Europas Einsamkeit – wiederholt sich die Geschichte?

Vieles deutet darauf hin, dass die USA nun auf ihre Rolle als globaler Ordnungsfaktor, die sie seinerzeit als führendes Mitglied der Antihitlerkoalition übernommen hatten, verzichten. Herfried Münkler sprach vor kurzem in der „ZEIT“ vom „Abschied vom amerikanischen Zeitalter“. Bereits einmal – kurz nach dem Ersten Weltkrieg – überließen die Amerikaner die Europäer ihrem Schicksal und waren nicht bereit, die europäische Nachkriegsordnung, die nicht zuletzt auf den Ideen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson basierte, zu garantieren. Wiederholt sich die Geschichte?


Europäischer Triumphalismus

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien Europa den Gipfel seiner Machtentfaltung erreicht zu haben. Beinahe der gesamte afrikanische Kontinent befand sich damals unter der Kontrolle der europäischen Kolonialmächte. Äthiopien, das 1896 erfolgreich den italienischen Eroberungsversuch abwehrte (Schlacht bei Adua), gehörte zu den letzten unabhängigen „Inseln“ Afrikas. Auch Asien wurde durch die europäischen Großmächte weitgehend in Einflusssphären aufgeteilt, wobei das russisch-britische „Great Game“ eine wichtige Rolle spielte. Alle Versuche der asiatischen Völker, sich dem europäischen Einfluss zu entziehen, zogen Strafaktionen nach sich. Die Unterdrückung des chinesischen „Boxeraufstandes“ von 1900 stellte hier ein paradigmatisches Beispiel dar.

Lediglich die schmerzliche Niederlage des Zarenreiches im Krieg gegen das aufstrebende Japan (1904/05), kratzte etwas am Selbstbewusstsein der Europäer. Da aber Russland seit seiner Niederlage im Krimkrieg (1853-1856) als Koloss auf tönernen Füssen galt und nicht mehr zu den stärksten europäischen Mächten zählte, wurde dem russischen Debakel im Wesentlichen keine allzu große Bedeutung beigemessen. Im Allgemeinen blickten die Europäer damals voller Stolz auf ihre zivilisatorischen Leistungen zurück und waren felsenfest von der unerschütterlichen Stabilität der bestehenden Ordnung überzeugt.

„Ein Krieg ist in Europa unwahrscheinlich“

In seinem Buch „Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers“ beschrieb Stefan Zweig den damaligen Gemütszustand vieler Europäer: „An barbarische Rückfälle wie Kriege zwischen den Völkern Europas, glaubte man so wenig wie an Hexen und Gespenster; beharrlich waren unsere Väter  durchdrungen von dem Vertrauen auf die unfehlbar bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz“. Dieser Glaube spiegelt sich auch in den beinahe prophetischen „Drei Gesprächen“ des russischen Philosophen Wladimir Solowjow aus dem Jahre 1900 deutlich wider, deren  Schluss die berühmt gewordene „Kurze Erzählung vom Antichristen“ bildete. Zu den wichtigsten Protagonisten der „Drei Gespräche“ zählte ein proeuropäisch gesinnter „Politiker“, der an die segensreiche Wirkung der europäischen Kultur auf alle Völker der Welt glaubte. Die Europäisierung setzt der Solowjowsche „Politiker“ mit der Überwindung der Barbarei gleich und als eine solche bezeichnet er den Krieg. Er ist davon überzeugt, dass die europäischen Völker bereits eine solche zivilisatorische Reife erreicht haben, dass die Regelung ihrer Konflikte durch Kriege für sie nicht mehr in Frage kommt:

Ein Krieg ist in Europa unwahrscheinlich, weil es so viele Möglichkeiten gibt, Konflikte friedlich zu lösen … Die geschichtliche Periode der Kriege ist nun vorbei .. Ich bin davon überzeugt, dass weder wir noch unsere Kinder große Kriege erleben werden. Und unsere Enkel werden sogar über die kleinen Kriege irgendwo in Asien oder in Afrika nur aus den Geschichtsromanen erfahren.

Der europäische Gedanke der friedlichen Lösung von Konflikten werde demnächst die ganze Welt erobern, setzt der Politiker seine Ausführungen fort: „Überall kündigt sich jetzt die Epoche des Friedens und der friedlichen Verbreitung der europäischen Kultur an. Alle sollten jetzt Europäer werden “.

Wenn man bedenkt, dass die von Solowjow erdachte Figur des „russischen Europäers“ diese Prognose im Jahre 1900 aufstellte, also am Vorabend der wohl zerstörerischsten Kriege der Neueren Geschichte, klingt sie besonders bizarr.

Solowjow selbst war dieser Triumphalismus fremd. Nicht umsonst gehört das letzte Wort in seinem Buch dem geheimnisvollen Herrn „Z“, dem Solowjow seine apokalyptische Vision über das künftige Erscheinen des Antichristen in den Mund legt.

Demokratischer Triumphalismus von 1919

Der Erste Weltkrieg – die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ – schien den westlichen Triumphalismus endgültig untergraben zu haben, dennoch kehrte der Gedanke vom immerwährenden zivilisatorischen Fortschritt kurz nach der Beendigung des Krieges auf die geschichtliche Bühne zurück. Voller Hoffnung blickte man auf den damals entstandenen Völkerbund, dessen zentrale Aufgabe darin bestand, eine Wiederholung solcher Katastrophen wie die von 1914-18 zu verhindern. Der Eintritt in eine neue Ära der friedlichen Regelungen von internationalen Konflikten schien damals nicht zuletzt deshalb möglich zu sein, weil es sich bei den Gründern des Völkerbundes in ihrer Mehrheit um demokratische Staaten handelte. Man ging davon aus, dass die Demokratien friedliebender als autoritäre Regime seien, denn die letzteren neigten dazu, ihre unterdrückten Untertanen durch abenteuerliche Außenpolitik von den innenpolitischen Konflikten abzulenken. Die Tatsache, dass es sich bei den Verlierern des Ersten Weltkrieges um autoritär regierte Staaten und bei den Siegermächten in der Regel um parlamentarische Demokratien handelte, trug stark zu einem europaweiten Siegeszug des demokratischen Gedankens bei. Sowohl in den besiegten Staaten als auch in den Nachfolgestaaten der zusammengebrochenen multinationalen Imperien Mittel- und Osteuropas wurden in der Regel demokratische Systeme errichtet. Der demokratische Triumphalismus von 1919 erinnerte an denjenigen von 1989, als Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“, d.h. vom endgültigen Sieg der Demokratien über ihre Widersacher sprach. Dies war die Atmosphäre, in der der Völkerbund entstand.

Die Brüchigkeit der Nachkriegsordnung

Dennoch drohten der 1919/1920 entstandenen Nachkriegsordnung von Anfang an unabsehbare Gefahren. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Russland und Deutschland – die potentiell stärksten Mächte des europäischen Kontinents – sich nicht an der Gestaltung dieser Ordnung beteiligen durften und deren unversöhnliche Gegner wurden. Sowjetrussland wurde nach Versailles nicht einmal eingeladen. Die deutsche Delegation luden die Siegermächte nach Versailles nur dazu ein, um ihr die bereits beschlossenen Friedenbedingungen mitzuteilen.

Hätte Deutschland den Ersten Weltkrieg gewonnen, so hätte sein Siegfriede sicher einen ähnlichen Charakter gehabt wie der Versailler Vertrag. Der Friede von Brest-Litowsk, der den Krieg an der Ostfront beendete, war ein Beispiel für einen solchen Frieden. Ähnliche Annexionspläne hatten führende deutsche Politiker und Generäle auch in Bezug auf den Westen gehabt, was sich in zahlreichen Denkschriften widerspiegelte, die während des Ersten Weltkrieges verfasst worden sind. Da Deutschland aber den Krieg verloren hatte wurden diese Pläne gegenstandslos. Die Abschüttelung der Restriktionen des Versailler Vertrages erhielt nun für die deutsche Außenpolitik absolute Priorität. Alle Mittel heiligten diesen Zweck, auch ein Bündnis mit dem sowjetischen Regime, das die bisherige Weltordnung in einer beispiellosen Weise herausforderte.

Einen zusätzlichen empfindlichen Schlag erhielt die Nachkriegsordnung dadurch, dass der amerikanische Präsident Woodrow Wilson –   ihr eigentlicher Urheber – die politische Elite seines Landes nicht überzeugen konnte, diese Ordnung zu garantieren. Der amerikanische Senat weigerte sich, den Versailler Vertrag zu ratifizieren. Die Verfechter des amerikanischen Isolationismus setzten sich durch, die USA (damals bereits die mächtigste Demokratie der Welt) überließen Europa seinem Schicksal.

Die immer schärfer werdende europäische Nachkriegskrise, die 1923, während der französisch-belgischen Ruhrbesetzung ihren Höhepunkt erreichte, war nicht zuletzt durch dieses Desinteresse der USA an den europäischen Angelegenheiten mitbedingt. Die „erste deutsche Demokratie“ (Weimar) stand damals, unter anderem wegen der beispiellosen Inflation, am Rande eines Zusammenbruchs. Der Chronist des Weimarer Staates Arthur Rosenberg sagt, dass Ende 1923 hätte ein kritischer Beobachter keine fünf Mark für das weitere Bestehen der Weimarer Republik gegeben. Als der Frühling gekommen sei, sei der militärische Ausnahmezustand klanglos aufgehoben worden, die Währung sei stabil geblieben, und ohne viel Aufsehen und Kämpfe sei plötzlich die Demokratie wieder akzeptiert worden. Dieses Wunder sei durch die New Yorker Börse erreicht worden.

In der Tat wandten sich die USA 1924 wieder Europa zu. Das wirtschaftliche und politische Chaos in den europäischen Staaten, die zu ihren wichtigsten Handelspartnern gehörten, konnten die USA trotz ihrer isolationistischen Neigungen nicht gleichgültig lassen. Auch war in diesem Zusammenhang wichtig, dass Frankreich und Großbritannien ihre beträchtlichen Kriegsanleihen an die USA nicht zurückzahlen konnten, da sie auf die Reparationen aus Deutschland warteten. All diese Faktoren führten zu einer amerikanischen Intervention, die eine großzügige Kreditpolitik (Dawes-Plan) zum Inhalt hatte. Sie trug innerhalb kürzester Zeit zur wirtschaftlichen Stabilisierung Deutschlands und des europäischen Kontinents bei. Es begannen in Europa die „goldenen zwanziger Jahre“. Der allgemeine Wunsch nach der Beseitigung der Folgen des Krieges setzte sich auf dem Kontinent immer stärker durch, was letztendlich zu einer deutsch-westlichen Aussöhnung führte. Symbolisiert wurde sie auf der deutschen Seite durch Gustav Stresemann, auf der französischen durch Aristide Briand.

„Europe in Decay“?

Im Oktober 1929 gingen aber die „goldenen zwanziger Jahre“ jäh zu Ende. Und dieses Ende wurde bekanntlich, ähnlich wie ihr Beginn, durch die Entwicklungen an der New Yorker Börse entschieden. Der Börsenkrach vom Oktober 1929 läutete den Beginn der Weltwirtschaftskrise ein, was zu einer erneuten Abwendung der Amerikaner von Europa führte. Nun blieben die Europäer, ähnlich wie 1920, als die USA sich weigerten, dem Völkerbund beizutreten und den Versailler Vertrag zu unterzeichnen, wieder unter sich.

Während der Weltwirtschaftskrise ging der Glaube an die Selbstregulierungsfähigkeit des liberalen Systems verloren. Das freie Spiel der Kräfte und das Prinzip der Konkurrenz waren nicht imstande, ein wirtschaftliches Debakel zu verhindern. Parallel zur Wirtschaftskrise fand in Europa auch eine beispiellose Erosion der demokratischen Werte statt. Besonders sensibel reagierten auf diese Entwicklung die demokratisch gesinnten russischen Emigranten, die bereits 1917 in ihrem Heimatland erlebt hatten, welche Folgen eine Zerrüttung der demokratischen Institutionen haben konnte. Die Tatsache, dass die nach dem Sturz des Zaren entstandene „erste“ russische Demokratie der bolschewistischen Herausforderung nicht Herr werden konnte, führten viele westliche Beobachter auf die demokratische Unreife der russischen Gesellschaft zurück. Manche russische Exildenker waren nun ihrerseits über die Unfähigkeit der mittel- und westeuropäischen Demokratien erstaunt, die Angriffe ihrer totalitären Gegner abzuwehren; dies ungeachtet der Jahrhunderte alten rechtsstaatlichen Tradition, die dieser Teil Europas im Gegensatz zu Russland besaß.

Der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow führte 1934 die damalige europäische Krise nicht zuletzt darauf zurück, dass die demokratische Idee, für die  in früheren Epochen, so viele auf die Barrikaden gingen, nun kaum jemanden begeistere:

Es fehlen die Ideen, es fehlt der Wille. Dies ist die Formel, mit der man die Krise der Demokratie beschreiben kann. Diese Krise offenbart nicht nur die Defizite von Institutionen, sondern etwas viel Schlimmeres: das Verwelken der demokratischen Kultur.

Ein besonders spektakuläres Indiz für die damalige Identitätskrise der westlichen Demokratien stellte ihre mangelnde Bereitschaft dar, die rechtsextremen Diktaturen in ihre Schranken zu weisen, was den letzteren erlaubte, einen aggressiven Akt nach dem anderen zu begehen. Die Willenslähmung der westlichen Demokratien stachelte Hitler nur dazu an, seine Eroberungspläne immer maßloser zu gestalten. Am 5. November 1937 kündigte er seinen „unabänderlichen Entschluss“ an, „die deutsche Raumfrage spätestens 1943/45 zu lösen“. „Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur noch den Weg der Gewalt geben“, fügte Hitler hinzu (Hoßbach-Protokoll).

Der Zustand, in dem sich Europa in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre infolge der Appeasementpolitik der Westmächte befand, beschrieb der britische Historiker Lewis B. Namier mit den Worten „Europe in Decay“.

So stand die europäische Nachkriegsordnung zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung am Rande ihres gänzlichen Scheiterns. Nur die Auflösung der im August 1939 entstandenen totalitären Allianz (Hitler-Stalin-Pakt) hätte die äußerst prekäre Situation des Westens lindern können. Die Bezwingung Hitlers ohne Stalin war nicht mehr möglich. Das damalige Dilemma der Demokratien wurde vom amerikanischen Diplomaten und Historiker George F. Kennan folgendermaßen charakterisiert: Der Westen habe sich so geschwächt, dass er nicht mehr in der Lage gewesen sei, einen der beiden totalitären Gegner ohne die Hilfe des anderen zu bezwingen. Ein moralisch einwandfreier Sieg sei für den Westen nicht mehr möglich gewesen.

Die Rückkehr nach Europa – zum Paradigmenwechsel der amerikanischen Politik nach 1945

Nach der Bezwingung des Dritten Reiches durch die Antihitlerkoalition bestand in den USA durchaus die Tendenz, sich aus den europäischen Entwicklungen, ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg, zurückzuziehen. Winston Churchill hielt 1946 seine temperamentvolle Rede über den „Eisernen Vorhang“ nicht zufällig in den USA (Fulton). Er unterstützte damit die Bemühungen der US-Administration, die amerikanische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass es noch zu früh sei, die amerikanischen Soldaten nach Hause zu schicken. Die Westmächte waren der Sowjetunion militärisch durchaus gewachsen. Dies allerdings nur unter einer Voraussetzung, und diese hieß – die militärische Präsenz der USA in Europa. Die im März 1947 verkündete Truman-Doktrin, die den vom Totalitarismus bedrohten Staaten amerikanische Hilfe versprach, besiegelte die Präsenz der USA auf europäischem Kontinent. So unterschied sich die europäische Ordnung, die nach 1945 entstand grundlegend von der brüchigen und instabilen Ordnung der Zwischenkriegszeit. Dies nicht zuletzt deshalb , weil ihr das gesamte machtpolitische und wirtschaftliche Potential der USA zur Verfügung stand.  Die europäischen Integrationsprozesse im frei gebliebenen westlichen Teil des Kontinents, die die politische Kultur Europas grundlegend veränderten,  konnten sich nicht zuletzt deshalb recht ungehindert entwickeln, weil sie sich im Schatten der amerikanischen Schutzmacht vollzogen. Die nach der Auflösung der Sowjetunion zugänglich gewordenen Dokumente weisen unmissverständlich darauf hin, dass Stalin von einer Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs bis zum Atlantik träumte. Die amerikanische Präsenz in Europa stellte indes das größte Hindernis für die Verwirklichung dieser Träume dar. Die Gefahr, die von dem bis an die Zähne bewaffneten Warschauer Pakt ausging, wirkte mobilisierend auf die offenen Gesellschaften des Westens, stärkte ihre Identität. Aber auch in der „vergessenen“ östlichen Hälfte des „alten Kontinents“ wurde der Wunsch nach einer „Rückkehr nach Europa“ immer stärker. Die sowjetischen Panzer bzw. die Panzer des Warschauer Paktes standen indes der Verwirklichung dieses Wunsches im Wege, bis es zum „politischen Wunder“ der „friedlichen Revolutionen“ des Jahres 1989 kam. Diese Revolutionen, die zur Auflösung des Ostblocks und zur Überwindung der europäischen Spaltung führten, ereigneten sich nicht in erster Linie unter dem Druck von unten, sondern waren eher die Folge eines neuen außenpolitischen Konzepts der sowjetischen Führung unter Michal Gorbatschow, die das Festhalten an der Breschnew-Doktrin, die eine beschränkte Souveränität der Ostblocksaaten postulierte, nicht mehr für opportun hielt: „Mit sowjetischen Panzern zum Erhalt der politischen Macht (in den Vasallenstaaten Moskaus – L.L.) war nicht mehr zu rechnen“, schreibt Gorbatschow in seinen Erinnerungen.

Transatlantische Beziehungen nach 1989

Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ schien der amerikanische Schutzschild nicht mehr erforderlich zu sein, um europäische Sicherheitsstrukturen zu stabilisieren. Die zum neuen Selbstbewusstsein gelangten Europäer begannen sich in einem immer stärkeren Ausmaß vor allem mit sich selbst zu beschäftigen – so mit der Vertiefung der europäischen Integration – bis der 1991 ausgebrochene Krieg in Jugoslawien zeigte, wie stark die Sicherheitsstruktur des Kontinents von der Aufrechterhaltung der transatlantischen Bindungen abhing. Zunächst war in den europäischen Hauptstädten durchaus die Tendenz vorhanden, den jugoslawischen Konflikt als eine ausschließlich innereuropäische Angelegenheit zu betrachten. Dieser Plan scheiterte jedoch. Der jugoslawische Bürgerkrieg, vor allem in Bosnien, eskalierte unentwegt. So begann man in Europa hoffnungsvoll in Richtung Washington zu blicken und ein amerikanisches Eingreifen in Jugoslawien herbeizusehnen. Dieses Eingreifen trug dann in der Tat dazu bei, dass der Bosnien-Krieg mit dem Friedensvertrag von Dayton im Dezember 1995 sein Ende fand.

Russlands Auseinandersetzung mit dem totalitären Erbe und der neue Ost-West-Konflikt

Nicht nur in Jugoslawien, sondern auch im Osten des Kontinents wurde die EU jedoch kurz nach der Überwindung der europäischen Spaltung mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Die russischen Reformer, die das „Wunder“ der friedlichen Revolutionen von 1989 und die Überwindungen der europäischen Spaltung im Wesentlichen ermöglicht hatten, begannen im Verlaufe der 1990er Jahre die Initiative im innerrussischen Diskurs zu verlieren.

Der Ausbruch Russlands aus einer totalitären Sackgasse, in die die Bolschewiki das Land 1917 hineingeführt hatten, erwies sich als äußerst schwieriges Unterfangen. Wie die historische Erfahrung zeigt, ist die Überwindung vom totalitären Erbe ohne massive Unterstützung von außen schwer durchführbar. Dass der westliche Teil Deutschlands nach dem Zivilisationsbruch von 1933-1945 relativ schnell stabile demokratische Strukturen aufbauen konnte, war mit dem Marshall-Plan und mit dem sonstigen Beistand der freien Welt eng verknüpft. Der recht erfolgreiche Übergang Polens oder Tschechiens nach den friedlichen Revolutionen von 1989 von einer „geschlossenen“ zu einer „offenen“ Gesellschaft wäre ohne die massive Unterstützung der EU kaum denkbar. Den russischen Demokraten, die nach dem Scheitern des kommunistischen Putschversuchs vom August 1991 die Macht übernommen hatten, stand nichts Vergleichbares zur Verfügung. Sie mussten den Übergang des Landes von einer Gesinnungsdiktatur zu einem pluralistischen Gemeinwesen, von einer dirigistischen Planwirtschaft zu einem freieren Wirtschaftssystem, von einem Imperium zu einem Nationalstaat im Wesentlichen aus eigener Kraft vollbringen. Dazu kamen noch zahlreiche Fehler und Fehleinschätzungen der Sieger vom August 1991 beim Aufbau eines neuen wirtschaftlichen und politischen Systems. All das führte innerhalb kurzer Zeit zur Diskreditierung der demokratischen Ideen in den Augen der Bevölkerungsmehrheit.

Prowestlich orientierte Gruppierungen im postsowjetischen Russland, die in der politischen Klasse des Landes zu Beginn der 1990er Jahre noch dominierten, strebten damals eine engere Anbindung Russlands an den Westen an. Der russische Außenminister Andrej Kosyrew appellierte an die westlichen Politiker, die krisengeschüttelte russische Demokratie stärker zu unterstützen; „Der Sieg der Demokratie in Russland wird stabilisierend auf den gesamten eurasischen Raum wirken“, hob er hervor.

Im Mai 1992 schlug Boris Jelzin den USA eine Allianz zwischen den beiden Ländern vor. Der damalige amerikanische Präsident, George Bush sen. hielt indes diese „nicht für erforderlich, da der Kalte Krieg beendet sei“.

So wurde Russlands letztendlich nur partiell in die sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Strukturen des Westens integriert. All das führte letztendlich dazu, dass die im August 1991 entstandene „zweite“ russische Demokratie im Jahre 2000 durch die „gelenkte Demokratie“ Wladimir Putins abgelöst wurde. Beide Teile Europas, die infolge der „friedlichen Revolutionen“ ihre jahrzehntelange Spaltung überwunden hatten, fingen an sich erneut voneinander zu entfernen. Dies insbesondere nach den 2003 einsetzenden „farbigen“ Revolutionen im postsowjetischem Raum, die man in Moskau als von außen gesteuerte Versuche bewertete, Russlands Einfluss im sogenannten „nahen Ausland“ zu unterminieren.

Wiederholt sich die Geschichte?

Parallel zur Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes erlebten aber auch die transatlantischen Beziehungen eine Zerreißprobe nach der anderen, dies vor allem seit dem Irak-Krieg von 2003. Dieser Prozess erreichte mit dem Machtantritt des egozentrischen  Donald Trump zwar seinen Höhepunkt, er hatte sich aber lange vorher angebahnt, nicht zuletzt deshalb sprach vor kurzem Norbert Frei in der SZ vom „(schleichenden) Zerfallsprozess des Westens“. Wiederholt sich also auf dem „alten Kontinent“ die Konstellation der Zwischenkriegszeit? Diese immer häufiger vertretene These teile ich nicht.

Die größte Gefahr für die europäische Ordnung der Zwischenkriegszeit hatten die auf eine uferlose Expansion fixierten rechtsextremen Diktaturen dargestellt, die diese Ordnung letztendlich auch zerstörten. Die heutigen Bedrohungen, mit denen die europäischen Demokratien konfrontiert werden, lassen sich mit den damaligen kaum vergleichen. Auch nicht mit den populistischen Strömungen, die zurzeit in vielen EU-Staaten den europäischen Gedanken massiv in Frage stellen. So ist den heutigen Populisten das Streben der Rechtsextremisten der 1930er Jahre nach einer uferlosen Expansion und nach der Erschaffung einer neuen, nie dagewesenen europäischen Ordnung weitgehend fremd. Denn ihr Weltbild ist nicht expansiv, sondern ängstlich defensiv. Das, wonach sie streben, ist eine „Festung Europa“.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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