Wie E.A. Poe zu Schmerzmitteln kam

Henning Hirsch hat die neue Netflix-Serie „Der Untergang des Hauses Usher“ geschaut und sagt: Die Konzentration auf 1 Erzählung wäre besser gewesen, als 8 Geschichten miteinander zu verknüpfen. Als Leichte-Grusel-Weihnachtsunterhaltung dennoch geeignet.

Bild von ArtSpark auf Pixabay

Es gab eine Zeit, in der ich Poe sehr gerne las: das geschah Mitte der 80-er Jahre, und ich war Student des recht trockenen Fachs Betriebswirtschaftslehre. Die Erzählungen dieses Autors eigneten sich hervorragend, um mich abends, sobald ich die langweiligen Lehrbücher zugeklappt hatte, mit Schauergeschichten zu zerstreuen und anschließend leichtem Gruselgefühl in den Schlaf zu wiegen. Hin und wieder legte ich dazu „Tales of Mystery and Imagination“ von Alan Parsons Project auf, um die düstere Stimmung, die „Der Rabe“ und „Das verräterische Herz“ verströmten, musikalisch zu verstärken. Nach ein paar Monaten kannte ich sämtliche Geschichten und Gedichte aus dem Poe-Universum und wandte mich anderen Schriftstellern zu. Als mich Monate später eine fiebrige Erkältung für einige Tage ins Bett zwang, begann ich von vorne mit „Die Maske des roten Todes“ und „Die Grube und das Pendel“. Nun passierte allerdings Folgendes: Die Figuren der Erzählungen verfolgten mich in meine Träume. Nassgeschwitzt schreckte ich mitten in der Nacht hoch, der Puls schlug wild, und auf dem Schreibtisch saß ein großer Rabe, der mich aus leuchtendroten Augen anstarrte [allerdings nicht mit mir redete]. Morgens fühlte ich mich völlig gerädert, der Appetit versagte, ich las abwechselnd Poe, dämmerte vor mich hin und hörte laut und deutlich das Schlagen eines Herzens in der Wand. Natürlich lag das vor allem am Fieber, das mich Spukgestalten sehen ließ, die aus den dunklen Räumen des Bewusstseins, wo sie seit Beendigung meiner Kindheit eingeschlossen waren. nach draußen drangen, um mich zu ängstigen und wegen meiner körperlichen Schwäche zu verhöhnen. Jedoch schien mir auch Baltimores berühmter Sohn an meinem desolaten Zustand nicht ganz unschuldig zu sein. Als ich nach 1 Woche wieder halbwegs genesen war, beschloss ich deshalb 2er-lei: im Winter nie mehr ohne Mütze & Schal das Haus zu verlassen und mit Gruselgeschichten fürs Erste zu stoppen.

Auf Empfehlung eines Facebook-Bekannten zappte ich vergangene Woche in die Netflix-Miniserie „Der Untergang des Hauses Usher“ rein. Hier mein Eindruck:

Der Teufel: zur Abwechslung eine attraktive Frau

Die Geschichte im Schnelldurchlauf:

1962: Die Zwillingsgeschwister Madeline und Roderick Usher wachsen in einer amerikanischen Vorortsiedlung auf. Die alleinerziehende Mutter Eliza arbeitet als Sekretärin beim größten Arbeitgeber der Region – Fortunato Pharmaceuticals. Für ihren Chef erledigt sie nicht nur Schreibarbeiten, sondern steht ihm auch außerhalb des Büros für andere Dienstleistungen zur Verfügung. In der Firma munkelt man deshalb, dass Madeline & Roderick aus dieser unschicklichen Beziehung stammen. Eliza erkrankt eines Tages an Demenz, ist nicht mehr arbeitsfähig, vegetiert zu Hause eine Zeit lang vor sich hin, bevor sie stirbt. Ihr ehemaliger Chef – und wahrscheinliche Vater der Kinder – lehnt jegliche Verantwortung für die Geschwister ab. Als Eliza im Himmel (oder der Hölle) davon erfährt, entsteigt sie ihrem Grab und tötet den Liebhaber vor den Augen ihrer beiden Kinder.

1979: Roderick ist verheiratet und arbeitet in subalterner Position bei Fortunato. Madeline hat sich selbständig gemacht und versucht ihr Glück in der jungen Computer- & Softwarebranche. In der Silvesternacht begehen die beiden gemeinsam einen Mord, gehen danach in eine Bar auf einen Absacker und begegnen dort dem Teufel, der zur Abwechslung mal weiblich und hübsch ist (Carla Gugino). Der Höllenfürst (m/w/d) unterbreitet ihnen ein verlockendes Angebot = Übernahme des Pharmakonzerns und „ewiger“ Reichtum. Als Kompensation verlangt er nicht die Seelen der beiden Zwillinge, sondern die Auslöschung von deren Blutlinie in „ferner“ Zukunft.

2023: Gegen Fortunato laufen zahlreiche Gerichtsverfahren wegen gefälschter Testreihen, der Bestechung von Prüforganisationen, Politikern & Ärzten sowie der grob fahrlässigen Tötung zehntausender Patienten. Die Ermittlungen leitet Staatsanwalt Auguste Dupin, seit vielen Jahren erbitterte Widersacher der Ushers, die es als Pharma-Dynastie mittlerweile zu einem Milliardenvermögen gebracht haben. Bisher perlen sämtliche Anschuldigungen am Familien-Clan ab. Das Geschäft mit den Schmerzmitteln läuft reibungslos. Die Ushers scheinen mit legalen Mitteln unbesiegbar zu sein. Während der heißen Phase des Prozesses beginnt plötzlich das große Sterben von Rodericks Kindern [er hat 6 von 5 Frauen]. Handelt es sich um tragische Unglücksfälle, oder steckt was anderes dahinter? Den Firmenchef plagen Visionen, in denen er von seinen toten Töchtern & Söhnen heimgesucht wird. Hirngespinste aufgrund seiner beginnenden Demenz oder doch „real“? Und wer ist die geheimnisvolle Frau, die jedes der Kinder kurz vor deren Tod aufsuchte? Roderick lädt nun Lieblingsfeind Dupin in sein verfallenes Elternhaus zu einem 4-Augengespräch ein und erzählt dem Staatsanwalt bei 1 Flasche sündhaft teurem Cognac die Geschichte des Hauses Usher. Dabei tauchen immer wieder unvermutet Geister der Vergangenheit auf, und aus dem Keller ertönen ständig lauter werdende Geräusche.

Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden.

Mal mehr, mal weniger vom Original entfernt

Episode 1 „Mitternacht, von Gram umschattet“ [so beginnt: „Der Rabe“] startet etwas zäh: Roderick sitzt zu fortgeschrittener Stunde Dupin gegenüber, trinkt Cognac und erzählt und erzählt. Der Ermittler fungiert hier – wie auch die weiteren Folgen – überwiegend passiv als Zuhörer, dem hin und wieder eine Zwischenbemerkung gestattet ist. Sein Namensvetter in „Mord in der Rue Morgue“ schien mir aktiver und cleverer gewesen zu sein. Die Monologe des Usher-Patriarchen wirken leicht ermüdend, hierin dem von Fortunato vertriebenen Schmerzmittel Ligodon nicht unähnlich. Ich war geneigt, nach 45 Minuten schon wieder aus der Serie auszusteigen: zu viel tell, zu wenig show. Auf Anraten des o.g. Facebook-Kumpels, „es wird spannender“, blieb ich jedoch dran und wurde angenehm überrascht – jetzt nahmen die bisher diffusen Gestalten der Familie allmählich Gestalt an, und vor allem begann das Sterben. Denn was taugt eine Horrorserie schon groß, wenn darin nicht auch gestorben wird?

Die einzelnen Folgen – jeweils mit der Überschrift einer Poe-Erzählung versehen – halten sich mal mehr und mal weniger an die Ursprungsgeschichten. So erkennt man in „Die Maske des roten Todes“ und „Das verräterische Herz“ unschwer die Handschrift von Baltimores bekanntestem Sohn, während „Der schwarze Kater“ und „Der Goldkäfer“ sich doch sehr weit vom Original entfernen. Gemeinsam ist den Episoden 2 bis 7 = an jedem Ende gibt’s 1 Kind weniger. „Der Untergang des Hauses Usher“ dient dabei einzig als Klammer, die Zwillinge Madeline & Roderick werden vom früh-viktorianischen England an die amerikanische Ostküste der Jetztzeit teleportiert, und anstatt in einem alten Schloss leben sie in teuren Villen und fungieren als CEOs zweier erfolgreicher Unternehmen. Dass es für die beiden ebenfalls nicht gut ausgeht, fällt nicht in die Kategorie „übles Spoilern“ – bei Poe geht es nie gut aus. Reingerührt in die letzte Folge wurde noch „Der Rabe“:

Als ich einst zur Geisterstunde, leidend an der Lebenswunde,
überdachte alter Kunde Weisheit, alter Weisheit Lehr’,
als ich, schläfrig, kaum vermochte, länger wachzubleiben, pochte
an die Tür es leise, pochte sanft wie einer Magd Begehr.
„Oh, da kommt noch ein Besucher“, dachte ich, „wo kommt er her,
– in der späten Nacht noch her?“

Das Finale dann dem Original entsprechend:

Wie verfolgt entfloh ich aus diesem Gemach und diesem Hause. Draußen tobte das Unwetter in unverminderter Heftigkeit, als ich den alten Teichdamm kreuzte. Plötzlich schoß ein unheimliches Licht quer über den Pfad, und ich blickte zurück, um zu sehen, woher ein so ungewöhnlicher Glanz kommen könne, denn hinter mir lagen allein das weite Schloß und seine Schatten. Der Strahl war Mondglanz, und der volle, untergehende, blutrote Mond schien jetzt hell durch den einst kaum wahrnehmbaren Riß, von dem ich bereits früher sagte, daß er vom Dach des Hauses im Zickzack bis zum Erdboden lief. Während ich hinstarrte, erweiterte sich dieser Riß mit unheimlicher Schnelligkeit, ein wütender Stoß des Wirbelsturms kam, das volle Rund des Satelliten wurde in dem breit aufgerissenen Spalt sichtbar; mein Geist wankte, als ich jetzt die gewaltigen Mauern auseinanderbersten sah; es folgte ein langes, tosendes Krachen wie das Getöse von tausend Wasserfällen, und der tiefe und schwarze Teich zu meinen Füßen schloß sich finster und schweigend über den Trümmern des Hauses Usher.

Gier & Buhlen um Liebe als Leitmotive

In „Der Untergang des Hauses Usher“ stehen 2 Hauptmotive im Vordergrund: Gier und Buhlen um Liebe.

Die unersättliche Gier der Zwillinge
Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, nach dem frühen Tod der Mutter bei Pflegefamilien aufgewachsen, sind die Geschwister getrieben von maßlosem Ehrgeiz, es der Gesellschaft, die sie in ihrer Kindheit so ungerecht behandelt hat, heimzuzahlen. Dazu ist ihnen nahezu jedes Mittel recht. Sie scheuen weder vor Falschaussagen/Meineid, Mord, noch vor dem Pakt mit dem Teufel zurück, um ihr Ziel, an die oberste Spitze der Nahrungskette zu gelangen, zu erreichen. Von seiner ersten Frau vor die Wahl gestellt, zieh die Falschaussage zurück oder ich verlasse dich, entscheidet sich Roderick ohne Zögern für die Lüge. Madeline steht ihm diesbezüglich nicht nach, stiftet den Bruder sogar oft an, noch skrupelloser zu agieren. Am Ende zählt bloß der geschäftliche Erfolg.

Und dieser Erfolg gründet folgerichtig auf einem opioidhaltigen Schmerzmittel namens Ligodon, mit dem Fortunato den US-amerikanischen Markt überflutet. Dass Ligodon bereits nach kurzer Einnahme abhängig macht, wissen alle Beteiligte. Trotz enormer Todeszahlen wird das Medikament munter weiter produziert und verschrieben. Die Süchtigen mutieren zu Heroin-Junkies. Aber selbst dieses traurige Phänomen bewirkt keinerlei Umdenken bei Fortunato und den politisch Verantwortlichen. Sämtliche Anstrengungen von Auguste Dupin, das Mittel verbieten zu lassen, versickern ergebnislos in den Mühlen der Justiz. Hier wurde von den Drehbuchautoren geschickt die (wahre) Geschichte von Purdue Pharma und des durch Oxycontin bewirkten Opioid-Tsunamis in den USA in die Poe-Erzählung hineingewebt. Als Zuschauer bleibt man fassungslos zurück und begreift kaum, wie dieser legale Drogenhandel derart lange geduldet werden konnte [denn in der Realität war Purdue ebenfalls so schwer beizukommen wie dem fiktiven Pharmariesen Fortunato].

Auf die Frage Dupins, „Wann ist es genug? Ist es jemals genug?“, antwortet Roderick: „Was für eine dumme Frage. Es ist nie genug“.

Das Buhlen
Die 6 Kinder, von 5 verschiedenen Müttern stammend, leben allesamt im Umfeld von Roderick & Madeline. Frederick, der Älteste, soll irgendwann in die Fußstapfen des Patriarchen treten. Die restlichen fünf leiten ihre eigenen kleinen Firmen; jeweils mit großzügigen Millionenspritzen des Daddys gepampert. Obwohl die 6 finanziell ausgesorgt haben, ist keiner richtig zufrieden. Neben dem Wunsch nach noch mehr Geld und mehr Einfluss bei Fortunato neiden die 5 Jüngeren dem ältesten Bruder v.a. dessen tägliche Nähe zum Vater. Keines der Kinder fühlt sich ernstgenommen oder geliebt. Niemand wagt, Roderick & Madeline zu widersprechen. Aus Angst vor Liebesentzug und Sorge, beim Erbe leer auszugehen. Und weil sie Vater & Tante beweisen wollen, dass auch sie als zweite Generation erfolgreich sein können, operieren sie genauso am Rande der Legalität, mitunter auch dahinter, wie Vater & Tante. Das alte Monster hat 6 junge Monster gezeugt.

„Die Moral(en)“ von der Geschichte = (viel) Geld ermöglicht zwar ein finanziell sorgenfreies Leben, aber vollumfassend glücklich macht es nicht unbedingt. Und: Monster leben nicht ewig.

Streckenweise zäh

Von mir gibt’s für die Netflix-Version der Haus-Usher-Geschichte 7.5 Punkte [1 davon für Mr. Pym, den Anwalt-Killer-Hybrid der Ushers, der für die Familie die dreckigen Jobs erledigt. Gespielt von Mark Hamill, den ich anfangs aufgrund Bart und zerknittertem Gesicht kaum erkannte = Luke Skywalker, einer der Helden meiner Jugend].

Ansonsten gilt: Spannung und zähe Passagen halten sich in etwa die Waage. Es wird für meinen Geschmack zu viel erzählt von Roderick. Es wird auch mit den Rückblenden übertrieben. Wahrscheinlich wäre es dramaturgisch besser gewesen, sich auf den Untergang der Familie zu konzentrieren, anstatt 8 verschiedene Erzählungen auf Teufel komm raus in 1 Serie unterzubringen.

PS. ob man Poe gelesen haben muss, um die Geschichte zu verstehen, fragte vor ein paar Tagen eine Kommentatorin -> nein, muss man nicht.
PPS. Im Unterschied zur Lektüre habe ich im Nachgang der Serie nicht von Dämonen und dem Grab entstiegenen blutverschmierten Jungfrauen geträumt.
+++

Der Untergang des Hauses Usher
 1 Staffel mit 8 Episoden
 seit Okt. 2023 auf Netflix
 Produktion: Intrepid Pictures
 Regie: Mike Flanagan
 Drehbuch: Mike Flanagan et al.
 Darsteller: Carla Gugino, Bruce Greenwood, Mary McDonnell, Carl Lumbly, Mark Hamill, Henry Thomas, Kate Siegel, Rahul Kohli, Samantha Sloyan, T’Nia Miller, Sauriyan Sapkota, Kyliegh Curran, Ruth Codd.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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