Der ungeschminkte(?) Westen

Hat sich die vielgelobte Serie „American Primeval“ angeschaut und bleibt am Ende mit einem zwiespältigen Gefühl zurück. Neue Netflix-Junkie-Kolumne von Henning Hirsch.

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

„American Primeval (amerikanische Urzeit)“ läuft seit Anfang Januar auf Netflix. Wird wg. des ungeschönten Blicks auf den (Wilden) Westen gelobt u als Musst-du-unbedingt-gesehen-haben in den Kommentarspalten von Facebook angepriesen. Ich habe mir die insg. 6 Episoden deshalb vorgestern & gestern Abend angeschaut u gelange am Schluss zu einem durchwachsenen Urteil. Aber, erst mal der Reihe nach.

Linearer Handlungsstrang vor historischem Hintergrund

Die Geschichte ist schnell erzählt. Im Herbst 1857 stehen die von der Ostküste stammende Mrs. Sara Rowell & ihr ca. 12-jähriger Sohn Devin im Niemandsland von Missouri vor 1 Provinzbahnhof (dort enden die Gleise) u warten auf 1 Führer, der sie nach Utah eskortieren soll, wo der 10 Jahre vorher gen Westen aufgebrochene Ehemann/Vater angeblich zu Reichtum gekommen ist. Die Reise führt über Wyoming, wo sie an einem Handelsstützpunkt witterungsbedingt stoppt. Da der Begleiter dummerweise bei einer Schießerei sein Leben lässt, schließen sich die 2 Rowells nun einer Gruppe Mormonen auf ihrem Zug ins gelobte Land an. Der Treck wird überfallen (interessanterweise von anderen Mormonen), nahezu sämtliche Pilger gemeuchelt; Mutter & Sohn gelingt die Flucht zurück ins Fort. Weil sie dort nicht überwintern wollen, vertrauen sie ihre Leben jetzt dem schweigsamen Trapper Isaac Reed (Taylor Kitsch) an, der zufällig auf derselben Route unterwegs ist. Gemeinsam mit 1 jungen Shoshonin, die auf den schönen Namen „Zwei Monde“ hört, machen sie sich auf den beschwerlichen Weg … mehr soll an dieser Stelle nicht gespoilert werden.

Das ist visuell gut in Szene gesetzt: die Bilder überwiegend dunkel eingefärbt, viel Liebe zum Detail, alles ist morastig, schmuddelig, schroff, blutig, Whisky-geschwängert. Im Minutentakt werden Statisten erschossen, mit Pfeil & Bogen niedergestreckt o schädelgespalten. Düstere Stimmung, wohin das Auge auch blickt. Als Zuschauer fühlt man sich sofort in die Frühphase des Wilden Westens teleportiert, als Männer nur 1x/Quartal badeten u die Frauen auch nicht viel häufiger. Die Siedler sind raubeinig, die Indianer teils edel, teils 24/7 auf dem Kriegspfad, die Kavallerie auf ihrem am weitesten vorgeschobenen Außenposten mehr Staffage als ernstzunehmender Konfliktteilnehmer. Und dann noch die Mormonen: auf der Suche nach dem gelobten Land, das sie in Utah erkannt zu haben glauben, gottesfürchtig zum Erbrechen u zu jedem Verbrechen bereit, um ihre Mission zu erfüllen.

An dieser Stelle 1 kleiner historischer Exkurs:
 Utah gehörte bis 1848 zu Mexiko. Der Zustrom der weißen Amerikaner setzte um 1850 ein.
 Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (sog. Mormonen) wurde 1830 in Upstate New York gegründet. Wg. ihres Sektierertums (v.a. Polygamie) von den Behörden streng reguliert zogen die Anhänger gen Westen, um dort ihren Glauben ungehindert ausüben zu können. Via Ohio & Missouri gelangten sie schließlich ins Utah-Territorium, wo sie den Endpunkt ihres Exodus verorteten.
 Das Mountain-Meadows-Massaker ereignete sich am 11. September 1857, als einheimische Mormonen-Milizionäre, begleitet von verbündeten Ureinwohnern, etwa 120 Emigranten massakrierten, die mit ihren Wagen nach Kalifornien reisten.

Irgendwas fehlt an dieser Geschichte

Wir haben es also mit 1 fiktiven Geschichte – Trapper rettet Ostküsten-Familie mehrmals das Leben – zu tun, die vor einem historisch korrekten Hintergrund spielt. Das wird durchgängig flott präsentiert (kein Wunder: Regisseur Peter Berg ist ein alter Action-Kino-Bekannter. Von ihm stammen Blockbuster wie „Hancock“, „Battleship“, „Lone Survivor“, „Boston“ u „Mile 22“), Verschnaufpausen gibt es keine, langweilig wird es nicht. Und trotzdem fehlt was (zumindest mir); als ich gestern um Mitternacht auf den Aus-Schalter drückte, war ich irgendwie nicht zufrieden mit der Geschichte. Okay, es wird geballert, gemordet, vergewaltigt, Tieren die Haut abgezogen, klaffende Wunden mit Schnaps gereinigt u all so’n Zeug, um 1 möglichst authentisches WILD-West-Feeling zu vermitteln. Der Brutalitätsfaktor ist durchgängig hoch; für meinen Geschmack zu hoch, da wäre weniger wahrscheinlich mehr gewesen. Aber das war es nicht, was mich störte; es war was anderes. Als ich mir gegen halb 1 die Zähne putzte, wurde mir allmählich klar, worin das (große) Manko dieser Serie besteht; nämlich im Nicht-Vorhandensein 1 alle Episoden überspannenden Erzählung. Die Protagonisten sind von Anfang an gesetzt & fertig. Man erfährt so gut wie nichts über ihre Vorleben; Figurenentwicklung (1 essenzielles Charakteristikum von Serien) findet nur sparsamst dosiert statt, Plot-Twists = Fehlanzeige. Und, Geheimnis aller Geheimnisse: Warum überfallen „alteingesessene“ Mormonen 1 Treck mit neu hinzukommenden Glaubensbrüdern?

Weniger (Brutalität) wäre mehr gewesen

Man kann so ne Geschichte durchaus filmisch umsetzen. Dann wäre jedoch ein 90- (o von mir aus auch 120-) Minuten-Einteiler das bessere Format, als die dünne Story zu einer Serie auszuwalzen. Zumal ja, bis auf die Sache mit den Mormonen, jetzt nichts Neues präsentiert wurde. Trapper, der als Kind bei Indianern aufwuchs, feine Dame von der Ostküste, die sich während der langen Reise in kalten Winternächten am Lagerfeuer in den Trapper verliebt, verderbte u für ne Pulle Bourbon sich gegenseitig abknallende Saloon-Besucher, teils-teils Ureinwohner, Kavallerieoffizier, der die Landnahme durch den weißen Mann für Unrecht ansieht, aber trotzdem auf die Indigenen schießen lässt, kennt man zur Genüge aus älteren Produktionen des Westerngenres, wo Konfliktlinien & Gewissensbedrängnis oft besser herausgearbeitet wurden als in „American Primeval“.

Rubrik: Altbekanntes neu eingefärbt u mit VIEL Brutalität aufgemotzt.

(wohlwollend) 6 Punkte
+++

Auf: Netflix

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

More Posts - Website

Follow Me:
Facebook

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert