Abdulrazak Gurnah ist ein verdienter Nobelpreisträger.
Den kenne ja “niemand”, las man allenthalben über Abdulrazak Gurnah. Das ist Unsinn. Man kennt ihn in Westeuropa kaum, doch die Welt ist größer als Westeuropa, sagt Literaturkolumnist Sören Heim.
Ich verstehe das Dilemma des Nobelpreiskomitees für Literatur. Dieser Preis ist aufgrund seiner Dotierung und seiner gewichtigen Tradition allgemein anerkannt als der bedeutendste Literaturpreis der Welt und aller Zeiten. Entsprechend gibt es eine gewisse öffentliche Erwartung, dass damit ganz einfach der oder die beste/bedeutendste AutorIn seiner/ihrer Zeit ausgezeichnet wird. Und alle fünf bis zehn Jahre etwa passiert dann auch genau das. Dann bekommen Konsens-Figuren wie Doris Lessing, Mario Vargas Llosa oder Toni Morrison den Preis und man sieht sich bestätigt: Genauso sollte es doch eigentlich immer sein.
Wer sich wenigstens einmal kurz mit den Kriterien für den Literatur-Nobelpreis auseinandergesetzt hat, weiß sie zumindest ein bisschen mehr. Dort steht: für den Preis qualifiziere sich, wer:
das Vorzüglichste in idealistischer Richtung geschaffen hat.
Man könnte das runterbrechen und sagen: Wenn überhaupt wird der Preis dem oder der besten/bedeutendsten sozial/politisch engagierten AutorIn seiner/ihrer Zeit verliehen. Wenn jetzt zahlreiche Kommentierende auf Facebook und anderswo, und auch ein sogenannter Journalist bei Springer, ihre Herablassung kaum verhehlen können und quasi unterstellen, dieses Jahr sei ein Gesinnungspreis verliehen worden – denn das Nobelpreiskomitee begründete bekanntlich …
…für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten.
… dann spricht das nur davon, dass die Kommentierenden sich eben noch nie mit dem Preis auseinandergesetzt haben. Der war schon immer ein „Autorenpreis für Menschenrechte“. Churchill hat ihn erhalten! Und der Nobelpreis für Herta Müller wurde nach genau den gleichen Kriterien vergeben. In diesem Fall für ihren Antikommunismus. Und auch im Fall von Mario Vargas Llosa zählt leider weniger das herausragende Werk als seine „liberale“ politische Haltung, die allerdings – sorry – mit Springer-Liberalismus wenig zu tun hat.
Das Dilemma
Ich sagte, ich verstehe das Dilemma: Es gibt also diese, wenn auch eigentlich unbegründete, Erwartung: Den bedeutendsten Preis gibt es für die bedeutendste Literatur. Fertig. Wir haben eingeschränkt: Für die bedeutendste engagierte Literatur.
Aber: Das Feld ist überschaubar und tatsächlich gibt es sogar einen relativ weitreichendenden Konsens darüber, wer drankommen müsste oder eigentlich längst hätte dran gewesen sein müssen: Salman Rushdie, Thomas Pynchon, Haruki Murakami, Margaret Atwood, Anne Carson und noch ein paar mehr. Man kann sich gut vorstellen, was passieren würde, begänne das Komitee, diese Liste abzuarbeiten. Das sei langweilig, vorhersehbar, und so weiter und so fort.
So kann man es in Stockholm eigentlich kaum richtig machen. Gewinnt der Konsens, winkt die Öffentlichkeit ab. Gewinnt jemand weniger Bekanntes, folgen die bekannten Aufschreie. Ja, der Nobelpreis für Literatur ist eine relativ willkürliche Institution. Und ich möchte nicht sagen, dass es nicht verdientere und weniger verdiente PreisträgerInnen gebe. Doch das Komitee hat nicht wirklich eine Chance, es richtig zu machen. Einzige Verbesserungsmöglichkeit vielleicht = dass endlich auch jüngere Autorinnen und Autoren in den Blick genommen werden, wenn sie schon ein starkes Gesamtwerk vorgelegt haben. Das würde das Feld deutlich erweitern. Und vielleicht verhindern, dass so viele verdiente KandidatInnen tot sind, bevor das Komitee überhaupt an sie denkt.
Verdienter Preisträger
Apropos Abdulrazak Gurnah. Der ist ein verdienter Preisträger. Den kenne ja “niemand”, las man allenthalben in den Kommentarspalten der Online-Medien. So ein Unsinn. Gurnah ist einer der bedeutendsten Autoren Tansanias und im gesamten ostafrikanischen Raum bekannt. Seine Werke waren bereits lange vor der Nobelpreis-Verkündung mindestens auf Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Russisch übersetzt. Er stand auf der Shortlist des tatsächlich bedeutendsten Literaturpreises der Welt, dem Booker Prize. Ich habe für DieKolumnisten sogar schon über ihn geschrieben.
Studiert man afrikanische Literatur oder beschäftigt man sich auch nur privat mit Literatur aus afrikanischen Staaten, dürfte er zu den 10 bis 20 Autorinnen und Autoren gehören, die man zuerst kennenlernt. Das ist in der Bedeutung vergleichbar mit absoluten Stars der deutschsprachigen Literatur, und Nobelpreisträgerinnen wie Elfriede Jelinek oder Herta Müller haben deutlich weniger Übersetzungen vorzuweisen – vor dem Nobelpreis sogar fast keine. Seine Texte sind zudem an der Oberfläche einfach, aber inhaltlich stark mit überzeugenden Figuren und oft doppeltem Boden. Eigentlich genau der Realismus, den sich viele LeserInnen wünschen, wenn sie sich genervt geben von moderner und postmoderner experimenteller Literatur. Also doch: den kennt man. Den kennt man nur hier genau so wenig wie Grass oder Jelinek in Tansania.
Und nein, das heißt nicht, dass borniert ist, wer Abdulrazak Gurnah bis jetzt nicht gekannt hat. Ich habe z.b. Patrick Mondiao vor der Nobelpreis-Verkündung nicht gekannt. Ich habe Herta Müller nicht gekannt. Und ich habe Literatur studiert. Aber diese beiden AutorInnen kamen nun einmal im Studium nicht vor, und auch sonst wurden sie mir nie empfohlen. Doch ehe man sich darüber mokiert, hier sei schon wieder so ein Nischen-Autor ausgezeichnet worden oder sich am Ende noch darüber lustig macht, er wurde ja gar nicht für seine Literatur, sondern für seine Haltung ausgezeichnet, wie unter anderem jener Springer-Journalist, sollte man sich vielleicht mit dem Autor und den Kriterien des Preises einmal auseinander setzen. Gurnah ist ein durchaus schon bekannter und bedeutender Autor, dessen Werk noch weitere Verbreitung sehr zu wünschen ist.
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