Ein herausragender Zeitroman – Die Siliziuminsel von Chen Quifan
„Die Siliziuminsel“ von Chen Quifan ist ein streckenweise herausragender Nahzukunftsroman mit Umweltthema und einem etwas überhasteten Ende. Literaturkolumne von Sören Heim
Die Siliziuminsel von Chen Quifan ist ein herausragender Zeitroman mit einigen Schwächen in der zweiten Häfte.Dass prominent auf der Titelseite von Die Sliziuminsel ausgerechnet ein Lob des hoffnungslos überbewerteten Liu Cixin prangt, mag dem Autor ökonomische Vorteile bringen, literarisch hat das Werk den Vergleich nicht verdient. Ich habe über Die Drei Sonnen bereits geschrieben, doch tatsächlich lassen sich im Vergleich mit Die Silizium Insel die Schwächen von Die drei Sonnen noch einmal deutlich herausarbeiten und zugleich den Blick auf die Stärken des überzeugenderen Romans von Chen Quifan lenken.
OK, ihr wollt den Vergleich mit Liu doch auch…
1) Setting: Während Die drei Sonnen außer durch lange historische Exkurse nichts tut, um die Lebenswelt, in der der Roman spielt, spürbar zu machen, eröffnet Die Siliziuminsel mit dem dramatischen Versuch einer Protestaktion, die in der Katastrophe endet und führt den Leser dann aus mehreren Perspektiven über jene Insel, auf der ein amerikanischer Unternehmer eine Recycling-Fabrik errichten lassen möchte. Die Menschen dort leben quasi im Müll der Welt. Wer es sich leisten kann, versucht auch körperlich mit der Technik zu verschmelzen, verschiedene Gangs und der Zentralstaat streiten sich um die Herrschaft. All das wird sofort in Interaktionen erlebbar gemacht. Beschreibungen erzeugen Bilder, Gespräche ordnen ein, ohne gleich zu viel zu verraten.
2) Figuren: Auch die treten sofort vor Augen, indem sie handelnd und sprechend vorgestellt werden, in Konflikte gestürzt, deren Entwicklung und Auflösung man gespannt erwarten kann. Ob „Müllmädchen“ Mimi, Unternehmer Scott, sein Übersetzer Kaizong oder dessen Onkel Chen und weitere Mitglieder der Chen-Gang: Jeder fühlt sich nach wenigen Seiten an wie in einer Gesellschaft verortet, die es geben könnte. Und weil auf solche glaubhaften (was nicht das gleiche heißen muss: „naturalistischen“) Charaktere Konflikte zwangsläufig eine Wirkung haben müssen, klappt es auch besser mit der: 3) Charakterentwicklung.
4) Handlung: Man sollte es aus dem Vorangegangenen schon herausgelesen haben: Während Die drei Sonnen im Großen und Ganzen Exposition mit ein paar großen Handlungsschritten (oft dann auch noch mit Zeitsprüngen über mehrere Jahre) ist, lässt Die Siliziuminsel den Leser auf eine schon für sich spannende Welt und Umwelt sowie Ereignisse treffen und dabei die Welt quasi aus den Augen der Charaktere erfahren. Das ist ungleich fesselnder. Wenn ich trockene Abhandlungen über eine fiktive Historie lesen will, lese ich … nein, eigentlich will ich nie trockene Abhandlungen über eine fiktive Historie lesen, wozu auch?
Das Umweltthema im Cyberpunk-Gewand
Sollte Die Siliziuminsel allerdings doch der verdiente Welterfolg werden, dann wahrscheinlich weniger wegen ihrer literarischen Stärken als vielmehr aufgrund des Themas des Buches, das prinzipiell bekannte, doch im Westen meist verdrängte, Konflikte um die Müll- und besonders die Elektroschrott-Entsorgung der Industrienationen in einer nicht genau definierten nahen Zukunft zuspitzt. Doch auch wenn sich moderne Literaturrezeption meist platt auf das „Thema“ fokussiert; die Bearbeitung des Themas ist für Die Siliziuminsel entscheidend. Hier treten keine bösen Spekulanten gegen ein armes wehrloses Volk an, hier gibt es grünen Investoren, die zumindest zum Teil daran glauben, die Lebensbedingungen auf der Insel tatsächlich zu verbessern. Hier gibt es Gangster, die halb gutmütige Paten und halb brutale Nutznießer des Elends sind. Und nicht zuletzt ein gespaltenes Lumpenproletariat, das gar nicht so überzeugt davon ist, dass ökologischer Fortschritt und bessere Recyclingtechniken auch ihre Welt verbessern werden. Hat man doch gelernt, wie leicht ersetzbar ein Menschenleben ist, und wer soll vom gefährlichen Müllsortieren noch leben, wenn Maschinen einen Großteil der Arbeit übernehmen oder gar nicht erst nötig werden lassen? All das behandelt Chen Quifan in einer schmutzigen Cyberpunk-Welt, gegen die die Weltentwürfe von William Gibson relativ zahm wirken (in Gibsons Welt kann man sich immer noch gut vorstellen zu leben, alles wirkt immer irgendwie cool oder wie Heidi Klum sagen würde, „edgy“. Ein krasses toughes sich Durchwursteln, ein Abenteuer eben. Auf die Siliziuminsel wünscht man sich nicht einmal als Mitglied der Oberschicht).
So stark die Entfaltung der Welt und die Anlage der Konflikte geraten sind – wenn dann etwa in der Hälfte des Buches sich eine zentrale Handlung herausschält, in deren Mitte das Müllmädchen Mimi steht, die in wegweisender Form mit einer Maschine verschmilzt, wird dann doch einiges überhastet und zu rasch auf den großen Konflikt hin zugespitzt. Manche Technik wird zu ausführlich erklärt, um danach noch glaubwürdig zu wirken, manche Wendung wirkt dagegen zu gezwungen und „deus ex machina“. Das scheint mir übrigens bis heute ein Hauptproblem fast aller Fantasy- und Science Fiction Romane zu sein, die einerseits gern mit ernstzunehmenden Gesellschaftsromanen verglichen werden (eine Dauerdebatte – „warum wird die fantastische Literatur vom Betrieb nicht ernst genommen?) und andererseits das bei den Fans beliebte Formular vom großen Endkampf nicht aufgeben wollen. Man frage sich nur einmal, ob die Buddenbrooks auch nur ein annähernd so faszinierender Roman geworden wären, hätten alle Protagonisten etwa ab der Mitte des Buches all ihre Kräfte auf die Bekämpfung eines Angriffs von Außerirdischen, einer Naturkatastrophe, eines Wurmlochs auf dem Lübecker Markt, oder – Gott bewahre – eines Einfalls rheinischer Touristen verwenden müssen. Im großen Endkampf sterben die kleinen Konflikte, die einen Gesellschaftsroman interessant machen. Umso sicherer, je öfter wir das Szenario vom großen Endkampf vorgesetzt bekommen, der dann immer weniger wie eine spannende zwingende Entwicklung wirkt und mehr wie ein “ach ja, jetzt geht das wieder los”.
Die Crux mit den drastischen Enden
Es klingt kontraintuitiv, aber gerade fantastische Literatur im weitesten Sinne muss sich entscheiden zwischen einer Wette auf den unmittelbaren Markterfolg durch das Spektakel und der langen Dauer durch ein tieferes Engagement mit der Gesellschaft, um die es geht. Auch deshalb bleiben Autoren wie Dick, Asimow, die Strugazkis, Le Quin, Mirlees, Gorodischer und ein paar andere einzigartig: Sie haben schon lange erkannt, dass es auch in der Fantasy und Science Fiction Geschichten einfacher Menschen zu erzählen gibt. Konflikte die kleiner und größer sind als der Kampf um das Überleben der Menschheit.
Chen Quifan geht einen Mittelweg, indem er seinen Roman auf eine Art lumpenproletarischen Aufstand und Kampf um das weitere Schicksal der Siliziuminsel zuspitzt. Das ist prinzipiell interessant und unverbraucht und weist sprachlich und formal zahlreiche Spitzen auf. Aber die Balance zwischen Weltentfaltung und Endkampf hätte besser durchgeführt werden können. Dennoch: Eines der stärkeren Bücher dieses und des vergangenen Jahres und definitiv lesenswert. Gerade auch für die, die in einer verbreiteten Tendenz, 1.4 Milliarden Chinesen zwangsweise zu homogenisieren, die Autoritätshörigkeit und anti-individuelle Erzählweise bei Liu Cixin auf eine „chinesische Mentalität“ zurückführen. Die Siliziuminsel ist das krasse Gegenteil dieser Stoßrichtung. Und ebenfalls in China erfolgreich.
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