Staatlichkeit legitimierten. Über solch ein ideokratisches Gerüst verfügt aber Putin nicht.

Die Zarenidee

Die wohl wichtigste legitimatorische Grundlage des vorrevolutionären russischen Reiches stellte die Zarenidee dar. Wie war diese Idee entstanden? Zu Beginn der Neuzeit, also im ausgehenden 15. und im 16. Jahrhundert fanden in Russland und im Westen vergleichbare Prozesse statt: Zentralisierung des Staates, allmähliche Beseitigung des feudalen Partikularismus, nationale Selbstfindung und gewaltige territoriale Ausdehnung – die Westmächte eroberten damals Amerika, Russland seinerseits begann Sibirien zu erobern. Der Moskauer Staat – das mächtigste russische Fürstentum der damaligen Zeit – vollendete zu Beginn des 16. Jahrhunderts den Prozess der sog. „Sammlung der russischen Erde“. Viele bis dahin unabhängige russische Fürstentümer oder Städte wie z.B. Twer´, Nowgorod oder Pskow wurden nun von Moskau annektiert. In einer ähnlichen Weise verloren auch manche westliche Herzogtümer oder Königreiche wie z.B. Burgund oder Navarra ihre Eigenständigkeit zugunsten solcher zentralistisch strukturierter Monarchien wie Frankreich oder Spanien.

Trotz dieser äußerlich vergleichbaren Prozesse besaßen Russland und das Abendland etwa zu Beginn des 16. Jahrhunderts ganz unterschiedliche Wertvorstellungen, sie waren voneinander quasi durch eine unsichtbare geistige Wand getrennt.

Auf einige dieser Unterschiede möchte ich jetzt eingehen. Ein Unterschied betraf das Zarenideal, das sich in Russland zu Beginn der Neuzeit entwickelte und das im Westen keine Entsprechung hatte. Vor allem zwei Faktoren trugen zur Entstehung dieses Ideals bei: Im Jahr 1480 befreite sich Russland endgültig von dem sog. Tatarenjoch, das 240 Jahre gedauert hatte. Zweieinhalb Jahrzehnte zuvor (1453) wurde das Zentrum des östlichen Christentums – Konstantinopel – von den Osmanen erobert.

So handelte es nun bei Russland um das einzige souveräne Land, in dem der orthodoxe Glaube herrschte (wenn man von einigen kleinen Fürstentümern in Georgien absieht). Alle Hoffnungen der abhängigen orthodoxen Völker auf eine Befreiung von der Fremdherrschaft waren nun mit Moskau verknüpft.

Auch in Russland selbst wuchs seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert die Autorität der zentralen fürstlichen Macht ununterbrochen. Alle Stände, alle gesellschaftlichen Gruppierungen und Institutionen appellierten an den Moskauer Großfürsten bzw. an den Zaren (1547 wurde der Moskauer Großfürst zum Zaren gekrönt) und erwarteten von ihm, dass er seine gewaltige Macht in dem von der jeweiligen Gruppierung erhofften Sinne einsetzen werde.

Die Kirche erwartete von ihm, dass er die Grundlagen der Orthodoxie verteidigen und religiöse Nonkonformisten unterschiedlichster Art, die zu Begin der Neuzeit in Moskau recht häufig auftraten, bestrafen werde. Zugleich hoffte die Kirche, dass der Staat die bestehenden Besitzverhältnisse respektieren und die gewaltigen Kirchengüter nicht säkularisieren würde. Die Gefahr einer solchen Säkularisierung bestand durchaus, denn der zentralisierte Staat, der die politische Entwicklung der Neuzeit prägte, befand sich auf einer ununterbrochenen Suche nach neuen Geldquellen, und zwar sowohl in Russland als auch im Westen. Der gewaltige Beamten- und Militärapparat des neuen Staates musste versorgt werden, nicht zuletzt deshalb riefen Kirchengüter Begehrlichkeiten hervor. Viele Berater der Moskauer Großfürsten versuchten diese dazu zu bewegen, Kirchengüter zu beschlagnahmen. Ohne Erfolg. Denn die Autorität der Moskauer Großfürsten bzw. Zaren basierte nicht zuletzt auf der vorbehaltlosen Unterstützung, die die Moskauer Herrscher seitens der Kirche genossen. Die Theorie von der Zusammenarbeit zwischen der weltlichen und der kirchlichen Macht, die sog. „Symphonie-Lehre“, stellte das eigentliche Fundament der politischen Kultur der orthodoxen Länder, auch Russlands, dar.

Die Petrinische Reform und ihre Folgen

Die Selbstgenügsamkeit und Selbstzufriedenheit der russischen Gesellschaft gingen mit den Umwälzungen Peters des Großen zu Beginn des 18. Jahrhunderts jäh zu Ende. Für die überwältigende Mehrheit der Russen brach jetzt eine Welt zusammen. Moskau stellte von nun an nicht mehr den Hort des reinen Glaubens, das Abbild des Himmelreiches auf Erden, sondern lediglich ein unterentwickeltes Territorium dar, das erst modernisiert werden musste. Keine andere Revolution in der Geschichte des Landes, nicht einmal die bolschewistische, erschütterte die bestehende Wertehierarchie so stark, wie die Petrinische. Das Land begab sich nun auf eine Aufholjagd, um den Rückstand gegenüber dem wirtschaftlich und technologisch davoneilenden Westen zu beseitigen.

Als Peter der Große das „Fenster Russlands nach Europa öffnete“, erhielten die russischen Gegner des allmächtigen paternalistischen Staates zusätzliche Impulse für ihren Freiheitskampf. Der russische Kulturhistoriker Wladimir Weidlé sagte einmal, die Vision Peters des Großen sei ausschließlich technokratischer Natur gewesen. Er habe die Kultur mit der technokratischen Zivilisation gleichgesetzt. Auf die Dauer sei es aber nicht möglich gewesen, die Europäisierung Russlands nur auf die Oberfläche zu beschränken. Und in der Tat, die Übernahme westlicher Technologien und Entwicklungsmodelle musste zwangsläufig auch die Übernahme westlicher Geisteshaltungen nach sich ziehen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die russische Bevölkerung ähnliche Forderungen an die Herrschenden stellen würde, wie die westlichen Völker dies schon länger getan hatten. Und diese Zeit kam in Russland im Jahre 1825 – mit dem Aufstand der Dekabristen. Unter dem Einfluss der europäischen, vor allem der französischen Ideen sagten die Dekabristen der uneingeschränkten Selbstherrschaft den Kampf an und versuchten, die russische Autokratie mit Hilfe einer verfassungsmäßig verankerten Gewaltenteilung zu zähmen. Die Auflehnung der Dekabristen scheiterte zwar, sie eröffnete aber ein neues Kapitel in der Entwicklung der politischen Kultur Russlands. Der Freiheitsdrang, der sich auch in früheren Epochen der russischen Geschichte immer wieder manifestiert hatte, war von nun an untrennbar mit dem Begriff „Dekabristen“ verbunden. Die russische Autokratie, die auf der Bevormundung ihrer Untertanen basierte, wurde nun in einem immer stärkeren Ausmaß durch Kräfte herausgefordert, die sich dieser Bevormundung entziehen wollten. Zum Sinnbild dieses Freiheitsdranges wurde die in den 1830-er Jahren entstandene neue gesellschaftliche Formation – die revolutionäre Intelligenzija.

Die Tatsache, dass der Begriff Intelligenzija in westliche Sprachen nicht übersetzbar ist und dort lediglich als Terminus technicus verwendet wird, zeigt, dass es sich bei der Intelligenzija um ein typisch russisches Phänomen handelt, das in anderen Ländern nur selten eine Entsprechung besaß. Die Unbedingtheit und Absolutheit, die den revolutionären Glauben der russischen Intelligenzija auszeichneten, seien im Westen praktisch unbekannt gewesen, so der Kölner Historiker Theodor Schieder.

Was in diesem Zusammenhang verwundert, ist die Tatsache, dass die Intelligenzija sich ausgerechnet in der Herrschaftsperiode des liberalen Zaren Alexander II. (1855-1881), der als „Zar-Befreier“ in die russische Geschichte einging, radikalisierte. Je liberaler die Monarchie wurde, desto radikaler wurde sie von der Intelligenzija bekämpft. Sie war nicht an der Reform des bestehenden Systems interessiert, sondern an seiner gänzlichen Zerstörung, um auf seinen Ruinen ein soziales Paradies auf Erden aufzubauen.

Statt auf eine Überwindung der inneren Spaltungen, statt auf eine allgemeine Versöhnung steuerte Russland ausgerechnet in der Epoche der Reformen auf eine totale Konfrontation zu, deren Höhepunkt die Ermordung des Zaren Alexander II. durch die Terrororganisation „Narodnaja wolja“ (Volkswille oder Volksfreiheit) am 1. März 1881 darstellte.

Man muss dabei bemerken, dass die Abwendung einiger Teile der politischen Elite des Landes von der Autokratie die russischen Volksschichten zunächst in keiner Weise beeinflusste. Sie blieben zarentreu und sahen im Selbstherrscher den Wahrer der Rechtgläubigkeit und der sozialen Gerechtigkeit. Dies ungeachtet der Tatsache, dass die bestehenden Besitzverhältnisse, die die russische Bauernschaft als äußerst ungerecht empfand, vom zarischen Regime legitimiert wurden. Erst um die Jahrhundertwende – infolge der nun einsetzenden Modernisierung des Landes – fand eine allmähliche „Korrosion“ dieses „vormodernen“ Glaubens statt. Aus der wichtigsten Stütze der russischen Autokratie verwandelten sich nun die Volksschichten in ihre gefährlichsten Gegner. Ihre Hoffnung auf die Errichtung einer sozial gerechten Ordnung, auf die Enteignung der Gutsbesitzer, die sie für Schmarotzer hielten, begannen sie in einem immer stärkeren Ausmaß vom Zaren auf revolutionäre Parteien zu übertragen.

Die Erosion des Glaubens an den Zaren hat der russischen Monarchie ihre legitimatorische Basis gänzlich entzogen. Deshalb hatte sie nach dem Ausbruch der Revolution vom Februar 1917 so gut wie keine Verteidiger mehr.

Der bolschewistische Janus

Nach ihrer Machtübernahme im Oktober 1917 sagten die Bolschewiki der imperialen Tradition Russlands den Kampf an. Die „weißen“ Gegner der Bolschewiki, die die Bolschewiki eines beispiellosen Nationalverrats bezichtigten, verkörperten während des russischen Bürgerkriegs (1918-1921) imperiale Traditionen. Sie kämpften für das „einige und unteilbare Russland“. Nach dem gewonnenen Bürgerkrieg begannen allerdings die Bolschewiki in einem immer stärkeren Ausmaß an die russischen Reichstraditionen anzuknüpfen. Ihr Vorgehen stellte eine Art Synthese zwischen den entgegengesetzten Polen der politischen Kultur Russlands dar – dem revolutionären und dem imperialen. Moskau war einerseits die Hauptstadt einer Großmacht und andererseits zugleich das Zentrum der kommunistischen Weltbewegung. Natürlich haben sich die Akzente in der sowjetischen Außenpolitik im Laufe der Zeit verschoben. Das Land begann allmählich zur traditionellen Großmachtpolitik zurückzukehren und die Politik der kommunistischen Weltbewegung den Interessen des sowjetischen Staates anzupassen. Dennoch ist trotz dieser Akzentverschiebung die weltrevolutionäre Komponente aus der sowjetischen Außenpolitik niemals verschwunden. Der Glaube an die kommunistische „lichte Zukunft“ und der „proletarische Internationalismus“ stellten die wohl wichtigste legitimatorische Grundlage des von den Bolschewiki um das Jahr 1920 wiederhergestellten Imperiums dar. Die Erosion dieses Glaubens, die bereits in der Zeit der sogenannten Breschnewschen „Stagnation“ zu beobachten war, entzog dem Sowjetreih das wohl wichtigste „ideokratische“ Fundament. Als Michail Gorbatschow versuchte, mehr Demokratie zu wagen und das Unfehlbarkeitsdogma der Partei aufgab, stellte sich heraus, dass die kommunistische Idee in den Augen der Bevölkerungsmehrheit ähnlich diskreditiert war wie die Zarenidee zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach dem Scheitern des Putschversuchs der kommunistischen Dogmatiker im August 1991 und nach der Entmachtung der KPdSU verlor das Sowjetreich seine wohl wichtigste organisatorische und weltanschauliche Klammer. Die Aufrechterhaltung der bestehenden Staatstrukturen war angesichts dieser Sachverhalte wohl kaum möglich

Putinokratie statt Ideokratie

Mit diesem „Urteil der Geschichte“ will sich Putin, wie eingangs erwähnt, nicht abfinden. Er strebt danach, das 1991 aufgelöste Imperium, in welcher Form auch immer, wiederherzustellen. Auf welchen legitimatorischen Grundlagen soll aber das von ihm angestrebte imperiale Gebilde basieren? In diesem Zusammenhang beruft sich Putin in seinen Reden wiederholt auf manche konservativ und imperial gesinnte russische Denker, die den russischen Obrigkeitsstaat über alle Maße verklärten und den westlichen Pluralismus in Bausch und Bogen verdammten. Besonders häufig bezieht sich Putin bekanntlich auf den russischen Exildenker Iwan Iljin und dessen Vorstellungen vom Neuaufbau Russlands nach der Überwindung der bolschewistischen Diktatur. Eine demokratische Gesellschaftsordnung lehnte Iljin für das nachbolschewistische Russland entschieden ab, weil diese, so sein Argument, sich im Jahre 1917 (nach dem Sturz des Zaren) gänzlich diskreditiert habe. Nur eine „nationale Diktatur“ werde dem Chaos, das nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Regimes ausbrechen werde, gewachsen sein, so Iljin. Dabei trat Iljin für eine persönliche Diktatur ein und lehnte jede Art von kollegialer Führung ab, weil diese angeblich die Willensbildung der Regierung zersplittere. Abgesehen davon trat Iljin, ähnlich wie die „weißen Gegner“ der Bolschewiki während des russischen Bürgerkrieges, für das „einige und unteilbare Russland“ ein und lehnte jede Form von Separatismus, der das imperiale Gefüge des Landes aushöhlen könnte, entschieden ab.
Putin scheint all diese Gedankengänge seines „Lieblingsphilosophen“ verinnerlicht zu haben. Sie prägen sein politisches Vorgehen seit der Errichtung des Systems der „gelenkten Demokratie“ im Jahr 2000 in einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß. Dennoch enthält das politische Vermächtnis Iljins aus der Sicht vieler russischer „Nationalpatrioten“ einige Schönheitsfehler. Sie betreffen Iljins ursprünglich positive Einstellung zum Nationalsozialismus. So könnten manche Äußerungen Iljins – z.B. die Thesen, die er in seinem Artikel „Der Nationalsozialismus. Ein neuer Geist“ vom Mai 1933 aufgestellt hatte – als „Rehabilitierung des Nationalsozialismus“ gelten, und wären im heutigen Russland strafbar (Artikel 354.1 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation). Beeinträchtigen solche Äußerungen Iljins Putins positive Einstellung zu seinem „Lieblingsphilosophen“? Wohl kaum. Er klammert sie einfach aus und stützt sich lediglich auf diejenigen Aussagen des Philosophen, die seinen politischen Kurs zu legitimieren scheinen (Iljin geriet übrigens später in einen Konflikt mit dem NS-Regime).
Es ist vergeblich, im ideologischen Konstrukt, das Putin entwickelt hat, nach irgendeiner inneren Kohärenz zu suchen. Sie fehlt. Das Einzige, was verschiedene, nicht selten einander widersprechende Teile dieses Konstrukts verbindet, ist Putin selbst. Beim herrschenden System im heutigen Russland handelt es sich also im Gegensatz zum zarischen Imperium oder zum Sowjetreich nicht um eine Ideokratie, sondern um eine Putinokratie. Einer der engsten Vertrauten Putins, Wjatscheslaw Wolodin, hat diesen Sachverhalt 2014 folgendermaßen zusammengefasst: „Putin – das ist Russland. Mit Putin steht und fällt Russland“. Diese Personalisierung des russischen Herrschaftssystems, die nach der „Zeitenwende“ vom 24.2.2022 ihren Höhepunkt erreichte, vereinfacht zwar die Befehlsstrukturen und ermöglicht den Machthabern eine unverzügliche Durchsetzung ihrer Anordnungen, auch wenn sie einen zerstörerischen und selbstzerstörerischen Charakter haben. Dennoch sind die Regime, die auf einer totalen Subordination beruhen, nicht imstande, auf unerwartete Herausforderungen zu reagieren, wenn entsprechende Befehle von oben fehlen. Dann geraten die Verteidiger des bestehenden Systems in Panik, wie dies während der Prigoschin-Revolte vom 24. Juni 2023 der Fall war.

Putins Russozentrismus

Abschließend möchte ich noch auf die Frage eingehen, ob Putins Revanchestrategie eine Aussicht auf Erfolg hat. Zweifel sind hier angebracht. Seit 1918 erlebte die Welt den Zerfall vieler Imperien und Kolonialreiche. Nur selten ist es gelungen, diesen Prozess rückgängig zu machen. Die Bolschewiki gehörten hier, wie bereits erwähnt, zu den wenigen Ausnahmen. Sie vermochten in der Tat zu Beginn der 1920er Jahre beinahe alle Gebiete des 1917/18 zerfallenen russischen Reiches unter ihre Kontrolle zu bringen. Diesen Erfolg verdankten sie nicht nur der uferlosen Gewalt, die sie bei der Unterwerfung der nichtrussischen Völker des ehemaligen Zarenreiches anwandten, sondern auch gewissen Zugeständnissen, die sie an die nationalen Belange dieser Völker machten. Es gehörte sicher zu den Paradoxien der Geschichte, dass die Bolschewiki – diese straff disziplinierte und zentralisierte „Partei neuen Typs“ – dem föderativen Prinzip im Grunde zum ersten Mal in der neueren russischen Geschichte in gewissem Grad zum Durchbruch verhalfen. Dieser Sachverhalt spiegelte sich in den innerbolschewistischen Debatten am Vorabend der Gründung der Sowjetunion (Ende 1922) wider. Josef Stalin, der bis 1924 das Amt des Volkskommissars für Nationalitäten innehatte, favorisierte den sog. „Autonomisierungsplan“. Alle Sowjetrepubliken sollten in die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) eingegliedert werden und lediglich über territoriale Autonomie verfügen. Für Lenin wiederum stellte der „Autonomisierungsplan“ eine Äußerung des „großrussischen Chauvinismus“ dar, der von einer Gleichberechtigung kleinerer Nationen nichts hören wolle. Letztendlich erhielt die im Dezember 1922 gegründete Sowjetunion den von Lenin favorisierten föderalen Aufbau.

In den 1930er Jahren, nach dem Sieg Stalins im Kampf um die Nachfolge Lenins, kam es zu einem Paradigmenwechsel in der sowjetischen Nationalitätenpolitik. Nicht der “großrussische Chauvinismus“, sondern der sogenannte “bürgerliche Nationalismus“ mancher nichtrussischer Völker des Reiches galt nun als die größte Gefahr für den inneren Zusammenhalt des Staates. Die Idee der nationalen Größe Russlands durfte nun wieder propagiert werden. Dennoch wurde die Verherrlichung der russischen Nation von den sowjetischen Ideologen immer mit einem „aber“ versehen. Sie waren sich nämlich darüber im Klaren, dass der russische Nationalismus keineswegs ausreichte, um als alleinige Klammer für mehr als 100 Völker des Sowjetreiches zu dienen. Nicht zuletzt deshalb mussten sie, trotz ihres Hangs zum russozentrischen Denken, ihr „internationales Gesicht“ wahren. Dieses „aber“ ist indes im ideologischen Konstrukt Putins nicht vorhanden. Die sogenannte „Russische Welt“ stellt die wohl wichtigste Grundlage dar, auf der er das von ihm angestrebte imperiale Gebilde aufbauen will. Am Beispiel der von Russland annektierten ukrainischen Provinzen kann man sehen, welch verheerende Folgen für die kulturelle Identität und für das Freiheitsstreben der nichtrussischen Völker der ehemaligen Sowjetunion ihre Annexion durch Russland nach sich ziehen kann. Deshalb wehren sich die Ukrainer mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen.

Im Jahr 1947 hat der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow eine vergleichbare Entwicklung bereits vorausgesehen. In seinem Artikel „Das Schicksal der Imperien“ reflektierte er über das eventuelle Schicksal des Sowjetreiches nach dem Zusammenbruch des Regimes. Er war davon überzeugt, dass die nichtrussischen Völker des Sowjetreiches nach der Entmachtung der Bolschewiki den Austritt aus der Sowjetföderation fordern würden, den ihnen die sowjetische Verfassung auch garantiere. Dies werde wahrscheinlich einen Bürgerkrieg auslösen, der das Land in zwei beinahe gleich große Teile aufteilen werde – den russischen und den nichtrussischen. Sollten die Russen diesen Bürgerkrieg gewinnen und versuchen, die Völker des Imperiums gewaltsam an sich zu reißen, werde dieser Sieg nicht von Dauer sein. Was die Russen selbst betrifft, so würde ihr Versuch, den imperialen Charakter des Landes mit Gewalt zu bewahren, jede Hoffnung auf die innere Befreiung Russlands zerstören:

Ein Staat, der die Hälfte seines Territoriums durch Terror unterdrückt, kann nicht in seiner anderen Hälfte die Freiheit sichern.

 

 

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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