Nennt ihn „Autorenpreis für Menschenrechte“!
Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch – wieder eine Preisträgerin, die nur Eingeweihte kennen. Kolumnist Sören Heim macht sich Gedanken über den Nobelpreis und sein Verhältnis zu Literatur, Politik und der Frage nach der Qualität von Kunst.
Was soll ich sagen. Ich habe von ihr noch nichts gelesen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich den Namen zuvor schon einmal gehört habe. In mehreren Jahren Slavistik-Studium wurde Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch nicht erwähnt. Es könnte ein unentschuldbares Versäumnis meinerseits sein. Es könnte ein Versäumnis meiner Universität sein. Eine Blitzumfrage unter ehemaligen Kommilitoninnen ergab: Von der Nobelpreisträgerin für Literatur 2015 habe nicht nur ich gestern zum ersten Mal gehört.
Qualität ist nicht Massengeschmack
Na und? Es ist sicher nicht falsch, dass die Schwedische Akademie nicht einfach nach dem Mainstream geht und auch immer wieder unbekanntere Perlen der internationalen Literatur in den Blickpunkt rückt. Auch im Falle von Patrick Modiano im vergangenen Jahr jammerten nicht wenige: Den kenne doch keiner. Ich bin sicher, Modiano wird dennoch auch in ferner Zukunft als würdiger Nobelpreisträger zu gelten haben. Literarische Qualität ist mehr, als worauf sich der Massenmarkt einigen kann, und das gilt auch für den gehobenen Massenmarkt der internationalen Intellektuellen-Elite. Gewiss, die Entscheidungen der Akademie sind undurchsichtig und undemokratisch und damit noch weiter aus der Zeit gefallen als die Wahl des Papstes. Aber undemokratisch war es auch, dass Herzog Karl August ausgerechnet Goethe an den Weimarer Hof holte – und dennoch prägte die Entscheidung nicht nur die euroäische Kultur auf bis heute unabsehbare Zeit, sondern war wohl auch nach literarischen Gesichtspunkten mit dem heutigen Wissen keine falsche.
Und auch, dass der Nobelpreis für Literatur seit jeher nicht nur den Schöpfern fiktionaler Werke vorbehalten bleibt, hat seine Berechtigung. Mit der Verleihung des Preises ausgerechnet an Winston Churchill, mehr als ein Jahrzehnt bevor der New Journalism die schon immer schwammige Grenze zwischen Fakt und Fiktion nun hochoffiziell verwischte, war Schweden sogar seiner Zeit voraus.
Perlentauchen – ein schwedischer Sport?
Aber dass es für die Verantwortlichen mittlerweile beinahe zu einem lustigen Sport geworden zu sein scheint, die Auszeichnungen möglichst oft an allen Erwartungen vorbei zu verleihen, verkehrt das an sich richtige Insistieren darauf, dass Kunst, in der Produktion und in der Rezeption, notwendig ein elitäres wie auch ein voluntaristisches Moment in sich vereint, in sein Gegenteil. Das Perlentauchen verschafft zusehends dem Eindruck Raum, literarischer Geschmack sei ganz relativ, Ästhetik nichts, worüber es sich zu streiten lohnt. Qualitative Kriterien in der Literatur seien nicht nur etwas, das der Massengeschmack, und gerade der je zeitgenössische Massengeschmack, selten stilsicher identifiziert, sondern lägen per se einzig im Auge des Betrachters.
Im Falle von Alejo Carpentier, Jorge Luis Borges, Octavio Paz, Augusto Roa Bastos und Mario Vargas Llosa (alle Träger des Premio Cervantes), ebenso im Falle von Nadine Gordimer, William Golding, Salman Rushdie und J. M. Coetzee (Träger des Booker Prize) lassen sich allerdings recht zuverlässig gemeinsame qualitative Kriterien ausmachen, die die Preisträger einen. Das macht den jeweils frisch gekürten Preisträger zumindest einen Blick wert. Aber welches Gemeinsamkeit zwischen Günter Grass, Dario Fo, Elfriede Jelinek, Harold Pinter und Mario Vargas Llosa macht mir Lust auf Alexijewitsch?
Schon recht – Leser, denen es in erster Linie um die Literatur als Kunstform zu tun ist, könnten ihren Blick eben stärker auf die genannten Preise richten, und den Nobelpreis für Literatur als erweiterten „Autorenpreis für Menschenrechte“ betrachten. Doch noch gilt der Nobelpreis als der Preis für internationale Literatur schlechthin. Und wenn sich die Überzeugung durchsetzt, dass die Launen einiger älterer Damen und Herren aus Schweden das einzige sind, was hinter der Auszeichnung steht, beschädigt das neben dem Preis auch die Literatur selbst, die, um einmal pathetisch zu sprechen, immerhin ein zentraler Ort ist an dem unsere kulturellen Ideen und Werte verhandelt werden.
Ganz ähnlich nutzt sich übrigens der Friedensnobelpreis ab. Und das mit ihm verbundene humanistische Ideal.
Auch die Jubler gähnten vorgestern noch
Über die Qualität der Werke von Alexijewitsch sei damit kein schlechtes Wort verloren. Vielleicht sind Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus und Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen (das die ZEIT gestern „Zinkjuden“ nannte) literarisch-journalistische Perlen, die aus sich selbst heraus verstehen lassen, warum diese Journalistin und Churchill, nicht aber in den Dekaden dazwischen Hunter S. Thompson oder Tom Wolfe ausgezeichnet wurden. Vielleicht sind Alexijewitschs Bücher so „literarisch aufregend“, wie sie die TAZ bejubelt, in deren Online-Angebot vor der gestrigen Auszeichnung genau 10 Artikel zur Autorin erschienen sind, 7 davon im Umfeld der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, 2 weitere mit Bezug auf vergangene Nobelpreisentscheidungen und kein einziger für sich selbst stehender Text, der die literarische Bedeutung von Alexijewitsch herausstreicht. Vielleicht. Immerhin lädt uns die Akademie einmal mehr auf eine Entdeckungsreise ein.
Meinen Sonntag zag gehegten Hoffnungen zum Trotz ist jedoch zu befürchten, dass vor allem wieder ein politischer Preis verliehen wurde. Das legen die zahlreichen Presseartikel, die die Entscheidung als „Zeichen“ feiern, nahe. Doch was für ein halbherziger politischer Preis ist das? Russisches Großmachtstreben trifft auf einen barbarischen „Islamischen Staat“, der folternd und mordend sein Schreckensregime etabliert, und Assad massakriert die Zivilbevölkerung Syriens nun bereits so lange, dass man sich daran fast gewöhnt zu haben scheint. Da feuert Schweden seine Breitseite ab: Gegen Minsk!?
In Die Liebe in groben Zügen behauptet Bodo Kirchhoff, literarische Preise gingen meist an Protagonisten, auf die sich die Beteiligten einigen könnten, weil sie niemandem allzu weh täten. Bis auf weiteres wirkt es, als sei die Nobelpreisträgerin für Literatur 2015 nach genau diesem Muster auserkoren worden.
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