“Geschichten aus Odessa”

Die Lektüre Isaak Babels ist dieser Tage besonders schmerzhaft. Dennoch möchte Literaturkolumnist Sören Heim den Autor allen Lesenden nahelegen.


Isaak Babels “Geschichten aus Odessa” waren für mich lang eine Art literarisches Geheimnis. Ich glaube, als mir noch unkompliziert die große Universitätsbibliothek zur Verfügung stand, wusste ich noch nichts von dem Buch. Babel gilt zwar bei denen, die ihn kennen, als unstrittig einer der größten Erzähler des 20. Jhdt, ihn kennen allerdings längst nicht alle und selbst in der Slawistik wurde meiner Erfahrung nach eher selten empfohlen „lies mal Babel“. An Einzelausgaben zu kommen war dann später nahezu unmöglich. Es muss mal eine Reclam-Ausgabe gegeben haben, doch die ist vergriffen und antiquarisch habe ich auch niemals etwas in einem halbwegs akzeptablen Preisrahmen gefunden. Seit einigen Jahren finden sich die „Geschichten aus Odessa“ im auch nicht gerade günstigen Gesamtband „Mein Taubenschlag“.

Ich habe mich also dann irgendwann an den Texten im russischsprachigen Original versucht. Auf Russisch aber lese ich deutlich langsamer. Dass ich es nicht durch das ganze Buch geschafft habe, spricht also nicht gegen das Buch. Ich erinnere mich an Texte, die vor allem von der Atmosphäre der Mündlichkeit leben. Vorgetragen wie Erzählungen von einem, der direkt zu den Lesenden spricht und getragen vor allem von Dialogen in stark fingierte Mündlichkeit. Ein Russisch voller aus dem jiddischen und hebräischen stammenden Lehnworte.

Alltag, Schönheit, Brutalität

Denn die „Geschichten aus Odessa“ spielen in der namensgebenden Stadt in einem Milieu jüdischer Kleinunternehmer und Gangster. Über allem schwebt die Figur des Benja Krik, und in verschieden Erzählungen erfahren wir mal mit mehr, mal mit weniger Fokus auf Krik, von dessen Aufstieg und seinen Machtkämpfen.

Mittlerweile habe ich mir dann doch den gesamt Band zugelegt, um Babel auch einmal flüssig auf Deutsch lesen zu können. Der positive Eindruck von den Odessa-Erzählungen bestätigt sich dort mit dem Vorteil, nun tatsächlich alles zu verstehen und feststellen zu können, wie stark vor allem auch der Wechsel der (vielleicht überspitzten) Alltagsbeobachtungen und Szenen aus dem Leben zwischen Geschäft, Markt, Kneipe, Hinterhof und immer belebter Straße, wie gesagt meist in Dialogen sehr unmittelbar vergegenwärtigt, und einigen stark poetisierten Beschreibungen funktioniert. Hier ein Auszug aus der Erzählung „Sonnenuntergang“:

Zu dieser Stunde war die Sonne noch nicht bis nach Bližnie Melnicy gelangt. Sie ergoss sich in die dunklen Wol ken wie Blut aus einem aufgeschlitzten Eber, und auf den Straßen rumpelten die Fuhrwerke des alten Bucis, der von der Arbeit heimkehrte. Die Viehmägde molken schon zum dritten Mal die Kühe, und die Arbeiterinnen von Madame Parabellum schleppten ihr die Kübel mit Abendmilch auf die Vortreppe. Und Madame Parabellum stand auf der Treppe und klatschte in die Hände.

Gleichzeitig muss man sich auf Deutsch die Lebendigkeit der Dialoge ein wenig dazudenken. Die Übersetzung versucht hier und da die Atmosphäre mittels pseudojiddischer Wortstellungen aufzugreifen, hat hier allerdings kaum eine Chance, als eher ein wenig schief denn treffend zu wirken. Es klappt nicht wirklich, den Funken überspringen zu lassen.
Dennoch bleibt eine Hauptcharakteristik bestehen: Den „Geschichten aus Odessa“ gelingt es, durch kleine Texte, die man teils allein unscheinbar finden mag – einige will man vielleicht nicht einmal Erzählung nennen, da es sich eher um Szenen ohne einen durchgängigen Handlungsbogen handelt, wie wir es heute von jedem literarischen Text gewohnt sind – das zusammenhängende Bild einer Stadt und eines Viertels zu zeichnen, die lebendiger wirkt als alles, was modernes „world-building“ uns aufs Papier wirft. Da wird gezechgt, gehandelt, gestritten, wir verlieren Menschen aus den Augen und finden sie 30 Seiten später in einem ganz anderen Zusammenhang wieder, alles wirkt, als seien wir direkt in dieses Odessa Babels gepurzelt und könnten mit eigenen Augen zusehen, mit eigenen Ohren zuhören (Es ist in etwa die gleiche Welt, von der auch Vladimir Jabotinsky in seinem polyphonen Roman „Die Fünf“ erzählt). Dabei berichtet Babel von einer nicht nur vergangenen, sondern gleich mehrfach vernichteten Zeit.

Pogrom und Vertreibung als Alltag

Denn heftige Pogrome gab es im Kaiserreich, unter deutscher Besatzung wurde der größte Teil der jüdischen Bevölkerung ermordet und auch die antisemitischen Kampagnen unter Stalin trafen das jüdische Odessa noch einmal schwer.

Eine schmerzhafte Lektüre, deren Schmerz sich, da ich dies schreibe, vielleicht noch stärker in Erinnerung ruft. Denn von den 40.000 Juden, die bis vor kurzem noch in der Ukraine gelebt haben, befinden sich derzeit wieder viele auf der Flucht, gemeinsam mit mehreren Millionen anderer gewaltsam Vertriebener.

Den Gesamtband eröffnen die Erzählungen aus „Mein Taubenschlag“, die größtenteils auf Kindheitserinnerungen Babels basieren. Auch hier ist das Konstruktionsprinzip der Odessaer Erzählung bereits zu entdecken. Einmal mehr handelt es sich oft eher um detaillierte geschilderte Szenen als um moderne Kurzgeschichten mit Spannungs- bzw. Handlungsbogen. Vom Versprechen an den Jungen etwa, wenn er seine Prüfungen bestehe ein paar Tauben zu bekommen, und von dem brutalen Ende dieses Traums. Aber auch bereits hier von Pogromen, von Vertreibungen. Und ebenfalls bereits hier wechselt Babel das alltägliche mündliche Gespräch mit Berichten des Schrecklichen, aber auch mit Momenten vollendeter Schönheit ab:

„Mein Kind“, sagte sie auf Jiddisch, „unser Kummer ist groß. Er kennt keine Grenzen. Nur Blutvergießen fehlt uns noch in unserem Haus. Ich will in unserem Haus kein Blut sehen…“

Mein Vater stöhnte auf. Ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Der Riegel hing am letzten Nagel.

Bis in die Nacht hinein hockte ich in meiner Festung. Als alle sich schlafen gelegt hatten, brachte mich Tante Bobka zur Großmutter. Es war ein weiter Weg. Das Mondlicht lag starr auf unbekannten Sträuchern, auf Bäumen ohne Namen … Ein unsichtbarer Vogel tat einen Pfiff und erstarb, vielleicht war er eingeschlafen … Was ist das für ein Vogel? Wie heißt er? Fällt am Abend Tau? … Wo liegt das Sternbild des Großen Bären? In welcher Himmelsrichtung geht die Sonne auf?… Wir gingen durch die Počtovaja-Straße. Bobka hielt mich fest an der Hand, damit ich nicht flüchten konnte. Sie hatte recht. Ich dachte an Flucht.

Überhaupt ist das Pogrom, ist zudem die staatlich angeordnete Umsiedlung, in Babels Texten so präsent, dass sie einem beinahe alltäglich, um nicht zu sagen „normal“ vorkommen will. Manchmal wird es tatsächlich nur am Rande erwähnt, wie andere Autoren schreiben würden „irgendwo bellte ein Hund”. In anderen Texten bildet Übergriff und Vertreibung den gesamten Hintergrund der Handlung. Etwa in der kurzen bittersüßen Geschichte „Elja Isaakovic und Margarita Prokofjewna“, die damit beginnt, dass der Protagonist aufgrund staatlicher Anordnung seinen Laden und sein Haus in Orjol hinter sich lassen muss und bevor er zurück nach Odessa reist eine Bleibe für die Nacht sucht. Ins Hotel kann er nicht und so verhandelt er schließlich hart mit einer Prostituierten, bis die ihn für eine Nacht bei ihr unterkommen lässt. Aus dieser einen Nacht werden einige Nächte und zwischen den beiden entspannt sich so etwas wie eine Freundschaft, ehe dann unweigerlich doch die weite Reise stattfinden muss. Dieser Text stammt aus den „Erzählungen des ersten Jahrzehnts“, und hier finden sich durchaus einige der stärkeren Texte des Autors, runder, vielleicht noch etwas traditioneller gearbeitet. Außerdem versammelt „Mein Taubenschlag“ auch noch die „Erzählungen vom Ruhm bis zum Verstummen“, eine Sammlung aus den späten Jahren des Autors, „Die Reiterarmee“, sowie einige Texte und Skizzen aus dem Nachlass.

 

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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