Zwischen Freiheitsdrang und Paternalismus. Russlands Dilemma aus historischer Perspektive

Die Massenproteste in der russischen Hauptstadt gegen die Nichtzulassung vieler regimekritischer Kandidaten zu den Moskauer Regionalwahlen stellen die im Westen verbreitete Sicht von einer tief verankerten Autoritätsgläubigkeit im russischen Nationalcharakter erneut in Frage. Dieses eindimensionale Russlandbild vieler Westeuropäer hat eine lange Vorgeschichte.


Schon der Jesuit Antonio Possevino, der im ausgehenden 16. Jahrhundert Russland besucht hatte, charakterisierte die Russen folgendermaßen: Dieses Volk sei dazu prädestiniert, in Sklaverei zu leben. Die Sklaverei scheine zu seiner zweiten Natur geworden zu sein.

Vergleichbare Thesen vertraten auch viele andere westliche Beobachter, bei ihren Versuchen, den russischen Nationalcharakter zu definieren. Ein Beispiel sollte genügen. Alexander Kerenski, der letzte Ministerpräsident der von den Bolschewiki im Oktober 1917 gestürzten Provisorischen Regierung, berichtet über ein Gespräch, das er 1923 mit einem der führenden deutschen Sozialdemokraten, Rudolf Hilferding, geführt hatte. Hilferding konnte nicht verstehen, warum die russischen Demokraten derart hilflos auf den bolschewistischen Staatsstreich reagiert hatten: „Das wäre (in Deutschland) nicht möglich (sic!)“, meinte der deutsche Politiker und fügte hinzu: „Ihr Volk ist nicht fähig in Freiheit zu leben“.

Das gespaltene Russland

Die Tatsache, dass Russland seit Beginn der Neuzeit unzählige Bauernaufstände und Revolten unterschiedlichster Art und im 20. Jahrhundert vier Revolutionen (so viele wie kein anderes größeres Land Europas) erlebt hatte, vermochte in keiner Weise dieses klischeehafte Russlandbild zu erschüttern. Warum werden all diese Beispiele des in Russland tief verankerten Freiheitsdranges von den Außenstehenden so wenig beachtet? Warum wird Russland in der westlichen Öffentlichkeit in der Regel nur als imperialer Obrigkeitsstaat wahrgenommen? Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass den russischen Verfechtern der Freiheit das Image der ewigen Verlierer anhaftet. Sogar in den Perioden, in denen sie im Lande regierten, blieben sie nicht allzu lange an der Macht. Bald wurden sie von ihren Kontrahenten abgelöst.

Die Tatsache, dass die Gegner eines paternalistischen und allmächtigen Staates nur für eine begrenzte Zeit ihre Triumphe in Russland feiern konnten, ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Idee der imperialen Größe und einer homogenen, durch ein einziges Ideal inspirierten Gesellschaft eine außerordentliche Faszination auf breite Teile der russischen Gesellschaft ausübte, und zwar seit Beginn der Neuzeit. Diese Idee hatte nicht zuletzt religiöse Wurzeln. An der Schwelle zur Neuzeit galt der Moskauer Staat vielen Russen als eine uneinnehmbare Festung der Orthodoxie, als das Dritte Rom eine Art Himmelreich auf Erden. Verkörpert wurde dieser Staat für die Verfechter solcher Doktrinen durch die Moskauer Herrscher. Besonders stark trug zur Verbreitung eines solchen Staatsverständnisses der Theologe Iosif Volotski bei, dessen 1504 entstandenes Werk „Der Aufklärer“ weite Verbreitung im Lande fand. Volotski entwickelte ein religiöses Ideal, in dem Ritual und äußere Frömmigkeit im Vordergrund standen. Dem orthodoxen Herrscher durfte der Gehorsam nur dann verweigert werden, wenn er gegen die so verstandenen Gebote Gottes verstieß:

„Dann (war) er kein Zar mehr, sondern ein Diener Satans. Dem Zaren (aber), derden Willen Gottes erfüllt, muss man wie Gott dem Allmächtigen gehorchen“.

Man darf allerdings nicht vergessen, dass die von Iosif Volotski geprägte politische Doktrin im Moskauer Staat keineswegs unangefochten war. Ihre Kritiker, in erster Linie der Mönch Nil Sorski und seine Anhänger, vertraten das Ideal einer inneren Frömmigkeit und lehnten eine allzu enge Anlehnung der Kirche an den Staat ab. Zwar setzten sich diese Gegner des „Iosifljanstvo“ (also der Lehre Volotskis) zunächst nicht durch, doch hörte die von ihnen vertretene freiheitliche Tendenz niemals auf, bestimmte Teile der russischen Gesellschaft zu inspirieren.

Die petrinische Revolution und ihre Folgen

Die Anlehnung Peters des Großen an westliche Entwicklungsmodelle zu Beginn des 18. Jahrhunderts verlieh dem ohnehin übermächtigen russischen Staat zusätzliche Macht und Effizienz. Aber auch die russischen Gegner des allmächtigen paternalistischen Staates erhielten neue Impulse für ihren Freiheitskampf. Sie begannen allmählich ähnliche Forderungen an die Herrschenden zu stellen wie die westlichen Völker dies bereits schon längere Zeit taten. Der Aufstand der Dekabristen vom Jahre 1825 stellte ein anschauliches Indiz dafür dar. Unter dem Einfluss der europäischen, vor allem der französischen Ideen sagten die Dekabristen der uneingeschränkten Selbstherrschaft den Kampf an und versuchten die russische Autokratie mit Hilfe einer verfassungsmäßig verankerten Gewaltenteilung zu zähmen.

Die Auflehnung der Dekabristen scheiterte zwar. Dessen ungeachtet dienten die Dekabristen als Vorbild für alle späteren Generationen der russischen Freiheitskämpfer.

Im Westen wurden diese innerrussischen Auseinandersetzungen jahrzehntelang kaum wahrgenommen. Man sprach dort ununterbrochen von der Autoritätsgläubigkeit, ja Sklavenmentalität der Russen. 18 Jahre nach dem Dekabristenaufstand schrieb Marquis de Custine in dem Bericht über seine Russlandreise, der unzählige Neuauflagen erlebte, Folgendes:

„Alles ist hier einstimmig, Volk und Regierung. (Ich) wundere mich, dass unter den (russischen) Stimmen auch nicht eine von dem allgemeinen Chor sich abtrennt, um zu Gunsten der Wahrheit gegen die Wundertaten der Autokratie zu protestieren. Man kann die Russen, die Großen wie die Geringen, von Sklaverei trunken nennen“.

Die revolutionäre Intelligenzija

Gerade zu der Zeit als diese Worte geschrieben wurden, begann sich in dem angeblich so autoritätsgläubigen Russland eine gesellschaftliche Formation zu entwickeln, die den Nonkonformismus und den Kampf gegen unantastbare Autoritäten jeglicher Art geradezu verkörperte – die revolutionäre Intelligenzija. Die Tatsache, dass der Begriff Intelligenzija in westliche Sprachen nicht übersetzbar ist und dort lediglich als Terminus technicus verwendet wird, zeigt, dass es sich bei der Intelligenzija um ein typisch russisches Phänomen handelt, das in anderen Ländern nur selten eine Entsprechung besaß. Die Unbedingtheit und Absolutheit, die den revolutionären Glauben der russischen Intelligenzija auszeichnete, seien im Westen praktisch unbekannt gewesen, so der Kölner Historiker Theodor Schieder.

Es gelang dieser zahlenmäßig recht unbedeutenden Gruppe, eine gewaltige Monarchie in ihren Grundfesten zu erschüttern und erheblich zu ihrem Sturz beizutragen. Dies ungeachtet der Tatsache, dass sie keinen Einfluss auf den Machtapparat und zunächst auch keine nennenswerte Verwurzelung innerhalb der Gesellschaft besaß, da sie die Entfremdung schlechthin verkörperte. Dessen ungeachtet prägte sie mit ihrem Glauben an die erlösende Kraft der Revolution jahrzehntelang den öffentlichen Diskurs in Russland. Der russische Philosoph Semen Frank schilderte im Jahre 1923, also einige Jahre bevor Antonio Gramsci sein Hegemonie-Modell entwickelte, die Folgen der Dominanz eines einzigen weltanschaulichen Lagers im öffentlichen Diskurs: Im Zarenreich, in dem der scheinbar allmächtige Staat das gesamte politische Geschehen im Lande zu kontrollieren suchte, war die Öffentlichkeit in einer ähnlich autokratischen Manier von den Gegnern der zarischen Autokratie beherrscht worden. In der dichotomischen Welt der Verfechter der Revolution galt, „die (damals) existierende politische Ordnung …als die einzige Quelle des Bösen“, so Frank. Diejenigen, die diesen Glauben nicht teilten, wurden geächtet und in die Kategorie der „Feinde des Volkes“ eingereiht, setzt Frank seine Gedankengänge fort.

Slawophile und Panslawisten

Nun einige Worte zu den innerrussischen Kritikern der politischen Vorstellungen der revolutionären Intelligenzija. Während sich die Intelligenzija an westliche, vor allem an materialistische und sozialistische Ideen anlehnte, lehnten ihre national gesinnten Kontrahenten innerhalb der russischen Bildungsschicht den Westen radikal ab und plädierten für einen eigenen russischen Entwicklungsweg. Mit besonderer Vehemenz kritisierte die in den 1830er Jahren entstandene slawophile Partei die Anlehnung Russlands an westliche Entwicklungsmodelle. Westliche Wertvorstellungen wurden auch von den Panslawisten in Frage gestellt, deren Standpunkt sich jedoch grundlegend von demjenigen der Slawophilen unterschied. Die kontemplativ veranlagten Slawophilen betrachteten den Staat als solchen sehr skeptisch. Ihr wichtigstes Anliegen war die religiöse Erneuerung der Nation. Die Panslawisten hingegen verklärten den imperialen Gedanken und die russische Autokratie. Für sie war die Errichtung eines Allslawischen Reiches unter russischer Führung das vorrangige Ziel. Eine besondere Resonanz erzielte die panslawistische Ideologie in Russland während des Russisch-Türkischen Krieges von 1877/1878, den der Göttinger Historiker Reinhard Wittram als den ersten und einzigen panslawistischen Krieg Russlands bezeichnete. Ausgelöst wurde dieser Krieg durch eine brutale Unterdrückung des südslawischen Aufstandes durch die Osmanen. Viele russische Publizisten verknüpften mit diesem Krieg Hoffnungen auf eine Erneuerung des Landes und auf eine Eindämmung der revolutionären Gefahr, die Russland damals zu destabilisieren drohte. Mit besonderem Nachdruck vertrat diese Hoffnung Fjodor Dostojewski. Den russischen Kriegsgegnern und den westlichen Widersachern schleuderte er entgegen:

„Sie übersahen das ganze russische Volk als lebendige Kraft und übersahen die kolossale Tatsache: das Einssein des Zaren mit dem Volk“.

Es ist erstaunlich, wie sehr der Visionär Dostojewski, der in seinem literarischen Werk mit solch treffender Schärfe die Tragödien des 20. Jahrhunderts vorausgesehen hatte, in seinem publizistischen Werk den Entwicklungen der Gegenwart hinterherhinkte. Er ließ sich durch die Fassade der nationalen Geschlossenheit, die den Krieg von 1877/78 begleitete, täuschen und übersah das tatsächliche Ausmaß der damaligen Zerrissenheit der Nation. Vier Jahre nachdem Dostojewski vom „Einssein des Zaren mit dem Volk“ gesprochen hatte, wurde Alexander II., der wohl liberalste Zar der neuesten russischen Geschichte, durch die Terroristen aus der Organisation „Narodnaja Wolja“ ermordet. Der Prozess der Polarisierung der russischen Gesellschaft trat nach dem siegreichen Krieg über die Türkei in eine noch radikalere Phase ein.

Der Paradigmenwechsel im Weltbild der Intelligenzija

Das nationale Prestige des eigenen Staates spielte zunächst für die revolutionäre Intelligenzija so gut wie keine Rolle. Die außenpolitischen Rückschläge der Zarenmonarchie wurden von manchen regimekritischen Gruppierungen im Lande sogar begrüßt. Dies zeigte sich insbesondere während des Russisch-Japanischen Krieges von 1904/1905. Erst nach der Niederlage des Zarenreiches in diesem Krieg fand in den Reihen der russischen Intelligenzija eine Art nationale Renaissance statt. Das Plädoyer des einflussreichen russischen Publizisten Petr Struve für Russland als Großmacht, das sich in seinem 1908 veröffentlichten Artikel „Großrussland“ spiegelte, stellte ein besonders klares Indiz hierfür dar. Mit dieser nationalen Renaissance ist auch die Tatsache verbunden, dass große Teile der russischen Intelligenzija nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, ähnlich wie die Bildungsschichten Deutschlands, Frankreichs oder Großbritanniens von einem patriotischen Taumel erfasst wurden. Defätistische Stimmungen stellten jetzt innerhalb der russischen Bildungsschicht, anders als zurzeit des Russisch-Japanischen Krieges, ein Randphänomen dar und beschränkten sich lediglich auf die Bolschewiki und einige andere linksradikale Gruppierungen.

Land oder Freiheit?

Auf die russischen Unterschichten hatte sich indes diese nationale Wende der Eliten nicht ausgedehnt. Der Erste Weltkrieg wurde von ihnen nicht als „Vaterländischer Krieg“ erlebt. Dies ungeachtet der Tatsache, dass Russland nach dem Sturz des Zaren im Februar/März 1917 zu dem „von allen Krieg führenden Ländern freiesten Land der Welt“ wurde (Lenin). Die Mehrheit der russischen Soldaten, bei denen es sich in der Regel um „Bauern in Uniform“ handelte, war nicht an der Verteidigung der im Februar 1917 entstandenen „ersten“ russischen Demokratie vor ihren außen- und innenpolitischen Feinden, sondern vor allem an der Abrechnung mit ihren innenpolitischen Gegnern, den Gutsbesitzern, interessiert. Und diese ihre Entscheidung sollte verhängnisvolle Folgen für Russland haben – die Nemesis der Geschichte ließ nicht allzu lange auf sich warten. Bald nach dem Verlust der Freiheit, sollten die Bauern, und zwar infolge der 1929 begonnenen Stalinschen Kollektivierung der Landwirtschaft auch ihr Land verlieren:

„Jetzt entscheidet sich das Schicksal Russlands vielleicht für die nächsten Jahrhunderte“, schrieb zu Beginn der Kollektivierung der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow: „Wenn es dem Volk nicht gelingen sollte, in dieser entscheidenden Schlacht seine Interessen zu wahren, wird es aufhören, Subjekt der Geschichte zu sein“.

Diese entscheidende Schlacht hatte die russische Bauernschaft bekanntlich verloren. Trotz ihres verzweifelten Widerstandes war sie nicht imstande gewesen, das Regime in seine Schranken zu weisen. Diese Niederlage erklärt Fedotow in erster Linie mit der mangelnden Bereitschaft der russischen Volksschichten, ihre Freiheit, z.B. die von ihnen Ende 1917 gewählte und von den Bolschewiki gewaltsam zerschlagene Konstituante zu verteidigen. Nach der Beseitigung der Intelligenzija mit ihrem beinahe religiösen Freiheitspathos habe es in Russland so gut wie keine Gruppierung mehr gegeben, die bereit gewesen wäre, um die Freiheit zu kämpfen, so Fedotow.

Die sowjetische Bürgerrechtsbewegung vs. revolutionäre Intelligenzija

Dieses von Fedotow so vermisste Freiheitspathos sollte erst mit der Entstehung der sowjetischen Bürgerrechtsbewegung Mitte der 1960er Jahre in Russland bzw. in der UdSSR erneut wirksam werden. Knüpften die Bürgerrechtler damit an die Tradition der revolutionären Intelligenzija im Zarenreich an? Diese gelegentlich vertretene These lehnten führende Bürgerrechtler ab. Sie distanzierten sich bewusst von ihren angeblichen Vorläufern, vor allem aber von deren Ideologie. So lehnten sie die für die Intelligenzija typische Verklärung der Revolution ab und waren nicht bereit, Gewalt für das Erreichen von hehren Zielen anzuwenden. Dessen ungeachtet bestanden, trotz der programmatischen und mentalen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen,durchaus Parallelen zwischen ihnen. Zu den Eigenschaften, die für beide charakteristisch waren, gehörten ihr moralischer Rigorismus, ihre Opferbereitschaft und, last but not least, ihr Freiheitsdrang. In einem unfreien Land hätten sich die Bürgerrechtler wie freie Menschen verhalten, so einer der führenden Vertreter der Bürgerrechtsbewegung Andrej Amalrik.

Direkt waren die Bürgerrechtler nicht imstande, ihre Ziele zu verwirklichen, alle ihre organisatorischen Strukturen wurden bereits Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre zerschlagen. Als ihr nachträglicher Sieg kann jedoch die Tatsache gelten, dass das Gorbatschowsche „Neue Denken“ sich in manchen Punkten, ob bewusst oder unbewusst, an die von den Bürgerrechtlern entwickelten Denkmodelle anlehnte. Und dadurch löste der Generalsekretär des ZK der KPdSU ungewollt eine der größten Umwälzungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts aus.

Von der Moskauer Augustrevolution bis zur „gelenkten Demokratie“ Wladimir Putins

Im August 1991 scheiterte der Versuch der Moskauer Dogmatiker, das Rad der Geschichte mit Gewalt zurückzudrehen. Dies ungeachtet der Tatsache, dass sie beinahe alle Machthebel im Staate unangefochten kontrollierten und ihre demokratischen Widersacher um Boris Jelzin praktisch wehrlos waren. Dies lag nicht zuletzt daran, dass  so gut wie niemand in der damaligen UdSSR mehr an die kommunistische Utopie von der „lichten Zukunft“ glaubte. In der Auseinandersetzung zwischen der unpopulären Macht und der machtlosen Popularität erwies sich die letztere als überlegener Sieger. Aber etwa zwei Jahre später verspielten auch die siegreichen Demokraten weitgehend ihr Vertrauenskapital. Erneut meldeten sich damals Skeptiker zu Wort, die meinten, solche europäischen Werte wie Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit ließen sich nur in begrenztem Ausmaß auf Russland übertragen, weil die politische Kultur Russlands durch andere Werte geprägt sei. In Wirklichkeit hatte die Erosion der im August 1991 errichteten „zweiten“ russischen Demokratie nur begrenzt mit dem „russischen Nationalcharakter“ zu tun. Eine viel wichtigere Rolle spielte hier das schwere totalitäre Erbe, dessen Überwindung, wie die Erfahrung zeigt, mehrerer Anläufe bedarf.

Wladimir Putin profitierte zunächst von der Erosion sowohl des kommunistischen als auch des demokratischen Gesellschaftsentwurfs, die in Russland kurz nacheinander erfolgten. In das nun entstandene weltanschauliche Vakuum stieß das Putinsche System mit der Hervorhebung des Law-and-Order- Prinzips und einer bescheidenen Anhebung des Lebensstandards der Bevölkerung dank der vorübergehend hohen Preise für die Energieträger. Aus all diesen Gründen war das unter Putin entwickelte System der „gelenkten Demokratie“ zunächst durchaus populär. Dennoch waren die demokratischen Ideen, die Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre das Land bis zur Unkenntlichkeit verändert hatten, trotz ihrer scheinbaren Diskreditierung, aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein keineswegs verschwunden. Man hat dies in den letzten Jahren immer wieder erlebt. So im Dezember 2011 als es zu Massenprotesten gegen massive Manipulationen bei den Wahlen zur Staatsduma kam, oder im Frühjahr 2012 im Zusammenhang mit der damaligen Präsidentenwahl. Erst die nationale Euphorie, die Russland infolge der Annexion der Krim im März 2014 erfasste, führte zu einer erneuten Steigerung der Popularität des russischen Präsidenten. Die eingangs erwähnten Massenproteste gegen die Nichtzulassung vieler regimekritischer Kandidaten zu den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament zeigen indes, dass der Krim-Faktor bei den innenpolitischen Auseinandersetzungen im Lande eine immer geringere Rolle spielt. Dies wird auch anhand der vor kurzem durchgeführten Umfragen bestätigt, worauf z.B. der Petersburger Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Michail Dmitrijew in seinem Interview für die Zeitung „Moskowskij Komsomolez“ vom 4. August hinweist: „Die (Krim-Problematik) hat ihre Aktualität im Grunde verloren“, so lautet das Fazit Dmitrijews.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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