„Die Ladenhüterin“ von Sayaka Murata – kurz, einfach, rätselhaft.
Kolumnist Sören Heim über einen Bestseller aus Japan.
Die Ladenhüterin von Sayaka Murata – Na das ist ja mal ein faszinierendes kleines Buch. „Klein“ keinesfalls als Abwertung gemeint. Es ist jedes Mal zu begrüßen, wenn ein Verlag sich daran wagt, eine kurze Erzählung zwischen Buchdeckel zu packen. Natürlich wäre ein wirklich relevanter Schritt vom Zeittotschlagen hin zur Literatur erst getan, würde man auch mit Debütanten so umgehen und nicht nur mit etablierten Autoren wie Kehlmann oder eben dieser Akutagawa-Preisträgerin. Aber immerhin, ein Schritt.
Der einfach-komplexe Plot:
Keiko Furukura ist irgendwie „anders“. Sie hat kein Gespür für das in einer Situation angemessen Verhalten. Sie geht ungeheuer pragmatisch vor, manch einer meint, sie habe keine Gefühle. Das ist besonders anfangs manchmal ausgesprochen komisch:
„»Keiko, was ist denn? Ach, ein Vögelchen … Es ist wohl jemandem davongeflogen. Das Ärmste! Wollen wir es begraben?«, sagte sie und strich mir dabei liebevoll übers Haar.
»Lieber essen«, sagte ich.
»Wie bitte?«
»Papa mag doch Hähnchenspieße so gern. Wir können den kleinen Vogel heute Abend braten«, erklärte ich noch einmal deutlicher, weil ich glaubte, sie habe mich nicht verstanden. Meine Mutter wirkte bestürzt, und auch die anderen Mütter rissen entgeistert Augen und Mund auf. Sie sahen zum Brüllen aus. Aber weil sie so auf meine Hand starrten, dachte ich, ein einzelner Vogel wäre wahrscheinlich nicht genug“
Aber natürlich hat Keiko Gefühle. Damit etwa, dass die Welt sie einfach nicht zu akzeptieren scheint, kommt sie überhaupt nicht gut zurecht. Schließlich findet sie eine ihr gemäße Existenzweise innerhalb der eng abgesteckten Regeln eines Konbini, eines Convenience-Stores. Doch was Eltern und Umfeld während des Studiums freut, wird umso skeptischer beäugt, je länger Keiko weder heiratet, noch eine „richtige“ Karriere anstrebt. Mit 36 existiert sie nur noch halbwegs unbehelligt dank eines Netzes von Ausreden, das ihr die Schwester zurecht gelegt hat.
Dann (und ungefähr in der Hälfte des Romans) kommt es zu einem Einschnitt: Im Konbini fängt der widerspenstige Shihara an, der – wie Keiko schnell bemerkt – ebenfalls „anders“ ist. Allerdings anders anders. Shihara ist überzeugt, die heutige Zeit unterscheide sich kaum von der Jōmon-Periode: Es gelte das Recht des Stärkeren, „kranke“ Elemente würden von der Gesellschaft ausgestoßen, die „Alphamänner“ bekämen alle Frauen, und überhaupt gehörten Frauen eigentlich an den Herd.
Im Konbini fliegt Shihara rasch wieder raus, doch Keiko ist so fasziniert von dem Erlebnis, einen anderen Anderen getroffen zu haben, dass sie ihn bei sich aufnimmt. Zwar nicht gerade mit Hochachtung und durchaus auf die zentralen Widersprüche in dessen Weltbild hinweisend (So ist Shihara offenkundig kein „starker Mann“, aber dennoch überzeugt, das ihm die Privilegien des Mannes aus der Jōmon-Periode zustünden; und Probleme, zuhause abzuhängen, während eine Frau für ihn arbeiten geht, hat er auch nicht), aber die These, dass sich die Gesellschaft prinzipiell – und besonders in ihrem Verhältnis zu Außenseitern – seit der Jōmon-Periode kaum verändert hat, scheint Keiko plausibel zu sein. Durch das Zusammenwohnen mit Shihara hofft sie, sich wieder als „normal“ tarnen zu können, indem sie nun immerhin wie eine Frau auf dem Weg zur Eheschließung wirken könnte.
Eheähnlich ist das Verhältnis zu Shihara allerdings nicht: Er lebt erst im Schrank, dann in der Badewanne und Keiko scheint ihn eher als eine Art Haustier zu sehen:
„»Gut, solange du kein Einkommen hast, geht es sowieso nicht anders. Außerdem bin ich selber knapp bei Kasse, also käme eine Bezahlung nicht in Frage, aber Futter gebe ich dir, wenn du es isst.«
»Futter?«
»Entschuldige. Ich habe zum ersten Mal ein Lebewesen bei mir. Mir ist, als hätte ich ein Haustier.«“
(Sie wird auch in Zukunft von seinem Essen als Futter sprechen.)
Schließlich kann Shihara Keiko überzeugen, sich auf die Suche nach einem „richtigen“ Job zu machen, doch auf dem Weg dorthin möchte sie noch rasch in einem Konbini etwas einkaufen. Die junge Belegschaft scheint überfordert und Keiko vernimmt „den Ruf des Konbini“ – in einem quasi-religiösen Erweckungserlebnis reiht sie sich wieder in die Reihe der uniformierten Mitarbeiter ein.
Gelungen ambivalent
Die Ladenhüterin von Sayaka Murata fasziniert: Durch das ohne jedes Moralisieren ausagierte Verhältnis der beiden Hauptcharaktere. Durch die überraschende Art und Weise, wie aus einer scheinbar konformitäts-kritischen Fabel eine wird, die Monotonie und Uniformierung zumindest ambivalent, tendenziell sogar positiv als Ausweg aus traditionell-patriarchalen Verhältnissen zeichnet. Und durch die äußerste Kürze und die lakonische Sprache, die dieser Thematik absolut angemessen sind.
Nur eines verwundert: Klar ist, warum Keiko ihr abgeschlossenes Studium nicht in eine anerkannte Karriere in irgendeinem Büro umsetzt. Aber warum kann sie nicht im Konbini aufsteigen? Sie ist offenkundig die beste Angestellte und seit 16 Jahren dabei. Sie hat studiert. Alle merken sofort, wenn sie fehlt und anerkennen ihr stilles Organisationstalent. Zudem scheint das Japan Muratas Frauen Führungspositionen nicht zu verbauen. Ja: Vielleicht will sie nicht? Aber warum? Die insgesamt acht Filialleiter, die während ihrer Zeit im Konbini kommen und gehen, tun genau das gleiche wie sie. Sie sind nur anerkannter und verdienen wahrscheinlich mehr Geld. Es wäre die perfekte Symbiose aus Aufstieg und Schutz vor der Außenwelt.
Anyhow – vielleicht gibt es einen guten Grund, der sich japanischen Lesern sofort erschließt. Und so oder so ist Die Ladenhüterin ein faszinierendes, klug gearbeitetes, ein verstörendes kleines Buch. Und „klein“ ist wie gesagt keinesfalls als Abwertung gemeint.
Bild: Pixabay, gemeinfrei
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