Das übersprungene Jahrhundert – Anmerkungen zu verfrühten Prognosen

In dieser Kolumne möchte ich mich mit einigen bekannten und weniger bekannten politischen Prognosen befassen, die eine Gemeinsamkeit verband: Sie waren verfrüht und haben praktisch ein Jahrhundert übersprungen. Von Leonid Luks.


Gehört China die Zukunft?

Seit dem Wiedereinzug Donald Trumps ins Weiße Haus ist die These vom unmittelbar bevorstehenden „Untergang des Abendlandes“ in den Medien sehr en vogue. Kurz nach dem skandalumwitterten Treffen zwischen Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus sagte z. B. Joschka Fischer in einem ZEIT-Interview vom 6. März: „Der Westen ist beendet, und zwar von innen heraus, nicht durch eine auswärtige Macht“.

Diese Demontage bzw. Selbstdemontage des Westens könnte dem Osten eine einmalige Chance bieten, die bestehenden Machtverhältnisse grundlegend zu verändern, so einige Autoren. Und wenn sie vom Osten sprechen, dann meinen sie keineswegs Russland, das sich seit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine in einen Juniorpartner Pekings verwandelte, sondern die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt: China und Indien. In einem NZZ-Interview vom 17. April 2025 sagte der renommierte Politikwissenschaftler und Diplomat aus Singapur,  Kishore Mahbubani, Folgendes:

Bis 2050 könnten China und Indien…die Nummer eins und zwei der Weltwirtschaft sein…Diese tektonischen Verschiebungen sind wie eine herannahende Welle: unaufhaltsam.

Diese Voraussage erinnert an die Prognosen, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgestellt worden waren, und zwar nach dem für die Weltöffentlichkeit völlig unerwarteten Sieg Japans über das Zarenreich im Krieg von 1904/05. Schon damals wurde die These vom baldigen Niedergang der europäischen Großmächte und einem unaufhaltsamen Aufstieg Asiens, nicht zuletzt Chinas, immer wieder geäußert. Stellvertretend für viele solcher Prognosen möchte ich eine Voraussage des russisch-deutschen Sozialdemokraten Alexander Helphand (Parvus) aus dem Jahr 1911 zitieren:

Wie das 19. Jahrhundert im Zeichen der Besiedlung der großen Ländergebiete Amerikas stand, so steht das 20. Jahrhundert im Zeichen der Industrialisierung des völkerreichen Asiens.  … China baut Eisenbahnen, China drillt Armeen nach europäischem Muster, und von den Küstenstädten aus, die das europäische Kapital industrialisiert hat, dringt die kapitalistische Industrie … in das Innere des Reiches … Wir stehen vor einer Revolution des Welthandels, aus der ein neues Weltsystem der Handelsstaaten sich herausbilden wird.

Parvus´ Voraussage in Bezug auf China hat allerdings ein Jahrhundert übersprungen. Nicht am Beginn, sondern bekanntlich am Ende des 20. Jahrhunderts sollte China einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg erleben.  So war z. B. das Bruttoinlandsprodukt der EU im Jahre 1980 zehn Mal so groß wie das Chinas, hebt der bereits erwähnte Kishore Mahbubani hervor. Vierzig Jahre später glich indes das BIP Chinas bereits demjenigen der gesamten EU. Im Jahr 2050, fügt Mahbubani hinzu, werde Chinas BIP doppelt so groß sein wie das der Europäischen Union.

Diese These von dem unausweichlichen Abstieg des Westens und dem unaufhaltsamen Aufstieg des Ostens scheint auf den ersten Blick sehr überzeugend zu sein. Dennoch lässt sie viele Ungewissheiten außer Acht. Z. B. die Frage nach der Stabilität des hybriden chinesischen Systems, in dem ein Versuch unternommen wird, den ideologisch geprägten Überwachungsstaat mit  der kapitalistischen Moderne in Einklang zu bringen. Ob diese Synthese auf Dauer gelingen kann, ist fraglich. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass auch China seine Perestrojka erleben wird, mit den für die sowjetische Perestrojka charakteristischen Turbulenzen. Welche Folgen dies für den Wettbewerb der Systeme und für das Kräfteverhältnis zwischen Ost und West haben wird, ist noch offen.

Der „akademische Pugatschow“

So wie Parvus mit seiner Prognose über die Zukunft Chinas ein Jahrhundert übersprungen hat, hatte dies einer der schärfsten Kritiker der Französischen Revolution, Joseph Marie de Maistre, in Bezug auf den Sieg der künftigen russischen Revolution getan. Im Jahr 1811 schrieb de Maistre:

Auf das russische Temperament wird die Freiheit wirken wie feuriger Wein auf jemanden, der nicht an ihn gewöhnt ist. Allein das Schauspiel dieser Freiheit  wird auch diejenigen berauschen, die noch gar nicht an ihr teilhaben. Wenn in dieser geistig-seelischen Lage irgendein akademischer Pugatschow auftaucht (Jemeljan Pugatschow war der Anführer des wohl größten russischen Bauernaufstandes von 1733–1775) … dann wird der Staat aller Wahrscheinlichkeit nach in die Brüche gehen.

Und in der Tat: Es sollte der akademische Pugatschow (Lenin) in Russland auftauchen und der Staat sollte in der Tat vorübergehend in die Brüche gehen, allerdings erst 106 Jahre nach der von de Maistre getroffenen Prognose.

In der Zwischenzeit galt das Zarenreich, zumindest bis zur Revolution von 1848, als der gefährlichste Gegner der europäischen Revolution, als die wichtigste Stütze der alten europäischen Ordnung, deren Verteidigung das vorrangigste Ziel der im September 1815 gegründeten Heiligen Allianz war. Nach dem Ausbruch der Pariser Februarrevolution von 1848 schrieb der konservativ gesinnte russische Dichter Fjodor Tjutschew:

In Europa (gibt es seit langem) im Grunde nur zwei Mächte: die Revolution und Russland…Zwischen ihnen gibt es weder Vertrag noch Vermittlung. Das Leben der einen ist der Tod des anderen. Vom Ausgang des Kampfes, der zwischen ihnen (begonnen) hat und der der größte ist, den die Welt erlebt hat, hängt für Jahrhunderte die politische und die religiöse Zukunft der Menschheit ab.

Anders als de Maistre erwies sich Tjutschew bekanntlich als falscher Prophet. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 verlagerte sich das revolutionäre Zentrum des Kontinents ausgerechnet nach Osten, ins Zarenreich. Gerade in der Zeit, in der Tjutschew von einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Russland und der Revolution sprach, begann sich in Russland eine neue geistig-politische Formation herauszubilden: die revolutionäre Intelligenzija. Die Tatsache, dass der Begriff „Intelligenzija“ in westliche Sprachen im Grunde nicht übersetzbar ist und dort lediglich als Terminus technicus verwendet wird, zeigt, dass es sich bei der Intelligenzija um ein typisch russisches Phänomen handelt, das in anderen Ländern nur selten eine Entsprechung besaß.  Die Unbedingtheit und die Absolutheit, die den revolutionären Glauben der Intelligenzija auszeichneten, seien im Westen praktisch unbekannt gewesen, so der Kölner Historiker Theodor Schieder. Was in diesem Zusammenhang verwundert, ist die Tatsache, dass die Intelligenzija sich ausgerechnet in der Herrschaftsperiode des liberalen Zaren Alexander II. (1855–1881) radikalisierte. Alexander II., der als „Zar-Befreier“ in die russische Geschichte einging, hatte kurz nach seiner Thronbesteigung im Jahre 1855 ein gewaltiges Reformwerk in die Wege geleitet. 1861 wurden die Leibeigenschaft abgeschafft und die Zensur erheblich gelockert, die Justizreform von 1864 schuf unabhängige Gerichte und verankerte damit die ersten Ansätze einer Gewaltenteilung im Lande. Für die revolutionäre Intelligenzija hatten all diese Entwicklungen indes so gut wie keine Relevanz. Im Gegenteil, je liberaler die Monarchie wurde, desto radikaler wurde sie von der Intelligenzija bekämpft. Sie war nicht an der Reform des bestehenden Systems interessiert, sondern an seiner gänzlichen Zerstörung, um auf seinen Trümmern ein soziales Paradies auf Erden aufzubauen. Statt auf eine Überwindung der inneren Spaltung steuerte Russland ausgerechnet in der Epoche der Reformen auf eine totale Konfrontation zu, deren Höhepunkt die Ermordung des Zaren Alexander II. durch die Terrororganisation „Narodnaja Wolja“ (Volkswille bzw. Volksfreiheit) am 1. März 1881 darstellte.

Obwohl die Intelligenzija das Zarenregime leidenschaftlich bekämpfte, schien es ihr zugleich derart allmächtig, dass sie mit seiner baldigen Zerstörung und mit einer eventuellen Machtübernahme kaum rechnete. Das Problem der Herrschaftstechnik wurde von ihr weitgehend vernachlässigt, und sie identifizierte sich in erster Linie mit ihrer Opferrolle. Nur mit der von Lenin im Jahre 1903 gegründeten „Partei neuen Typs“ – mit den Bolschewiki – verhielt es sich anders. Es gelang den Bolschewiki nämlich, einen radikalen Utopismus mit  einem ausgesprochenen Sinn für Machtpolitik zu verbinden. Diese Synthese erlaubte es Lenin und seinen Gesinnungsgenossen, nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 alle ihre innenpolitischen Kontrahenten zu bezwingen und im Oktober 1917 in Russland das erste totalitäre Regime der Moderne zu errichten. Die von de Maistre im Jahre 1811 aufgestellte Prognose hat sich im Wesentlichen bestätigt.

Dekadenzängste

Abschließend möchte ich mich noch mit einer anderen verfrühten Prognose befassen, die praktisch ein Jahrhundert übersprungen hat. Nämlich mit der These von einem unaufhaltsamen Aufstieg Russlands und vom Abstieg des dekadenten Westens, der nicht die Kraft zur Erneuerung habe. Solche Untergangsvisionen waren im Westen um die Mitte des 19. Jahrhunderts sehr verbreitet. Viele Autoren waren damals davon überzeugt, dass die Zukunft dem von der Dekadenz unberührten Russland gehöre. Visionen über den Untergang des Abendlandes waren allgegenwärtig. Stellvertretend für viele solcher Prognosen möchte ich die Aussage des deutsch-österreichischen Orientalisten Jakob Philipp Fallmerayer zitieren, der 1850 (in Anlehnung an den regimekritischen russischen Publizisten und Schriftsteller Alexander Herzen) Folgendes schrieb:

Der Okzident kann das soziale Problem nicht lösen, er ist am äußersten Endpunkt seiner geistlichen und weltlichen Hilfsmittel angekommen … Ausgemacht und sicher ist nur, dass jetzt im Gegensatze zum westlichen, von langem Leben abgezehrten und welkenden Europa ein Volk erscheint, … welches unter der harten äußeren Rinde des Zarismus… herangewachsen ist, ein Volk, … das blind glaubte, sich passiv dem fremden Willen unterwarf.

Der 1853 ausgebrochene Krimkrieg zeigte, wie unbegründet diese Untergangsvisionen waren. Zwischen den napoleonischen Kriegen und dem Zweiten Weltkrieg ist kein Krieg um die Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichts ähnlich glimpflich verlaufen. Den Gegnern der Hegemonialmacht gelang es, ohne die totale Mobilisierung ihres Machtpotentials, nur mit einem Bruchteil ihrer Kräfte, diese Macht zu bezwingen.

Unmittelbar nach dem Fall der Hafenstadt Sewastopol im September 1855, der die russische Niederlage im Krimkrieg besiegelte, sagte Alexis de Tocqueville, dieser Rückschlag sei für Russland ohne Bedeutung. Sein Aufstieg werde unaufhaltsam weitergehen. Als Beweis führte Tocqueville die gewaltige russische Expansion im Fernen Osten an, die trotz der Niederlage im Krimkrieg fortgesetzt wurde.  Mit Tocqueville stimmen auch viele spätere Historiker überein. So meinen z.B. Dieter Groh, Geoffrey Barraclough oder Norman Rich, die russische Niederlage im Krimkrieg habe Russlands Stärke nur verborgen. Russlands Macht habe dabei keine empfindlichen Einbußen erlitten.

Dennoch erlebte Russland nach dem Krimkrieg, im Gegensatz zu den hier geäußerten Meinungen, nicht nur einen scheinbaren, sondern einen wirklichen Machtverfall. Die Ausdehnung nach Zentralasien und in den Fernen Osten stärkte das Zarenreich gegenüber dem Westen kaum, weil zur gleichen Zeit auch der Westen eine Periode gewaltiger kolonialer Ausdehnung erlebte. Der machtpolitische Verfall des Zarenreiches war in erster Linie durch die innenpolitische Zerrissenheit des Landes und die immer größere Isolierung des zarischen Regimes innerhalb der Gesellschaft bedingt. In der Niederlage Russlands im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 spiegelte sich dieser fortwährende Machtverfall der Zarenmonarchie besonders deutlich wider.

Und auch nach der bolschewistischen Umwälzung konnte Russland zunächst seine frühere Großmachtposition nicht wieder erreichen. Es musste sich mit dem Wegfall zahlreicher Territorien des ehemaligen Zarenreiches abfinden und wurde 1920 von dem soeben wiederentstandenen polnischen Staat empfindlich geschlagen. Dazu kamen noch die beispiellosen Verluste durch den sogenannten „roten“ und den stalinistischen Terror. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sowjetunion ihre Einflusssphäre bis zur Elbe ausdehnte, erinnerte man sich erneut an die Prognosen Tocquevilles und anderer europäischer Pessimisten, die hundert Jahre zuvor getroffen worden waren. Der innerlich zerrissene Westen schien nun erneut dem diktatorisch regierten, monolithischen russischen Koloss unterlegen. Dass diese Betrachtungsweise die Entfaltungsmöglichkeiten des Westens unterschätzte und das Machtpotential Russlands bzw. der UdSSR überschätzte, steht auf einem anderen Blatt.

Wichtig für diesen Beitrag ist vor allem die Tatsache, dass die um die Mitte des 19. Jahrhunderts geäußerte These Tocquevilles und einiger anderer Autoren vom unaufhaltsamen machtpolitischen Aufstieg Russlands verfrüht war. Sie hat praktisch ein Jahrhundert übersprungen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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