Eine vertrackte Mordserie, Rassismus und Harper Lee
„Grimme Stunden“ von Casey Cep mag etwas schwerfällig beginnen, wird aber zu einer immer dichteren Reportage. Lesenswert, findet Kolumnist Sören Heim.
Tatsächlich bin ich an Grimme Stunden von Casey Cep mit der falschen Erwartung herangegangen. Irgendwie hat die Formulierung im Klappentext bei mir den Kurzschluss getriggert, es handele sich um einen Roman, der sich darum dreht, wie Harper Lee jenen zweiten Roman The Reeverend begonnen hat, der dann nie fertig wurde. Das sorgte für etwas Befremden bei der Lektüre der ersten 20 Seiten. Denn Grimme Stunden ist eher eine True-Crime-Reportage, die biographisch weit ausgreift. Oder: Die Biografie dreier Figuren, deren Leben miteinander verbunden sind.
Der mordende Prediger
Die Geschichte ist tatsächlich sensationell und erregte deshalb auch die Aufmerksamkeit Lees: Ein schwarzer Prediger in einer kleinen Südstaaten-Stadt verliert seine erste Ehefrau. Er hat beeindruckend viele Lebensversicherungen auf sie abgeschlossen und schon nach diesem Todesfall gehen Gerüchte um (und es gibt recht starke Indizien), dass es sich um Mord gehandelt haben könnte. Der Prediger heiratet dann ausgerechnet die Frau, die ihm ein Alibi gegeben hat und Überraschung: Auch die stirbt bald. Wieder ist der Prediger Begünstigter zahlreicher Lebensversicherungen. Und so geht das dann in seinem Umfeld noch eine Zeit lang weiter. Bis ein anderer Mann den Prediger auf der Beerdigung eines seiner möglichen Opfer erschießt. Der Pfarrer hatte einen starken Anwalt, der ihn bei jeder Anklage bisher rausgeboxt hat und genau dieser Anwalt verteidigt nun ebenfalls den Mörder des Predigers. Und schafft es, auch diesen durch die Behauptung von Unzurechnungsfähigkeit vor dem Gefängnis zu bewahren. Eigentlich ist Harper Lees Verstrickung in diese Geschichte relativ gering: Die Autorin interessierte sich für den Fall und hat dazu recherchieren, jedoch niemals etwas zum Thema veröffentlicht.
Anfangs fragt man sich durchaus, warum es lohnt, ausgerechnet diese Geschichte in Buchstärke zu erzählen. Ja, sie ist spektakulär; doch das amerikanische Gerichtswesen hält sicher viele spektakuläre Geschichten bereit. Und um etwa über den Rassismus im Süden zu schreiben, gibt die Autorin selbst zu, scheint es nicht gerade die beste Geschichte zu sein. Der Prediger ist zu 99% schuldig und fällt doch immer wieder auf die Füße. Er findet Unterstützung an unerwarteten Orten und auch und besonders seine schwarzen Mitbürger haben Angst, dass sie seine nächsten Opfer werden könnten. Allerdings zeigt es sich mit der Zeit: Es ist vielleicht doch gerade die perfekte Geschichte, um über viele gesellschaftspolitische Themen aus der Zeit rund um und vor dem Fall der Segregation im Süden zu sprechen. Da sind erstmal zwei Dinge, die die meisten Leserinnen erstaunen dürften: Wie unglaublich einfach es lange Zeit war, auf jeden lebenden Menschen Lebensversicherung abzuschließen. Ich habe einen guten Kumpel, von dem ich weiß, dass er gerne ungesichert an Felswänden klettert? Zack, mal schnell 10 Policen abgeschlossen und geschaut was passiert. Die Versicherungen waren lange auch wirklich derart schlecht informiert, dass man sich wundert, wieso diese Branche so wachsen konnte. Und amerikanischen Jurys waren notorisch schlecht auf Lebensversicherungen zu sprechen. Dann: Die eklatanten Schwächen der Polizeiarbeit in kleinen Dörfern und Städten. In den 70ern in den Vereinigten Staaten, so legt Grimme Stunden nahe, konnte man wirklich relativ ungestört morden. Erschreckend.
Der kämpferische Anwalt
Aber auch die Verwicklungen des Rassismus in den Südstaaten beleuchtet Grimme Stunden auf den zweiten Blick durchaus sehr überzeugend. So erzählt Autorin Cep etwa in vielen Details über das politische Engagement von Tom Radney, das seiner Anwaltstätigkeit vorausging. Und die Strategie, mit der Konkurrenten (rassistische Southern Democrats) den engagierten Bürgerrechtler klein hielten, ist so einfach wie genial und wurde sicher nicht nur in diesem Fall angewandt: Man stellt einen dritten Strohmann auf, der den liberalen Kandidaten in die Stichwahl zwingt und versucht gar nicht erst, ihm Stimmen in schwarz dominierten Stadt- und Landesteilen abspenstig zu machen. Genau diese schwarzen Stimmen benutzt man dann im zweiten Wahlgang, um seinen weißen Sympathisanten Angst zu machen: Seht her, das ist der N-Wort Kandidat! Und das funktionierte wohl richtig gut, auch bei weißen Wählerinnen und Wählern, die sich selbst als antirassistisch bezeichnet hätten. Als Anwalt im Fall der Ermordung des Pfarrers bemüht sich Radney dann sogar selbst, eine komplett weiße Jury zusammengestellt zu bekommen, weil er auf die weißen Ängste vor dem schwarzen „Voodoo Pfarrer“ baut. (Man muss, glaube ich, nicht dazu sagen, dass es keine Beweise für Voodoo- Praktiken im Haus des Pfarrers gab. Der war einfach ein geschickter Spieler mit Versicherungspolicen und höchstwahrscheinlich ein sechsfacher Mörder).
Die Autorin der „Nachtigall“
Auch wenn Harper Lee im Prozess eigentlich keine Rolle spielte, ist das letzte Drittel des Buches eine lesenswerte Biografie der Autorin, die wie wenige andere hinter ihr Werk zurückgetreten ist. Die verschiedenen Stationen ihrer Freundschaft mit Truman Capote berühren, ebenso wie ihr kompliziertes Verhältnis zu ihrem einzigen Roman.
Also insgesamt eine klare Leseempfehlung. Dieses Buch wird im Verlauf immer fesselnder.
Obwohl natürlich etwas Wehmut bleibt: Man wünscht sich, Lee hätte den Roman doch geschrieben, den sie zum Thema geplant hatte. Aber was will man machen… Vielleicht schreibt Cep ihn ja.
Schreibe einen Kommentar