Das Gesetz und die Magie
Zu Silvester bespricht Sören Heim einen weiteren lange vergessenen fantastischen Roman. Lud-in-the Mist von Hope Mirrlees blickt mit phantastischen Bildern auf das Verdrängte des bürgerlichen Alltags.
Wie es bei der Literaturrecherche so läuft: eigentlich wollte ich herausfinden, ob das einst gefeierte Jonathan Strange & Mr Norrell von Susanna Clark etwas für mich sein könnte (Tendenz: eher nicht. Zu langatmig, zu sehr auf den neuen Fantastik-Hype hin kalkuliert. Aber Besprechungen können natürlich auch irren). Beim Lesen stieß ich auf Neil Gaimans Lob des Buches: Jonathan Strange & Mr Norrell sei der beste englischsprachige Roman seit 70 Jahren. Konkretisiert von John Clute, gemeint sei wohl der beste seit Hope Mirrlees Lud-In-The-Mist. Nun ist eine Empfehlung von Gaiman, dem zwanghaften Düsterling noch nichts, was mich überzeugen würde. Aber allein diese Namen locken, machen Neugier auf mehr: Hope Mirrlees. Lud-In-The-Mist. Als verberge sich dahinter selbst schon eine fantastische Geschichte.
Der chaotische Weg zum Geheimtipp
Und tatsächlich: Mirrlees, Übersetzerin aus dem Russischen, Freundin von TS Eliot und Virginia Woolf, Autorin eines frühen modernistischen Gedichts über Paris, das The Wasteland beeinflusst haben soll, und danach über 30 Jahre als Dichterin nicht mehr in Erscheinung getreten, verfasste genau drei obskure Romane, die schon in den zwanziger und dreißiger Jahren selten gelesen wurden. 1970 bewog – aus welchen Gründen auch immer – der mit dem Herrn der Ringe begonnene Fantasy-Boom Balantine, ausgerechnet Mirrlees‘ Lud-In-The-Mist neu aufzulegen. Und zwar: als Raubdruck. Denn man wusste so wenig über die Autorin, dass nicht einmal bekannt war, ob sie oder Angehörige noch lebten (Mirrlees lebte allerdings noch, erst 1978 ist sie verschieden).
Mit dem Herrn der Ringe hat Lud-In-The-Mist aber nun wirklich nichts gemein, und wer das Werk in seinem Klassifikationsbedürfnis ausgerechnet in die High-Fantasy einordnet, gehört mit Feenfrüchten vollgestopft, bis er oder sie kotzt. Was sind Feenfrüchten? Schauen wir uns doch Lud-In-The-Mist einmal genauer an.
Eine Stadt und ihr Gesetz
Lud-In-The-Mist ist eine beschauliche spätmittelalterliche Stadt, die vor einer unbestimmten Zeitspanne so etwas wie eine „Aufklärung“ mitgemacht hat. Lud liegt am Zusammenfluss der Flüsse Dapple und Dawl, was den dort ansässigen Händlern und der Oberschicht zu einem gewissen Wohlstand verholfen hat. Im Zuge dieses Wohlstandsgewinnes wurde der Herzog Aubrey verjagt, dem bis heute zweideutige Verbindungen zum Feenreich nachgesagt werden, und die rigorose Herrschaft des Gesetzes errichtet. Doch die Bewohner von Lud sind in gewissen Bereichen seltsam verklemmt. Musik wühlt sie auf und muss aus den Sphären der besseren Gesellschaft möglichst herausgehalten werden, die Toten werden verschämt abseits der Stadt verscharrt, über Träume spricht man nicht und in die Nähe des Feenwaldes hinter den „fragwürdigen Hügeln“ wagt sich kein aufrechter Ludite. Dann scheint es, als habe der Sohn des derzeitigen Bürgermeisters Chanticleer „Feenfrucht“ gegessen, und der Bürgermeister ist außer sich. Er selbst erinnert sich dann und wann an eine Melodie, die er in der Jugend gehört hat, was ihm sehr zu schaffen macht, und diese neuerliche Begegnung mit dem Zauberhaften ist einfach zu viel für ihn. Der Sohn wird auf Raten des Arztes Endymion Leer auf eine ferne Farm verbannt, um ihm die Lust, ins Feenland zu entweichen, auszutreiben. Doch gerade als dieses Problem gelöst scheint, verschwinden die Schülerinnen einer elitären Mädchenschule auf nimmer Wiedersehen, und auch in dieser Schule wird Feenfrucht gefunden. Aus dieser Ausgangslage entfaltet Lud-In-The-Mist eine spannende Detektivgeschichte, die Sozialstruktur einer fantastischen Kleinstadt und ein parabolisch gezeichnetes Psychogramm des Bürgertums und seiner dunklen Unterströme. Später wird sich herausstellen, dass der Arzt selbst seine Finger beim Fruchtschmuggel im Spiel hatte: ausgerechnet die Farmerin, zu der der Sohn des Bürgermeisters verbannt wurde, hatte ihm einst mit einem Mord dabei geholfen, und Chanticleer selbst muss ohne die Hilfe von Feenfrucht ins Feenland gehen, um den Sohn und die Mädchen zu retten und als weitere Aufgabe das Verhältnis der beiden Sphären für immer zu verändern.
Lud-In-The-Mist ist sicher als Kritik eines phantasielosen Rationalismus gemeint und damit hier und da ein bisschen zu aufdringlich. Mehrfach wird mit der Autorität der Erzählerstimme das Gesetz als Fiktion denunziert, die nur die andere Fiktion, das Feenland, den Bürgern austreiben soll. Doch Lud-In-The-Mist ist auch einer dieser Romane, die man geradezu gezwungen ist, trotz solcher Erzähleraussagen zu lesen. Immerhin: Auch das Feenland entpuppt sich als alles andere als eine Fiktion, und das Gesetz wird im Verlauf des Romans zwar in vielen Punkten fragwürdiger, das Vertrauen der Luditen in es bleibt jedoch unerschüttert, wenn es darum geht den Mord aufzuklären, den Bürgermeister wieder ins Recht zu setzen und überhaupt die Versöhnung zwischen den Sphären zu ermöglichen.
LSD in den Hütten der Abgehängten?
Lud-In-The-Mist zeichnet eine „Dialektik der Aufklärung“, wobei die Geschichte ein Gespür dafür hat, Zwischentöne zuzulassen. Als mannigfaltige Metapher fungiert dabei das Feenland, in dem Mirrlees verschiedene folkloristische Vorstellungen zusammenfließen lässt: Das Feenland ist einmal das Irrationale, das Freie und Befreiende, der Ort wo das Gesetz nichts gilt, auch: Das Land des immerwährenden Rausches.
Dass die Früchte die den Dawl herab geschmuggelt werden, vor allem in den Quartieren der Depravierten auftauchen, der Arbeiter und der Lumpenbourgoisie, und von dort aus die bessere Gesellschaft infiltrieren, ja, eine unwiderstehliche Lockung ausüben, ist kaum Zufall. Denn das vom Gesetz, zu dem in Lud je nach gesellschaftlicher Stellung die Zugangsmöglichkeit höchst unterschiedlich ausfällt, Verdrängte, kehrt wieder im Gären der unzufriedenen Unterschicht, die (noch) nur im Rausch einen Ausweg sucht. Andererseits ist das Feenland eng mit dem Tod assoziiert. Auch das Verdrängen von dessen Regime kann das sich Klammern an die Ratio nicht leisten, und so leben die Ludites in verschämter Angst vor den „Stummen Leuten“, wie sie die Feen ebenfalls nennen. Der Genuss von Feenfrucht scheint all diese Grenzen zumindest kurzfristig einzureißen. Das Beschriebene erinnert vierzig Jahre vor der Zeit an Berichte von Experimenten mit LSD, die daraus resultierende „Sucht“ ist weniger eine nach dem Stoff selbst als nach der Grenzerfahrung, ob mit oder ohne Drogen. Wer Feenfrucht genossen hat, ist danach fast unweigerlich ein anderer Mensch: im Verhältnis zum Tod, im Verhältnis zum Rausch, im Verhältnis zu seinem sozialen Gefüge. Im Schatten praktiziert aber ist all das nicht mehr als temporäre Flucht, keine wirkliche Auseinandersetzung mit dem, was das Feenland bedeuten könnte.
Ob allerdings der Schluss von Lud-In-The-Mist viel besser ist, mag der Leser selbst entscheiden. Im Rahmen der märchenhafen Fiktion funktioniert das Ineinandergleiten der Sphären. Und natürlich wohnt der Tatsache, dass Lud-In-The-Mist als schließlich als Exporteur von Feenfrucht-Süßigkeiten quasi zum größten Drogenumschlagsplatz des Landes wird, eine herrlich absurde Note inne. Auf der oben erkundeten sozialpsychologisch-metaphorischen Ebene allerdings wirkt es schal, dass alles beim Alten bleibt. Sind die Armen, mit denen die Früchte in die Stadt kamen, nicht immer noch arm? Kann die Spannung, die aus fundamentaler sozialer Ungleichheit entsteht, wirklich durch Akzeptanz des Todes und den freien Gebrauch von Drogen aufgelöst werden? Müsste nicht die nächste Katastrophe bevorstehen, wenn wieder die gleichen Senatoren und ihre Freunde sich an der Feenfrucht dumm und dusselig verdienen, während die kurzlebigen grauen Gestalten in ihren elenden Hütten das Zeug verpacken und auf Schiffe verladen? Möchte nicht vielleicht jemand eine Fortsetzung schreiben?
Stilistisch vollendet
Was die literarische Gestaltung angeht hätte sich Hope Mirrlees vor dem Urteil ihrer Freundin Woolf nicht fürchten müssen. Man merkt ihr die Modernistin darin an, wie bruchlos die einzelnen Erzählungselemente, Coming-of-Age-Story, Märchenparabel und Detektivgeschichte sich ineinander fügen. Der Stil, der das trägt, ist bildreich und dicht, stilisiert in der Art eines Märchenerzählers und dabei doch immer zugänglich. Schon lange, ehe dem Leser die volle Bedeutung des Feenlandes aufgeht, lässt die Sprache spüren, wie sehr das Fantastische als Verdrängtes im Alltag von Lud-In-The-Mist gegenwärtig ist:
But sometimes, as he wandered in the late afternoon about the streets of the town, human beings themselves seemed to have found the secret of still life. For at that hour all living things seem to cease from functioning. The tradesmen would stand at the doors of their shops staring with vacant eyes down the street – as detached from business as the flowers in the gardens, which looked as if they too were resting after their day’s work and peeping idly out from between their green shutters.
Lud-In-The-Mist Ist ein fantastisches Meisterwerk, dessen Ebenbürtige man eher in den fantastischen Novellen Gogols zu suchen hätte als in Werken Tolkiens oder G.R.R. Martins. Ein Kleinod, dessen Autorin viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Zum Glück gibt es Lud-In-The-Mist, auch wenn die deutsche Wikipedia kein Wort davon verrät, mittlerweile ebenfalls in Übersetzung. Zu deren Güte kann ich nichts sagen, aber wer sich in seiner Freizeit ungern durch englische Texte wühlt, versucht es vielleicht einfach mal mit „Flucht ins Feenland“, erschienen bei Piper.
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