Der russische Revolutionsmythos. Zum 120. Jahrestag der „ersten“ Russischen Revolution
Vor 120 Jahren fand in Russland eine Revolution statt, die endgültig zeigte, dass die revolutionäre russische Intelligenzija – die wohl kompromissloseste Widersacherin der zarischen Autokratie – sich nicht mehr im gesellschaftlichen Niemandsland befand. Ihr langgehegter Traum, eine Brücke zum Volk zu schlagen, hatte sich jetzt verwirklicht. Auch bei den Unterschichten wurde nun allmählich die Verehrung des Zaren durch den bedingungslosen Glauben an die Revolution ersetzt. Historische Kolumne von Leonid Luks.

Die Radikalisierung der Massen
Generationenlang hatte die russische Intelligenzija versucht, sich in die Volksseele hineinzuversetzen, geheime Wünsche und Sehnsüchte der russischen Unterschichten zu erraten. Da das Volk aber hartnäckig schwieg, wurde diesem Schweigen eine beinahe mystische Bedeutung beigemessen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben indes die russischen Unterschichten durch ihr Bekenntnis zur Revolution ihr langes Schweigen gebrochen. Diese Entwicklung rief aber bei einigen Vertretern der Intelligenzija nicht nur ungeteilte Zustimmung hervor. In der russischen Revolution von 1905 habe sich der doktrinäre Utopismus der Intelligenzija zum ersten Mal mit dem seit Generationen aufgestauten Volkszorn der Unterschichten vereint, schrieb 1909 der einflussreiche russische Publizist und Wirtschaftswissenschaftler, Pjotr Struve, im Sammelband „Wechi“, der sich mit dem Revolutionsmythos der russischen Intelligenzija kritisch auseinandersetzte:
Mit rasender Geschwindigkeit hat sich der politische Radikalismus der Intelligenzija mit dem amorphen sozialen Radikalismus der Massen zu einem höchst explosiven Zündstoff vermischt, so Struve.
Und Michail Gerschenson, der den Sammelband „Wechi“ initiierte, spricht von einer paradoxen Situation, die sich nun infolge der Revolution von 1905 offenbarte:
Die Unterschichten, für die die Intelligenzija gekämpft hatte, hassen sie, und von dem Staat, den die Intelligenzija bekämpfte, wurde sie verteidigt. …Der Staat allein ist es, der uns mit seinen Bajonetten und Gefängnissen vor dem Volkszorn bewahrt.
Russland nach dem Sturz des Zaren
Infolge der Februarrevolution von 1917, die zum Sturz des Zaren führte, brach aber der gewaltige zarische Polizei- und Verwaltungsapparat innerhalb von wenigen Tagen zusammen. Das Land befand sich in einem Freiheitsrausch. Den Appellen der gemäßigten Sozialisten, die die Massen zu maßvollem Handeln aufriefen, wurde immer weniger Gehör geschenkt. Dies ungeachtet der Tatsache, dass die demokratisch gesinnten Sozialisten (Sozialrevolutionäre und Menschewiki) bis Sommer 1917 im mächtigsten Organ der Revolution – dem Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten – eindeutig dominierten:
Es besteht bei den Massen eine Art instinktiver Furcht, dass die Revolution zu früh ende“, sagte in diesem Zusammenhang der erste Außenminister der nach dem Sturz des Zaren entstandenen Provisorischen Regierung Pawel Miljukow: „Sie haben das Gefühl, die Revolution würde fehlschlagen, wenn der Sieg von den gemäßigten Kräften allein davongetragen werde.
Viele politische Denker, von Joseph de Maistre angefangen, machten die Beobachtung, dass beinahe jede große Revolution unter einem gewissen Zwang stehe, immer radikaler zu werden. Im Jahre 1917 gehörten allerdings die Bolschewiki zu den wenigen politischen Gruppierungen Russlands, die sich von diesem Radikalisierungsprozess nicht beunruhigen ließen. Im Gegenteil, sie versuchten sich an die Spitze dieses Prozesses zu stellen.
Aus diesem Grund forderten einige Vertreter der gemäßigten Sowjetmehrheit, in erster Linie Irakli Tsereteli, ein entschlosseneres Vorgehen gegen die regierungsfeindliche Tätigkeit der Bolschewiki. Tseretelis Forderungen blieben aber in der Regel ungehört. Seine Parteifreunde hielten die Bolschewiki trotz ihrer aufwieglerischen Tätigkeit für Gesinnungsgegossen, für Verbündete im Kampfe gegen die aus ihrer Sicht akute gegenrevolutionäre Gefahr. Sie vertraten in der Regel die Meinung, dass die Revolution links keine Feinde habe. Zu einem zusätzlichen Verhängnis wurde für sie ihr Analogiedenken, Vergleiche, die sie mit der französischen Revolution von 1848 zogen, in der die im Februar 1848 entstandene revolutionäre Regierung brutal ihre Gegner von links unterdrückte und damit den Weg zur Diktatur Louis Bonapartes ebnete.
Nicht einmal der von den Bolschewiki Anfang Juli 1917 unternommene Versuch, die bestehende Ordnung gewaltsam zu stürzen, der mit einem Debakel der Bolschewiki endete, führte zu ihrem Ausschluss aus dem „revolutionär-demokratischen Lager“. Sie wurden von den gemäßigten Sozialisten weiterhin als eventuelle Verbündete gegen die sich angeblich anbahnende gegenrevolutionäre Gefahr betrachtet.
In Wirklichkeit bedrohte aber die Gefahr von rechts zu keinem Zeitpunkt die im Februar/März 1917 entstandene russische Demokratie. Fjodor Stepun – einer der Akteure der damaligen Ereignisse – schrieb in seinen Erinnerungen:
Im Jahre 1917 war eine Gegenrevolution von rechts völlig ausgeschlossen: sowohl die Bajonette als auch die Kanonen befanden sich in den Händen der Arbeiter und der Bauern.
Das klägliche Scheitern des Putschversuchs von General Kornilow im August 1917 bestätigte diesen Sachverhält. So benötigten die russischen Demokraten keineswegs die Unterstützung der Bolschewiki, um die Gefahr von rechts abzuwehren. Diese Erkenntnis kam aber zu spät. Die nach dem gescheiterten Juli-Putsch entwaffneten Bolschewiki erhielten nun ihre Waffen wieder, um die angeblich von rechts gefährdete russische Demokratie zu verteidigen. Dieser fatale Fehler der russischen Demokraten ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Zwar ist es den Bolschewiki niemals gelungen, die Mehrheit der russischen Bevölkerung für sich zu gewinnen. Dennoch waren sie im Stande, den immer radikaler werdenden Volksschichten das Gefühl zu vermitteln, dass jeder Kampf gegen den Bolschewismus die Revolution nur schwäche. Diese weitgehende Identifizierung des Bolschewismus mit der Revolution ebnete Lenin nicht unwesentlich seinen Weg zur Macht.
Pjotr Struve über den Charakter der bolschewistischen Revolution
Der bereits erwähnte liberal-konservative Publizist Pjotr Struve versuchte kurz nach der bolschewistischen Machtergreifung in seinem Artikel „Worin besteht die Revolution und worin die Gegenrevolution?“ die Entwicklungen des Jahres 1917 zu charakterisieren. Die so glorreich begonnene Revolution habe sich in eine Revolte der zügellosen Soldateska, in einen schändlichen allrussischen Pogrom verwandelt, so Struve.
Neben der marodierenden Soldateska nennt Struve auch einen anderen Akteur des „allrussischen Pogroms“ vom Jahre 1917 – nämlich die bäuerlichen und proletarischen Massen, die unter dem Mäntelchen der sozialistischen Ideologie das Eigentum anderer raubten und ihre Habgier befriedigten.
Die Hauptverantwortung für diese Entfesselung der zerstörerischen Leidenschaften der Massen trugen nach Ansicht Struves die oppositionell gesinnten russischen Eliten. Die hemmungslose sozialistische Propaganda der Intelligenzija habe diese Pogromstimmung bei den Massen erst erzeugt. Hier wiederholt Struve seine These, die er bereits im Jahre 1909 in seinem „Wechi“-Artikel“ formulierte. Aber auch die herrschenden Schichten hätten die Katastrophe von 1917 mitverschuldet, und zwar dadurch, dass sie
durch die krampfhafte Verteidigung ihrer anachronistischen Privilegien …die Revolution unvermeidlich gemacht hatten, so Struve.
Die bolschewistische Revolution stellte für Struve eine Art Vatermord dar, einen gänzlichen Bruch mit der großen russischen Vergangenheit.
Diese Verbannung des Bolschewismus aus der russischen Geschichte ist indes wenig überzeugend. Struve selbst kritisierte oft die in der russischen Mentalität tief verankerte revolutionäre Versuchung sowie die jahrhundertealte Tradition der russischen Bauernaufstände. Im Bolschewismus haben sich all diese dunklen Seiten der politischen Kultur Russlands miteinander vereint, was ihnen eine zusätzliche zerstörerische Kraft verlieh. Deshalb entbehrten die Versuche, den zutiefst russischen Charakter der russischen Revolution in Frage zu stellen. jeder Grundlage.
Warum blieben die Bolschewiki an der Macht?
Struve wollte sich auf keinen Fall mit dem bolschewistischen Sieg abfinden und beteiligte sich am Kampf der „weißen“ Gegner der Bolschewiki gegen die rote Diktatur. Struves Optimismus in Bezug auf die Siegesaussichten der „weißen“ Bewegung wurde indes von manchen seiner früheren Mitstreiter, so vom Philosophen Simon Frank, nicht geteilt. Da die weiße Bewegung sich im Wesentlichen aus den Vertretern der früheren herrschenden Schichten rekrutierte, sei sie für die Volksschichten mit ihren tief verankerten Ressentiments gegen die Gebildeten nicht akzeptabel gewesen, schrieb Frank in seiner Struve-Biographie. Aus diesem Grund war die weiße Bewegung nach Ansicht Franks von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.
Franks Skepsis in Bezug auf die Siegesaussichten der „Weißen“ ist sicherlich begründet. Zwar wandte sich die Mehrheit der russischen Bevölkerung während des 1918 ausgebrochenen Bürgerkrieges vom bolschewistischen Regime ab. Dessen ungeachtet profitierte die neue Diktatur nicht zuletzt von der Stimmungslage, die damals die russischen Unterschichten auszeichnete. Denn die Abwendung vieler russischer Bauern und Arbeiter von den Bolschewiki bedeutete keineswegs, dass sie sich vom revolutionären Mythos abgewendet hätten. Simon Frank schrieb in diesem Zusammenhang:
Als die revolutionäre Leidenschaft in den Seelen der Intelligenz bereits seit 1905 abebbte, und vor allem als sich die Intelligenz im Oktober 1917 entsetzt und bestürzt von dem von ihr entzündeten Brand abwandte, griff das Feuer dieses Glaubens über auf die Seelen einfacher russischer Bauern, Soldaten und Arbeiter…Die dämonische Macht und Unbesiegbarkeit (der Revolution) sind nur aus diesem brennenden Glauben, in dessen Namen Tausende von Russen, „Rotarmisten“ und Arbeiter, in den Tod gingen, indem sie ihr Heiligtum, die ´Revolution´ verteidigten.
Aus diesem Grund hatten alle politischen Gruppierungen, die im Verdacht standen, die vorrevolutionären Zustände restaurieren zu wollen, in dem auf die Revolution fixierten Land keine Chance.
Und wie verhielt es sich aber mit den demokratisch gesinnten Sozialisten, die sich ebenso wie die Bolschewiki zur Revolution bekannten? Das, was diesen Gruppierungen wiederum fehlte, war die Entschlossenheit, eigene Ideale zu verteidigen. Die Tatsache, dass sie so unbeholfen auf den bolschewistischen Staatsstreich vom 7. November 1917 reagierten, zeigte dies besonders deutlich.
Die Entmachtung der „Sieger“
Am Tag der bolschewistischen Machtübernahme hielt Lew Trotzki, der zu den wichtigsten Urhebern des Staatsstreichs vom 7. November 1917 zählte, eine berühmt gewordene Rede, in der er sich an die Kritiker des bolschewistischen Putsches mit folgenden Worten wandte:
Der Aufstand der Massen bedarf keiner Rechtfertigung. Was geschehen ist, war ein Aufstand und keine Verschwörung…Die Volksmassen folgten unserem Banner und der Aufstand hat gesiegt. Und nun schlägt man uns vor: Verzichtet auf euren Sieg, …schließt einen Kompromiss. Mit wem? …Hunter ihnen steht doch niemand mehr in Russland…Ihr seid klägliche Bankrotteure, … geht dorthin, wohin ihr gehört: Auf den Kehrichthaufen der Geschichte.
Bald sollten aber der einstige Triumphator und mit ihm viele seiner Mitstreiter mit ähnlichen Worten von der politischen Bühne Russlands verjagt werden. Trotzki selbst führte dieses Debakel der engsten Gefährten Lenins auf die Machenschaften Stalins und des von ihm beherrschten Parteiapparates sowie auf die Abkehr der neuen Parteibürokratie von den revolutionären Idealen zurück. Dabei ließ er allerdings außer Acht, dass im Stalinschen Kampf gegen die alten Bolschewiki der um die Jahrhundertwende begonnene Aufstand der Volksschichten gegen das Petersburger Russland im Grunde seinen logischen Abschluss fand. Denn die alte „Leninsche Garde“, in der die Tradition der vorrevolutionären Intelligenzija noch fortlebte, stellte praktisch das letzte Überbleibsel des alten Imperiums dar. Sie war streitlustig und „kosmopolitisch“ orientiert. All diese Eigenschaften galten aber in den Augen der Volksschichten, auch in denen der neuen Generation der Bolschewiki, die in der Regel proletarischer oder bäuerlicher Herkunft waren, als ausgesprochen elitär. Diese anti-elitären Emotionen wurden dann von Stalin in seinem Kampf um die Alleinherrschaft in der Partei geschickt ausgenutzt. Darin liegt sicher eine der wichtigsten Erklärungen für seinen relativ leichten Sieg über die überwältigende Mehrheit der Parteigefährten Lenins. Der Entmachtung der alten Bolschewiki Ende der 1920er Jahre folgte einige Jahre später – während des Großen Terrors von 1936-1938 – ihre beinahe gänzliche Vernichtung.
In seinem Geheimreferat auf dem 20. Parteitag der KPdSU vom Februar 1956 berichtete Nikita Chruschtschow über das Schicksal der Delegierten des 17. Parteitages der Bolschewiki vom Januar 1934, dem von der sowjetischen Propaganda die Bezeichnung „Parteitag der Sieger“ verliehen wurde (der Sieger über die wehrlose Landbevölkerung, die infolge der Kollektivierung der Landwirtshaft enteignet wurde):
Es wurde festgestellt, dass von den auf dem 17. Parteitag gewählten 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees der Partei 98 Personen, das sind 70%, in den Jahren 1937-1938 verhaftet und liquidiert wurden. …Das gleiche Schicksal ereilte die Mehrzahl der Delegierten des 17. Parteitages…(Über) die Hälfte aller Delegierten wurde unter der Beschuldigung gegenrevolutionärer Verbrechen verhaftet.
Angesichts des weiteren Schicksals vieler Delegierten des 17. Parteitages, zu denen übrigens auch viele überzeugte Stalinisten zählten, wurde dieser vom Moskauer Historiker Michail Gefter während der Gorbatschowschen Perestroika in „Parteitag der Selbstmörder“ umbenannt.
Die Abkehr vom Revolutionsmythos
Die Enthüllungsrede Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der KPdSU, der seinen Vorgänger als Massenmörder entlarvte, musste zwangsläufig die Fundamente des am 7. November 1917 errichteten Regimes erschüttern. Die These von der unfehlbaren Partei, die „immer Recht habe“, ließ sich nicht mehr aufrechterhalten – dies ungeachtet verzweifelter Restaurationsversuche der herrschenden Oligarchie. Als Michail Gorbatschow während der Perestroika versuchte,, „mehr Demokratie zu wagen“, stellte sich heraus, dass die kommunistische Idee in den Augen der Bevölkerungsmehrheit ähnlich diskreditiert war wie die Zarenidee zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der am 19. August 1991 unternommene Versuch der Reformgegner, den 1985 begonnenen Erneuerungsprozess gewaltsam aufzuhalten, scheiterte kläglich. Statt das infolge der bolschewistischen Revolution entstandene Regime zu retten, beschleunigten sie lediglich seine Auflösung. Am 6. November 1991 – am Vorabend des 74. Jahrestages der bolschewistischen Revolution – verbot der am 12. Juni 1991 zum russischen Staatspräsidenten gewählte Boris Jelzin die Tätigkeit der KPdSU auf dem Territorium der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Jelzin begründete dieses Verbot mit folgendem Argument:
Die KPdSU war niemals eine Partei. Sie stellte vielmehr einen eigenartigen Herrschaftsmechanismus dar, der sich mit den Staatsstrukturen verschmolz bzw. diese der Partei unterwarf.
Das sowjetische Herrschaftssystem wurde einige Jahre zuvor auch von dem aus der UdSSR emigrierten Historiker Abdurachman Awtorchanow ähnlich charakterisiert. In seinem Buch „Die Ursprünge der Partokrartie“ (1973) schrieb er: Die bolschewistische Partei sei nicht bloß eine alleinregierende Partei, sie sei nicht einmal ein „Staat im Staate“, sondern sie stelle selbst den Staat – den „Staat neuen Typs“ – dar. Der kommunistische Staat sei vielleicht im Stande, ohne seinen offiziellen Staatsapparat zu funktionieren, ohne seinen Parteiapparat könne er aber nicht existieren.
Mit dem Verbot der KPdSU wurde dem von den Bolschewiki errichteten System seine wichtigste Grundlage entzogen. Die Auflösung der UdSSR, die dann bekanntlich im Dezember 1991 erfolgte, ließ sich wohl kaum verhindern.
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