Die Kraft der Quinten – Max Doehlemanns kompakte Musiktheorie.
Komponist Max Doehlemann hat eine Musiktheorie vorgelegt, Kolumnist Sören Heim hat sie sich angesehen.
Zur Transparenz vorweg: Max Dohlemann hat bereits einige meiner Gedichte vertont, sodass ich hier theoretisch als befangen gelten könnte. Und: Ich bin weder ausgebildeter Musiker noch Komponist. Zwar habe ich mir zwecks künstlerischer Allgemeinbildung einiges rund um Musik und Musiktheorie angelesen, dennoch fehlt mir viel, gerade auf der praktischen Seite, an Gehörbildung und so weiter und so fort, um gerade die zweite Hälfte von Dohlemanns Buch „Die Kraft der Quinten“ wirklich kritisch einordnen zu können. Ich schiebe das auch vorweg, weil genau das heute und eigentlich immer im Journalismus und in der Kunstkritik unterlassen wird. Es ist verpönt, in journalistischen und/oder kritischen Texten zuzugeben, dass man sich einen Teil der Informationen zu dem Feld, über das man gerade schreibt, zusammengoogeln muss. Dabei wäre genau dieses Eingeständnis regelmäßig so bitter notwendig. Denn in den meisten dieser pseudoobjektiv formulierten Beiträge in den Leitmedien findet man schon bei etwas tieferer Kenntnis der Sachverhalte, sei es zu Astronomie, X oder sogar Sport, eklatante Fehler.
Nun denn, Max Doehlemann, Komponist zwischen neuer Musik und Jazz und Mitinitiator des Projekts Klimaglocken, hat mit „Die Kraft der Quinten“ einen schmalen Band vorgelegt, der einige Grundlagen zur Musiktheorie, die Doehlemann vor allem auf das eigene Schaffen bezieht, mit einem System der Musikanalyse und auch Schöpfung zusammenführt, das der Komponist als Quintenschwerkraftanalyse bezeichnet. Der Kerngedanke ist, sich von der klassischen Vorgehensweise der funktionalen Harmonie insoweit zu lösen, dass neben dem Dreiklang besonders die Quinte als konstituierendes Element, vor allem von westlicher, also doch auf funktionaler Harmonik basierender Musik (Dur-Moll-Tonleiter und so weiter), in den Blick genommen wird. Allerdings lässt sich auf diese Weise auch teilweise nicht funktional harmonische Musik analysieren, sei es Zwölftonmusik oder auch andere internationale Musiksysteme. Insbesondere zeigt Doehlemann, wie sich mit seiner Quintenschwerkraftanalyse innerhalb der funktionalen Harmonik schwer zu greifende und dennoch ständig in der Musiktheorie verwendete Begriffe wie „Klangfarbe“ oder „Gewicht“ einer Tonfolge bzw. eines Zusammenklangs analytisch erfassen lassen.
Hinführend zu diesem Kern des Textes beschreibt Doehlemann seinen eigenen Weg zur Musiktheorie und insbesondere seine Probleme mit den herrschenden Konflikten der 90er Jahre, als er zu komponieren begann. So habe ihn die scharfe Abgrenzung zwischen tonalen und atonalen Theorieschulen immer befremdet, ebenso der Antagonismus zwischen dem Komponieren in Skalen (also Abwandlungen dessen, was wir Tonleiter nennen) und Reihen (also vorab geordneten Organisationen einer Gruppe von Tönen). Die Grenzen zwischen Tonalität und Atonalität, stellt Doehlemann fest, seien im Gegenteil sehr fließend, und auch Skalen und Reihen lassen sich natürlich kompositorisch kombinieren. Doehlemann kommt dabei zu sehr ähnlichen Ergebnissen, wie ich sie hier schon einmal etwas ausführlicher aus eigenen Überlegungen sowie Adornos Philosophie der Neuen Musik und besonders der Art und Weise, wie diese Gedanken in Thomas Manns „Doktor Faustus“ Eingang fanden, destilliert habe. Auch die Überlegungen des Komponisten zur eigentlichen Einheit von Melodik und Harmonik ähneln übrigens sehr der faustischen Musiktheorie, die Adrian Leverkühn in Thomas Manns Roman entwickelt. Hier Dohlemann:
„Für den systemischen Ansatz des Autors ist die Grundannahme zentral, dass Melodik und Harmonik letztlich »eins« sind. Die Musikanalyse zeigt, dass Melodiesprachen einer Stilistik oder Epoche nicht zu trennen sind von der Art des jeweiligen Tonsatzes und der Harmonik. Melodik und Harmonik definieren wechselseitig ihre Regelhaftigkeit und ihre Ausdrucksmöglichkeiten – und selbst wenn sie das bewusst nicht tun, ändert das nichts an der untrennbaren Beziehung der beiden Kategorien. Wirft man den Blick auf (Kunst-)Musiktraditionen jenseits von Europa, wird man feststellen, dass Melodik auch hier im Rahmen von umfassenden gesamtmusikalischen Regelwerken stattfindet – ob sie nun durch Maqams (wie in nahöstlichen Traditionen) oder durch Ragas (in indischen Traditionen) geprägt sind.“
All diese Überlegungen in der ersten Hälfte des Buches sind hochlesenswert für jene, die sich mit Musik anders als rein vom Bauchgefühl her beschäftigen möchten und durchdringen meines Erachtens so präzise wie sonst selten gelesen die Konflikte und oft scheinbaren Antagonismen moderner Musikkritik, besonders im sogenannten E-Bereich („ernsthaft“, nicht „elektrisch“), die dazu tendiert, sehr dogmatische Regeln aufzustellen, was zeitgemäße Musik darf und nicht darf, statt sich zuerst das Material der real existierenden Musik anzuschauen und dann aus dem Werk heraus aufzuschlüsseln, warum das gelungen oder nicht gelungen ist. Mag aber sein, auch diese Phase der theoretischen Antagonismen neigt sich dem Ende zu, und wie in den anderen Künsten findet auch die Musikkritik mittlerweile zu einer ebenso problematischen, „scheißegal“-Haltung, nach der man über formale Aspekte von Kunst überhaupt nicht mehr kritisch urteilen kann. Literaturkritik und Kritik der bildenden Kunst sind dort ja bereits beinah angekommen.
Die zweite Hälfte des Buches dürfte sich dann vor allem an Komponierende wenden. Doehlemann breitet hier seine Quintenkraft-Theorie deutlicher aus. Diese beruht darauf, jeweils drei auf dem Quintenzirkel nebeneinander liegenden Tönen den Zahlenwert 1 zuzuweisen, wobei sich die Zahlenwerte bei mehr Tönen bis auf fünf addieren können. Während jeweils der Triton von einem solchen Dreiklang eine Ziffer subtrahiert, was Doehlemann mit der besonders dissonanten Kraft des Tritons erklärt. Grob gesprochen: Je höher die Zahl innerhalb eines Zusammenklangs oder einer als zusammengehörig lesbaren Tonfolge, desto „wärmer“/“schwerer“ sind diese Tonfolge bzw. der Zusammenklang. Oder ausführlicher mit den Worten des Autors:
„Man kann sich mit einem gut gestimmten Klavier davon überzeugen, dass der QSK-Wert eines TVTs intuitiv beim Hören spürbar ist, wenn man sich ein wenig eingehört und an die Systematik gewöhnt hat. Dazu nehme man gern die obige Tabelle aller TVTs zur Hand (Abbildung 17) und spiele mit den Tönen herum. Ein TVT mit höherem QSK-Wert wirkt in der Regel »wärmer«, »schwerer«, »in sich ruhender« als einer mit niedrigerem.“
Am Beispiel von Ravels „Ondine“ zeigt Dohlemann dann exemplarisch, wie man mit diesem Mittel der Analyse bestimmte Qualitäten von Musik fassen kann, die offenkundig da, die oft aber im besten Fall metaphorisch zu beschreiben sind (etwa: das klingt schwer, das klingt weich, das klingt süß, und so weiter). Wer schon einmal auf einem gewissen Niveau versucht hat, über Musik zu diskutieren, weiß, dass es hier durchaus hilfreich sein kann, ein etwas handfestes Mittel in die Hand zu bekommen, um über diese Qualitäten zu sprechen, denn über Metaphern lässt sich trefflich streiten. Doehlemann zu Ravel:
„Abbildung 18 zeigt die ersten zehn Takte von ‚Ondine‘. Das Stück beginnt mit einer leisen, pulsierenden Repetition der rechten Hand, einem Cis-Dur-Akkord mit kleiner Sexte. Dieser harmonisch statische, pulsierende Anfangsklang weist eine QSK=0 auf. In Takt 3 setzt mit der linken Hand die Melodie ein, unvermittelt mit dem Anfangston Dis. Als musikalischer Einfall ist das bezaubernd: Zu hören ist in einer Cis-basierten Tonalität plötzlich ganz unerwartet das Dis als None, gleichzeitig ergibt sich daraus aber (so lautet hier die weitergehende QSK-Interpretation) die plötzliche Erhöhung der QSK des Gesamtklangs nach QSK=1. Also ein Hauch von »Sättigung«, eine winzige Schwere und innere Befestigung dieses zarten und fluiden Kosmos.
Klanglich sehr reizvoll ist das E# im letzten Achtel der Melodie in Takt 12 (in der Abbildung 19 mit »x« hervorgehoben). Wie kommt Ravel auf diese derart inspiriert wirkende, elegante Melodieführung? Im Sinne einer simplen »Pfeif-Melodie« wäre im durchlaufenen Tetrachord ein E womöglich naheliegender gewesen. Aus der QSK-Perspektive bietet sich eine Antwort an: Ein E hätte eine plötzlich erhöhte QSK=3 mit sich gebracht, dadurch wäre das Klangkontinuum QSK=1 gestört worden. Mit dem E# bleibt Ravel beim eingeführten QSK-Wert. Der Komponist kostet damit den melodisch-harmonischen Spannungsraum der aufgespannten Skalen und der resultierenden QSK genüsslich in Gänze aus. Oder umgekehrt: Der schillernde Raum der Skala wird entlang einer inspirierten, feinen und dennoch überraschenden Melodieführung sukzessive enthüllt. Melodik und Harmonik sind eins. Man sieht an dieser Detail-Betrachtung, wie nah die QSK-Perspektive tatsächlich an einen musikalischen Gestaltungskosmos heranführen kann.“
Schon in dem kurzen Text wird deutlich, was der Autor auch mehrfach selbst erklärt: Die Kraft der Quinten soll kein Ersatz sein für alles bisher Geleistete in der Musiktheorie, keine neue seligmachende Schule, der man entweder zu folgen hat oder die man ablehnt, sondern eher eine neue zusätzliche Weise, systematisch über Musik nachzudenken, die man mit anderen Herangehensweisen verknüpfen kann, ja, vielleicht sogar muss. Wie Doehlemann ja auch hier, von mir hervorgehoben, zusätzlich auf funktionale Harmonie zurückgreift. An anderer Stelle erklärt der Autor:
“Davon unberührt ist, dass man diese Musik natürlich auch ganz anders betrachten könnte. Es wäre zum Beispiel möglich, über die Takte Akkordsymbole wie im Jazz zu schreiben – der Autor hört jedenfalls ortbare, wechselnde Zentraltöne (was Schönbergs proklamierter 12-Ton-Technik nur scheinbar widerspricht, bei anderen Komponisten wie zum Beispiel Alban Berg findet man dahingehend noch sehr viel deutlichere Beispiele). Es würde sich in jedem Fall auch lohnen, solche Musik mit einem multiperspektivischen Ansatz anzusehen – das ist etwas, das in der Musikwissenschaft viel zu wenig passiert. All dies sprengt aber in jedem Fall wieder den Umfang dieses Buches.”
Im Schlussteil zeigt Doehlemann dann schematisch, wie die Quintenkraftanalyse auch eingesetzt werden könnte, um eigene musikalische Einfälle zu strukturieren und an Kompositionen zu arbeiten. Des Weiteren gibt er einen kurzen Ausblick auf die Software Quintus, die viele Arbeitsschritte dahingehend erleichtern soll. Was dies betrifft, überschreitet es mein musikalisches Verständnis. Wie gesagt, das Selbst-Komponieren ist kein Feld, auf dem ich bewandert bin. Und was eine Musiktheorie praktisch zu leisten fähig ist, erweist sich natürlich einzig und allein in der Praxis; also müssen wir gespannt warten, ob irgendwann, irgendwo, Komponistinnen und Komponisten Doehlemanns Quintenkraftanalyse vermehrt auch für die Organisation eigener Werke aufgreifen.
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