Die Apologie des Pessimismus? Vergleichende Betrachtungen über Wendepunkte der Geschichte
Seit der russischen Annexion der Krim, vor allem aber seit dem von Putin am 24. Februar 2022 begonnenen Angriffskrieg gegen die Ukraine, verdüstert sich die Stimmung im Westen unentwegt. Man spricht zwar nicht vom „Ende der Geschichte“ wie Francis Fukuyama dies 1989 noch euphorisch verkündet hat, jedoch vom „Ende des Westens“. Dies vor allem nach dem erneuten Sieg Donald Trumps bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Die These vom „Ende des Westens“ ist aber nicht neu. Im Verlauf der letzten 100 Jahre wurde sie in den besonders dunklen Stunden der europäischen Geschichte immer wieder geäußert. Mit einigen solchen Phasen möchte ich mich in dieser Kolumne befassen. Von Leonid Luks.

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Das Klagelied von Jurij Ivask
Im Jahre 1939 – kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges veröffentlichte der russische Dichter Jurij Ivask in der russischen Exilzeitschrift „Nowyj Grad“ (Die neue Burg) einen Artikel unter dem Titel „Die Apologie des Pessimismus“. Dort schrieb er: Das jahrhundertealte humanistische und christliche Europa befinde sich in seinem letzten Entwicklungsstadium, sein Untergang sei unausweichlich. Die Aufgabe der Zeit bestehe lediglich in der Verzögerung dieses Untergangs, um einen Nekrolog zu Ehren der vergangenen Größe der europäischen Kultur zu verfassen. Die alexandrinische Bibliothek oder das byzantinische Kirchenritual stellten Hinterlassenschaften bzw. Grabmale der bereits untergegangenen Kulturen dar. Der europäischen Kultur fehle aber ein vergleichbarer Schlussakkord.
Wenn man bedenkt, dass ein Jahr, nachdem diese Zeilen geschrieben worden waren, auf dem Gebiet des von dem NS-Regime okkupierten Polen das Konzentrationslager Auschwitz errichtet werden sollte, scheint der Pessimismus Ivasks durchaus begründet gewesen zu sein. Auch andere damalige Entwicklungen schienen die These Ivasks vom „Untergang der europäischen Kultur“ bzw. vom Untergang des Westens zu bestätigen. Dazu zählte z.B. die im August 1939 entstandene totalitäre Allianz zwischen den ideologischen Todfeinden – dem Dritten Reich und der UdSSR –, die die gesamte Weltöffentlichkeit verblüffte.
Die totalitäre Allianz
Nach der Entstehung des Hitler-Stalin-Paktes gerieten die demokratisch verfassten Staaten in eine wohl noch nie dagewesene Gefahr. Denn die Haltung Moskaus im Krieg zwischen dem Dritten Reich und den Westmächten war keineswegs ausgewogen neutral.
In der sowjetischen Presse wurde nun die neue deutsch-sowjetische Kooperation als ein historischer Wendepunkt und als eine Wiederanknüpfung an die traditionelle deutsch-russische bzw. deutsch-sowjetische Zusammenarbeit interpretiert. Die ideologische Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Regime bzw. mit dem Faschismus wurde praktisch eingestellt.
Im Westen herrschte nun der Eindruck vor, den demokratisch verfassten Staaten stünde jetzt eine relativ einheitliche totalitäre Phalanx gegenüber.
Die westliche Appeasementpolitik und ihre Folgen
Zur Entstehung dieser in der Tat beispiellosen Bedrohung trugen die Westmächte selbst durch ihre äußerst kurzsichtige Appeasementpolitik dem Dritten Reich gegenüber wesentlich bei. Hitlers Selbststilisierung zum Beschützer des Abendlandes gegen die bolschewistische Gefahr wurde in manchen einflussreichen politischen Kreisen des Westens (aber auch Polens) für bare Münze genommen. Man ging davon aus, dass Hitlers Expansionsdrang sich in erster Linie gegen die Sowjetunion richte. Für diese Illusion, aber auch für die willenslähmende Sehnsucht nach dem Frieden um jeden Preis – siehe das Münchner Abkommen – mussten die Westmächte teuer bezahlen. Der Verrat am treuesten Verbündeten der westlichen Demokratien in Ostmitteleuropa – an der Tschechoslowakei – hatte Hitlers Aggressivität in keiner Weise eigedämmt. Im Gegenteil: Sein Eroberungsdrang wurde dadurch nur noch mehr angestachelt.
Der Zusammenbruch Frankreichs
Die Tatsache, dass die Wehrmacht im Mai/Juni 1940 den Widerstand Frankreichs innerhalb von einigen Wochen brechen konnte, zeigte, welche Ausmaße die innere Korrosion dieser einstigen Großmacht, die im Ersten Weltkrieg noch ein unüberwindliches Hindernis für die deutsche Militärmaschinerie dargestellt hatte, bereits erreichte. Das Kräftereservoir der demokratisch verfassten Staaten erwies sich nun als sehr begrenzt. 1918 konnten sie noch, ungeachtet der Unzuverlässigkeit ihres russischen Verbündeten, den Ersten Weltkrieg als überlegene Sieger beenden. In der Zwischenzeit hatte sich aber das globale Kräfteverhältnis eindeutig zugunsten der Diktaturen verlagert. Im Alleingang waren die Demokratien nicht mehr imstande, das 1939 erneut einsetzende globale Ringen zu gewinnen. Nur die Auflösung der im August 1939 entstandenen totalitären Allianz zwischen Hitler und Stalin konnte die äußerst prekäre Situation des Westens lindern.
Churchill als Hoffnungsträger
Als Frankreich am 22. Juni 1940 kapitulierte, war allerdings die Auflösung des totalitären Bündnisses noch nicht in Sicht. So verteidigte Großbritannien ganz allein den außerordentlich geschrumpften Machtbereich der freien Welt gegen ihre Verächter.
In Berlin ging man damals davon aus, dass das isolierte Britische Reich keine Chance mehr habe, den Krieg fortzusetzen.
Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ernst Freiherr von Weizsäcker notierte damals:
„Es wird wohl darauf hinauskommen, dass wir den Engländern anbieten werden, mit einem blauen Auge sich vom europäischen Festland definitiv zu entfernen, und dies uns zu überlassen“.
Die damalige Stimmung in Großbritannien war in der Tat sehr trüb. In ihrer Churchill-Biographie schreibt Franziska Augstein:
„Die Menschen waren furchtsam und niedergeschlagen. In den oberen Rängen der politischen Gesellschaft gab es sogar einige, die einen Separatfrieden mit Hitler schließen wollten“.
Für Churchill, der am 10. Mai 1940 die Symbolfigur der Appeasementpolitik Neville Chamberlain an der Spitze der Regierung ablöste, kam dies nicht in Frage. Er war fest entschlossen, ungeachtet der äußerts prekären Lage des Britischen Weltreiches, den Krieg bis zur endgültigen Beseitigung Hitlers und seines Regimes zu führen.
Churchills Entschlossenheit, den ungleichen Kampf fortzuführen, wurde alsbald durch den ersten Erfolg gekrönt, und zwar in der Form der gewonnenen Luftschlacht über England im Herbst 1940.
Der „Faktor UdSSR“
Trotz dieses militärischen Erfolgs war Churchill von seinem Ziel – „der endgültigen Beseitigung des Hitlerschen Regimes“ – weit entfernt. Die Kräfte des Britischen Weltreiches reichten dazu nicht aus. Nicht einmal die immer enger werdende britisch-amerikanische Allianz war imstande, aus eigener Kraft das NS-Regime zu zerschlagen. Nicht zuletzt deshalb wünschten sowohl Churchill als auch Roosevelt einen Bruch zwischen Moskau und Berlin herbei. Der Faktor UdSSR begann nun in ihren strategischen Überlegungen eine zentrale Rolle zu spielen. Die Bezwingung Hitlers war ohne Stalin in der Tat nicht möglich. Ein ähnlich triumphaler Sieg der Demokratien wie nach dem Ersten Weltkrieg war aber mit einem solchen Verbündeten wie Stalin nicht mehr erreichbar. Dennoch hatte der Westen aufgrund seiner militärischen Schwäche zu diesem Zeitpunkt keine andere Wahl, als der stalinistischen Despotie ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der neuen Weltordnung einzuräumen.
Dieses Dilemma der Demokratien wird vom amerikanischen Historiker und Diplomaten George F. Kennan folgendermaßen charakterisiert: Der Westen habe sich so geschwächt, dass er nicht mehr in der Lage gewesen sei, einen der beiden totalitären Gegner ohne die Hilfe des anderen zu bezwingen. Ein moralisch einwandfreier Sieg sei für den Westen nicht mehr möglich gewesen.
Als Hitler am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, um sich seinen langgehegten Traum von der Eroberung des Lebensraumes im Osten noch zu seinen Lebzeiten zu erfüllen, hatten Churchill und Roosevelt keine Zweifel, welchen der beiden sich nun befehdenden Tyrannen sie unterstützen sollten. Sie neigten dabei zu Beschönigung der Stalin-Despotie. Kein Wunder: Das Schicksal des Zweiten Weltkrieges entschied sich vor allem an der Ostfront. Alles hänge „von der Entwicklung des gigantischen russisch-deutschen Ringens“ ab, schrieb Churchill im April 1942 an Roosevelt. Die Allianz der angelsächsischen Demokratien mit der sowjetischen Diktatur, „von der nun alles abhing“, musste gegenüber der eigenen Öffentlichkeit legitimiert werden; also wurde das sowjetische Regime quasi geadelt und in die Gemeinschaft der Staaten aufgenommen, die die Welt vor dem Hitlerschen „Griff nach der Weltmacht“ verteidigten.
Die Verzweiflungstat Stefan Zweigs
Ungeachtet der Tatsache, dass es der Roten Armee gelungen war, am 6. Dezember 1941 die Wehrmacht vor den Toren von Moskau zu stoppen, war die Lage der Anti-Hitler-Koalition in der ersten Hälfte des Jahres 1942 sehr düster. Am 15. Februar 1942 nahmen die Japaner die von den Briten verteidigte Festung Singapur ein, im Juni 1942 konnte Rommel in Nordafrika einen großen Erfolg in der Schlacht bei Tobruk verbuchen. Im Juli 1942 begann die Sommeroffensive der Wehrmacht an der Ostfront in Richtung Stalingrad. Der Sieg der Achsenmächte schien in greifbare Nähe zu rücken. In einer solchen Welt wollte Stefan Zweig nicht leben und nahm sich gemeinsam mit seiner Frau im brasilianischen Petropolis am 23. Februar 1942 das Leben. In seinem Abschiedsbrief schrieb er:
„Mit jedem Tage habe ich dies Land (Brasilien) mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet. Aber nach dem sechzigsten Jahr bedürfte es besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft… Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“
Die Wende
Einige Monate nach der Verzweiflungstat Stefan Zweigs begann indes eine Wende im globalen Ringen zwischen den Achsenmächten und der Anti-Hitler-Koalition. Im Herbst 1942 verloren die Achsenmächte endgültig die Initiative im Krieg. Die Niederlage Rommels bei El-Alamein, die Landung der Westalliierten in Marokko und in Algerien, vor allem aber die Einkesselung der 6. deutschen Armee in Stalingrad symbolisierten diese Wende. Anschaulich beschrieb Churchill die neue Situation: „Das ist noch nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Es ist aber, vielleicht, das Ende des Anfangs“.
Im Jahre 1942, als das Dritte Reich das Ende seiner Kraftreserven erreichte, hätten seine Gegner erst begonnen, ihre Kräfte zu mobilisieren, schreibt der Politologe Hans Buchheim. So war der Untergang des Dritten Reiches seit Ende 1942 vorprogrammiert. Hitlers Ziel bestand nun in erster Linie darin, mit dem Zusammenbruch des NS-Staates einen möglichst großen Scherbenhaufen zu hinterlassen. Als Verehrer Wagners wollte er den Untergang seines Regimes zu einer Art „Götterdämmerung“ stilisieren. Je aussichtsloser die Lage an der Front war, desto effizienter funktionierte die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie im Hinterland.
Der Mythos von der Unbesiegbarkeit des „real existierenden Sozialismus“
Etwa 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches fand die These vom „Ende des Westens“ erneut eine außerordentliche Verbreitung. Dies insbesondere nach der Niederlage der Vereinigten Staaten im Vietnam-Krieg im Jahre 1975. Auch in vielen Ländern der Dritten Welt begann sich damals der kommunistische Einfluss scheinbar unaufhaltsam auszudehnen. Im Inneren des Sowjetimperiums schien die herrschende Elite ihre Macht ebenfalls endgültig gesichert zu haben. Die in den 1960er Jahren entstandene Bürgerrechtsbewegung hörte Ende der 1970er Jahre praktisch auf zu existieren. Die Verbannung Andrej Sacharows – der integrierenden Gestalt der Bewegung – in die Stadt Gorki (Januar 1980) hatte insofern einen symbolischen Charakter.
Als der sowjetische Dissident Andrej Amalrik 1969 die These aufstellte, die Sowjetunion werde das Jahr 1984 nicht überleben, galt dies in Ost und West gleichermaßen als unseriös. 1981 schrieb der Moskauer Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“, Reinhard Meier, Folgendes dazu;
„Nach längeren Moskau-Erfahrungen …halte ich die Prognose von einem baldigen Kollaps der Sowjetunion für verfehlt“.
Das Buchkapitel, in dem diese These aufgestellt wurde, trug den Titel „Die Sowjetunion wird das Jahr 2000 erleben“.
Nur das aufsässige Polen bereitete der Moskauer Zentrale noch einige Sorgen. Dennoch ist es den polnischen Generälen am 13. Dezember 1981 gelungen, die „Solidarność“-Bewegung – die wohl größte Massenbewegung in der Geschichte des Ostblocks – innerhalb von einigen Stunden zu zerschlagen. Die damaligen polnischen Ereignisse schienen einen zusätzlichen Beweis für die Unbesiegbarkeit der kommunistischen Regime erbracht zu haben. Einer der prominentesten polnischen Regimekritiker, der Chefredakteur der hochangesehenen katholischen Zeitschrift „Tygodnik Powszechny“, Jerzy Turowicz, erklärte Ende 1987:
„Wir haben es niemals verhehlt, dass uns der real existierende Sozialismus nicht gefällt. Wir streben aber nicht danach, ihn abzuschaffen, denn wir wissen, dass dies unmöglich ist“.
Noch skeptischer als in Polen bewerteten damals die Regimekritiker in den anderen Ländern des Ostblocks ihre Erfolgsaussichten, nicht zuletzt in der Sowjetunion selbst: „Trinken wir auf den Erfolg unserer hoffnungslosen Sache“ – dieser Trinkspruch war in den sowjetischen Dissidentenkreisen in der Breschnew-Zeit sehr verbreitet.
Die trügerische Stabilität des Breschnewismus
Ausgerechnet in dieser Periode der scheinbar unerschütterlichen Stabilität der Regime des „real existierenden Sozialismus“ schrieb der polnische Exilpublizist Juliusz Mieroszewski im Jahre 1974 Folgendes: In ihrer gesellschaftlichen Entwicklung stelle die Sowjetunion ein archaisches Gebilde dar, das sich von der Moderne abgekoppelt habe. Man könne sich sowohl gegen China als auch gegen die USA erfolgreich wehren, aber nicht gegen den Zeitgeist: „Der Kampf gegen den Zeitgeist, gegen den Fortschritt ist aussichtslos“.
Und in der Tat, gerade an den von Mieroszewski geschilderten Problemen sollte die UdSSR letztlich scheitern. Als Michail Gorbatschow den Versuch unternahm, die erstarrten paternalistischen Strukturen des sowjetischen Regimes an die Moderne anzupassen und „mehr Demokratie zu wagen“, brach das von den Bolschewiki im Oktober 1917 errichtete autokratische Gebäude zusammen. Die Unbezwingbarkeit der kommunistischen Regime, an die in den 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre noch so viele geglaubt hatten, sollte sich als Mythos erweisen.
Das Ende des Westens?
Nun komme ich zurück zur heutigen Debatte über das „Ende des Westens“. Die Verfechter dieser These gehen davon aus, dass die „offenen Gesellschaften“, mit denen man den Begriff des Westens in der Regel assoziiert, nicht derart effizient wie ihre autokratischen Widersacher seien, weil die Letzteren ihren politischen oder wirtschaftlichen Kurs eigenmächtig bestimmen können – ohne Rücksicht auf die Opposition oder auf die öffentliche Meinung. Dabei lassen die Verfechter dieser These oft die Tatsache außer Acht, dass autokratische Regime gerade wegen der fehlenden gesellschaftlichen Kontrolle oft den Bezug zur Realität verlieren und gravierende Fehlentscheidungen treffen, für die die von ihnen entmündigte Bevölkerung in der Regel einen sehr hohen Preis zahlen muss. Welch zerstörerische und selbstzerstörerische Folgen die willkürlich getroffenen Entscheidungen der Autokraten haben können, wenn ihnen ein entsprechendes Korrektiv fehlt, konnte man am Beispiel des Putinschen Kriegs gegen die Ukraine sehen. Abgesehen davon stellt die angebliche Stabilität der Autokratien häufig nur eine Fassade dar. Dies hat man an dem bereits erwähnten Beispiel des Breschnewismus, aber auch am Beispiel des Putin-Regimes zur Zeit der eintägigen Prigoschin-Revolte vom 24. Juni 2023 feststellen können. All diese Risse im scheinbar stabilen Machtgefüge der autokratischen Regime halten die Verfechter der These vom unmittelbar bevorstehenden „Untergang des Abendlandes“ wohl für irrelevant. So imponiert z.B. dem französischen Anthropologen und Historiker Emmanuel Todd die Robustheit, die das Putinsche Russland ausgerechnet nach der „Zeitenwende“ vom 24. 2. 2022 an den Tag legte. Nichts dergleichen kann er im Westen entdecken, der sich aus seiner Sicht „im Niedergang“ befinde.
Derartige Thesen weisen verblüffende Ähnlichkeiten mit den eingangs erwähnten Untergangsvisionen Jurij Ivasks von 1939 auf. Dies ungeachtet gewaltiger Unterschiede zwischen den beiden Konstellationen. Die 1930er Jahre – das war die Zeit des Siegeszugs der totalitären Regime von rechts und von links, die sich als Sieger der Geschichte wähnten wie auch die Zeit der bereits erwähnten Appeasementpolitik, die die Glaubwürdigkeit der westlichen Demokratien außerordentlich ramponierte usw. Mit vergleichbaren Herausforderungen werden die heutigen europäischen Demokratien nicht konfrontiert. Was aber die beiden Epochen miteinander verbindet, ist die Abwendung der USA vom „alten Kontinent“. Ähnlich wie in den 1930er Jahren müssen die Europäer nun erneut ihre Sicherheitsprobleme weitgehend ohne die Beteiligung der mächtigsten Demokratie der Welt lösen. Der Politologe David Bach schreibt in der NZZ vom 23.4.2025 Folgendes in diesem Zusammenhang:
„Trumps Amerika zieht sich nicht nur von der globalen Führungsrolle zurück, sondern demontiert aktiv die Nachkriegsordnung, die größtenteils von den USA geschaffen wurde“.
Der tiefe Riss im transatlantischen Verhältnis, den Donald Trump durch seinen erratischen und sprunghaften Kurs verursacht hat, scheint die weit verbreitete These vom Niedergang des Westens und vom unaufhaltsamen Aufstieg seiner autokratischen Kontrahenten zusätzlich zu bestätigen. Dabei wird Folgendes in der Regel außer Acht gelassen: Nicht nur das transatlantische, sondern auch das russisch-chinesische Verhältnis – das Herzstück der autokratischen Allianz – ist sehr brüchig. Und bereits jetzt sind die Risse in dieser scheinbar so einträchtigen Beziehung sichtbar. Kein Wunder, wenn man das seit Generationen so gespannte Verhältnis zwischen den beiden Großmächten in Betracht zieht. Dazu schreiben die Osteuropahistoriker Sören Urbansky und Martin Wagner:
„Die chinesischen und russischen Gesellschaften bleiben einander über die Jahrhunderte fremd… Was ihnen fehlt, ist ein gemeinsamer kultureller Mythenkanon… (Die) kulturelle Andersartigkeit und die historischen Konflikte stehen in einem Widerspruch (zu den) immer grelleren Freundschaftsbekundungen“ (NZZ vom 17.2.2025).
Und sollte es zu einer erneuten Entfremdung zwischen Moskau und Peking kommen, würde dies für das globale Kräfteverhältnis vielleicht noch dramatischere Folgen haben als der jetzige Riss innerhalb der westlichen Allianz.
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