Das Märchen vom Alkoholiker, der nur sich selbst schädigt

Saufen verursacht deutlich mehr externen Schaden als das weltweit verfemte Passivrauchen. V.a. Co-Abhängige und Opfer häuslicher Gewalt können davon ein trauriges Lied singen. Neue Alkohol-Kolumne vom regelmäßigen AA-Besucher Henning Hirsch.

Bild von ELG21 auf Pixabay

Ein Lieblingsmärchen aller Säufer lautet: „Mit dem Trinken schade ich ja bloß mir selbst.“ In leichter Abwandlung aus Politikermund klingt das dann so: „Selbstschädigung liegt in der Eigenverantwortung jedes Einzelnen.“

Hört sich erst mal gut an, ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn wie beim Nikotin gibt es ebenfalls beim Alkohol unschuldige Opfer zu beklagen: nämlich all diejenigen, die von beschwingten Weihnachtsmarktbesuchern, die sich benebelt ans Steuer ihres SUVs setzen, nachts auf einsamer Landstraße übergemangelt oder die vom unter Weizenkorneinfluss zu Gewalt neigenden Lebenspartner ins Krankenhaus geprügelt werden – um von all den sich in psychologischer Behandlung befindenden Co-Abhängigen gar nicht erst zu reden. Dass Bier und Schnaps einzig den Trinker selbst schädigen, ist eine fromme Legende, die wie ein Mantra von Alkoholindustrie und Pseudoliberalen stets aufs Neue beschworen wird, sobald jemand aufgrund der klar ersichtlichen Missstände vorsichtige Regulierungsschritte anregt, die dazu dienen sollen, den exzessiven Konsum wenigstens partiell einzudämmen.

Mal völlig losgelöst vom Aspekt, dass wir Junkies das Recht auf eigenverantwortliche Gesundheitsdemontage nicht zugestehen, sondern bei harten Drogen von Anfang an streng regulierend eingreifen, soll uns die obige Falschbehauptung – denn um nichts anderes handelt es sich dabei – weismachen, dass die negativen Konsequenzen des Alkohols einzig der Trinker zu spüren bekommt, weshalb Warnhinweise und Einschränkungen, wie wir sie beim Tabak gewöhnt sind, nicht notwendig seien. Denn der Nikotinabhängige teert ja nicht nur alleine seine Lunge, sondern verqualmt ebenfalls seine Umwelt (Passivrauchen), weshalb Verbote bei Zigaretten & Co. durchaus Sinn ergäben.

Nun sagt niemand, dass ein an einer Cola nuckelnder Gast durch Geruch oder Anblick eines bunten Cocktails, der am Nachbartisch serviert wird, körperliche Schäden davonträgt. Es könnte zwar theoretisch passieren, dass der Cola konsumierende Gast ein trockener Alkoholiker ist, der durch den Anblick des Cocktails dermaßen getriggert wird, dass er noch am selben Abend einen Rückfall erleidet. Aber das ist zum einen ein Spezialfall und zum anderen muss sich der trockene Alkoholiker ja nicht abends in ein Lokal setzen, in dem alkoholische Getränke ausgeschenkt werden. Fällt in die Rubrik:ein bisschen Risiko ist immer.

Unfälle und Straftaten unter Alkoholeinfluss

Was aber ist eigentlich mit den – gar nicht so seltenen – alkoholverursachten Kollateralschäden wie Verkehrsunfällen, körperlicher Gewaltanwendung/häuslicher Gewalt und psychischem Dauerstress, der auf Verwandte und Freunde ausgeübt wird? Sind das vernachlässigbare Problemfelder, weil die Fallgrößen so gering sind?

Fallgruppe Anzahl
Alkoholbedingte Verkehrsunfälle mit Sach- und/oder Personenschaden 36.000 (davon 4.600 schwerverletzte Personen und knapp 250 Getötete)
Straftaten unter Alkoholeinfluss (nur die zur Anzeige gelangten Delikte) 222.000 (davon rund 800 Tötungen)
alkoholbedingter Stress von  Familienangehörigen k. A.
zum Vergleich: Todesopfer aufgrund von Passivrauchen (koronare Herzkrankheit,Schlaganfall, Lungenkrebs) 3.000

Quellen: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V., Bundeskriminalamt, Statistisches Bundesamt, WHO (Welt-Tabak-Bericht)

Auch wenn sich die Angaben nicht eins zu eins vergleichen lassen, so zeigt sich doch, dass die Zahlen der externen Alkoholgeschädigten diejenigen der Passivrauch-Opfer deutlich überschreiten, was zu der Frage führt, weshalb diese beiden Problemfelder derart unterschiedlich behandelt werden. Ist ein Kirmesbesucher,der von einem aufgrund zwei Promille völlig enthemmten Dorf-Rambo einen Bierkrug über den Schädel gezogen bekommt, weniger schützenswert als ein Restaurantgast, dem der Rauch einer Zigarette vom Nachbartisch in die Nase steigt?

Co-Abhängige: Oft noch ärmer dran als der Trinker

Was ist vor allem mit der Schutzwürdigkeit der geschätzt acht bis zehn Millionen Co-Abhängigen? Denn diese bedauernswerte Gruppe ist andauerndem psychischen Stress bis hin zu körperlicher Gewaltanwendung ausgesetzt. Co-Abhängigkeit stellt außerhalb von Fachkreisen ein immer noch stark vernachlässigtes Thema dar, obwohl sie aufs Engste mit der Sauferei verwoben ist. Die wissenschaftliche Definition für das traurige Phänomen lautet: „Bezugsperson eines Betroffenen, die durch ihr Verhalten – aktives Tun und/oder Unterlassen – die Sucht des Erkrankten zusätzlich fördert und darüber hinaus unter der Situation leidet. Dies kann im Extremfall soweit gehen, dass der Co-Abhängige selbst süchtig wird.“

Diese hinsichtlich Verbreitungsgrad und Schwere häufig unterschätzte seelische Erkrankung wird in drei Phasen eingeteilt:
1. Nachsicht: Verständnis, Zuwendung durch Aufmerksamkeit, Verdrängung, Ermunterung zur Selbstdisziplin, Empfehlung, doch mal einen Psychologen aufzusuchen, um über das Problem zu sprechen
2. Vertuschen: Verheimlichung und Verharmlosung gegenüber Verwandten und Freunden, der Partner übernimmt Aufgaben des immer häufiger handlungsunfähigen Trinkers, uferlose Diskussionen, die jedes Mal ohne konkretes Ergebnis enden
3. Überwachung: Beobachtung, Kontrolle, Streit und gegenseitige Aggression nehmen zu, Verachtung

Die Extremform der Co-Abhängigkeit besteht im Erdulden häuslicher Gewalt. Welcher Patient kennt sie nicht: die bei jedem Wetter auch in geschlossenen Räumen sonnenbebrillten Ehefrauen, die ihre Aggro-Männer, die im Moment aufgrund von 20 Distra im Magen-Darm-Trakt ausnahmsweise mal friedlich vor sich hin dämmern, in der Klinik besuchen, wo sie ihnen tränenreich verzeihen, anstatt wortlos die Adresse des Scheidungsanwalts auf eine Papierserviette zu schreiben und wieder zu gehen? Wenn die mit Hämatomen übersäte Ehefrau nicht sogar in der Nachbarstation ebenfalls einen Entzug durchläuft. Ungefähr ein Zehntel der weiblichen Patienten in Suchtkliniken wird mit Prellungen und Schürfwunden eingeliefert. Ein Teil der Opfer findet den Weg ins Krankenhaus alleine, andere werden von Freundinnen begleitet, in schlimmen Fällen eskortiert von der Polizei.

Nun läuft folgende Dramaturgie ab: Am ersten Tag schütten die Frauen ihr Herz aus. Die traurige Geschichte der andauernden Prügelorgie wird Ärzten, Pflegepersonal und Mitpatienten erzählt. 24 Stunden später, wenn der erste Schock abflaut, gibt’s die Story bereits in abgemilderter Version zu hören: „Na ja, so schlimm, wie es gestern aussah, war es dann doch nicht. Horst-Jürgen – mein Mann – ist eigentlich ein herzensguter Kerl. Ihm rutscht halt hin und wieder die Hand aus.“ An Tag 3 wird schließlich diese Erklärung nachgeschoben: „Ich bin eigenverschuldet die Treppe runtergefallen.“ Zwei Stunden später sitzt Horst-Jürgen händchenhaltend mit der nach wie vor arg lädiert aussehenden Lebensgefährtin im Aufenthaltsraum und hat ihr als Wiedergutmachungspräsent ein Stück Käsekuchen mitgebracht.

Ich habe mich oft gefragt: Warum tun die das? Weshalb versauen sich diese Frauen ihr Leben mit einem trinkenden, prügelnden und offenkundig therapieunwilligen Kerl? Welche Stufe des Masochismus muss man erreicht haben, um sich diesem Psychoterror freiwillig jahrelang auszusetzen? Nachdem mich die Berichte anfangs fassungslos zurückließen, gewöhnte ich mich mit der Zeit daran und begriff, warum Staatsanwaltschaft, Psychologen und Sozialarbeitern im Falle der unterbleibenden Strafanzeige die Hände weitgehend gebunden sind. Die Rollen in dieser Tragödie sind klar verteilt: Mann schlägt, Frau erduldet. Die umgekehrte Variante existiert zwar ebenfalls, ist aber nur sehr selten anzutreffen. Alkoholisierte Frauen neigen eher zu verbaler denn zu körperlicher Gewaltanwendung.

Psychologen weisen auf fünf Frühindikatoren später möglicher häuslicher Gewalt hin:
1. Generelle Einstellung: Der Partner äußert sich häufig respektlos und herablassend über Frauen.
2. Eifersucht: Harmlose Flirts werden zu Staatsaffären aufgebauscht.
3. Kontrollwahn: Er will – bis ins Detail hinein – für sie entscheiden und über alles informiert werden.
4. Isolation: Er separiert die Partnerin von Familie, Freunden und Arbeitskollegen.
5. Gewalt gegenüber Sachen: Wenn er zornig wird, zerstört er Einrichtungsgegenstände etc. und will sie durch dieses Verhalten einschüchtern.

Die Droge ist dann bloß noch der Brandbeschleuniger, um die angestaute Wut explodieren zu lassen und in physische Gewalt zu verwandeln.

Stereotype Entschuldigungsmuster am Tag danach:
• „Ich hatte zu viel getrunken. Nüchtern passiert mir das nicht.“
• „Jetzt übertreibst du aber. So schlimm war das gestern doch gar nicht.“
• „Ich kann mich an überhaupt nichts mehr erinnern.“

Das Problem ist allerdings mehrschichtig. Vereinfacht ausgedrückt lassen sich drei Opfertypen unterscheiden:
1. Ist sich darüber im Klaren, dass häusliche Gewalt ein wiederkehrendes Phänomen darstellt und es bei nächster Gelegenheit erneut passieren wird; sucht aktiv nach einem Ausweg.
2. Wie 1., allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass aufgrund falsch verstandener Loyalität und/oder Sorge vor dem finanziellen Absturz der Verbleib in der Beziehung als das geringere Übel angesehen wird; oft auch Angst davor, dass der verlassene Partner nun richtig aufdreht.
3. Hat die Gewalt akzeptiert und entwickelt ihrerseits unter Alkoholeinfluss sogar den Wunsch, periodisch verprügelt zu werden.

Externe Unterstützung ist für die Gruppen 2. und 3. nur sehr schwer möglich, weshalb diese Frauen mit steter Regelmäßigkeit in den Kliniken aufschlagen.

Wie schützt man sich und seine Kinder?

Je länger der Partner die Trinkexzesse toleriert, desto schwieriger wird es, die Geisterbahnfahrt aus eigener Kraft zu stoppen. Denn auch an den Zustand der Co-Abhängigkeit kann man sich gewöhnen.

Was sollte man vernünftigerweise tun, um Schaden von sich selbst – und Kindern, die es ja auch oft gibt – abzuwenden? Spätestens zum Zeitpunkt der Weigerung, sich mit einem Psychologen über das Problem auszutauschen, muss mit Konsequenzen gedroht werden: „Ich ziehe aus und nehme die Kleinen mit!“ Den Trinker aus dem Haus zu bekommen, gestaltet sich zumeist schwierig. Er wird es nicht einsehen, ständig anrufen, vor der Tür stehen bis hin zum Stalking. Mitleid ist das falsche Rezept. Er kann ja gegensteuern, den Konsum reduzieren (besser: komplett stoppen), ärztlichen Rat einholen, sich in therapeutische Behandlung begeben. Falls er das selbstständig nicht auf die Reihe bekommt, existieren zwei Erklärungsansätze für das Versagen: entweder will er nicht oder die Krankheit ist bereits so weit fortgeschritten, dass es ihm nicht mehr möglich ist, auf die Bremse zu treten. Im zweiten Fall hilft eh nur ein Entzug mit professioneller Unterstützung, der jedoch nur dann erfolgreich sein wird, wenn sich Reha und der Besuch einer Selbsthilfegruppe anschließen.

Die falsche Herangehensweise ist es, dem Trinker ein schönes Zuhause anzubieten, wo er sich jeden Abend gemütlich volllaufen lassen kann. Das bisschen Stress am nächsten Morgen, „Boah, was warst du gestern wieder betrunken. Denk doch auch mal an mich und die Kinder!“, steckt er locker weg, weil er weiß, dass nichts weiter passieren wird. Alkoholiker sind Egoisten, die alles und jeden ihrer Sucht unterordnen. Allerdings benötigt ein Großteil von ihnen ein halbwegs intaktes familiäres Umfeld, denn der Säufer ist labil und hat große Angst vor dem Alleinsein. An dem Tag, an dem dies alles wegzubrechen droht, schaffen es einige in letzter Sekunde doch noch, den Richtungswechsel herbeizuführen; den anderen ist von Verwandten und Freunden sowieso nicht zu helfen.

Wer als Partner eines Süchtigen nicht in die Co-Abhängigkeit geraten will, ist also, solange der Erkrankte keine Anstalten macht, die Situation von sich aus zu verändern, gut beraten, die Koffer zu packen und das gemeinsame Haus des Elends – ohne Rückfahrkarte – zu verlassen. Die Erfahrung lehrt: Es wird schlimmer und nicht besser. Bis hin zu häuslicher Gewalt. Co-Abhängige, die bleiben, sind immer gefährdet, selbst in die Sucht abzurutschen. Zudem steigt bei ihnen das Risiko stark an, an Angstattacken, depressiven Schüben, Selbstzerstörungstrieb und Ähnlichem zu erkranken. Wie eine co-abhängige Bekannte es mir einmal erklärte: „Mein Mann hat den Alkohol im Blut, ich im Kopf. Ich kann kaum noch an was anderes denken.“

Nach dem Lesen der obigen Zeilen sollte klar geworden sein, dass es sich beim Saufen keineswegs um pure Selbstschädigung eigenverantwortlich entscheidender, volljähriger Bürger handelt, die uns andere – und vor allem den Staat – nicht zu interessieren hat, sondern die kollateralen Verheerungen, die Schnaps und Bier anrichten, teilweise viel dramatischer ausfallen als beim Passivrauchen. 36 000 alkoholbedingte Verkehrsunfälle plus rund 40 000 schwere und gefährliche im Rausch begangene Körperverletzungen pro Jahr deutschlandweit zuzüglich ungezählter psychischer Co-Abhängigkeitswracks führen ganz deutlich vor Augen, dass das Mantra „Lasst die Trinker ungestört trinken“ Unfug bis hin zu grob fahrlässig ist.

MERKE
Der Trinker lebt nicht alleine im Wodka-Universum. Es existieren neben ihm noch die beiden Gruppen „Opfer von alkoholbedingten Verkehrsunfällen und Straftaten“ sowie die „Co-Abhängigen“. Großen Schaden richtet der Alkohol bei allen dreien an.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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