Übergewicht: Jamie Oliver und McKinsey retten die Welt

Wer schützt uns vor den Aposteln der gesunden Ernährung?


Letzte Woche in meinem E-Mail-Eingang: „Hallo Thilo, dieser Aufruf wurde von Jamie Oliver auf Change.org gestartet. Wir dachten, Sie möchten sich vielleicht engagieren?“ Okay, ich engagiere mich. Aber ich unterschreibe nicht, das haben ja schon fast 2 Millionen andere getan. Ich schreibe lieber auf, warum ich von dieser Kampagne nichts halte.

Was will der britische Fernsehkoch Jamie Oliver von mir? Er brauche meine „Hilfe für ‚Gesunde Ernährung‘ als Schulfach #FoodRevolutionDay“. Ich will aber lieber, dass die Kinder Lesen und Schreiben lernen. Warum das nicht so wichtig ist, erfahre ich, wenn ich dem Link zu Herrn Olivers einziger angegebener Informationsquelle folge. Er führt mich zum Report „How the world could better fight obesity“ des McKinsey Global Institute. Da lerne ich, dass Adipositas auf Platz drei der schädlichsten Sachen der Welt rangiert, nur knapp geschlagen von „Bewaffneter Gewalt, Krieg und Terrorismus“ und natürlich dem Rauchen. Analphabetismus ist aber nur auf Platz 5. (Und sogar der Klimawandel ist nur halb so schädlich wie das Dicksein, haben die Experten ausgerechnet).

Menschenrecht auf Ernährungsunterricht

Herr Oliver will mit seiner Petition erreichen, dass die G20 dafür sorgt, dass überall auf der Welt den Kinder das wertvolle Wissen beigebracht wird, das der Fernsehkoch sich schon angeeignet hat. Er hat darin sogar ein Menschenrecht entdeckt: „Es ist sehr wichtig, dass wir zukünftige Generationen mit Fähigkeiten ausstatten, die sie dringend benötigen, um ein gesundes, glücklicheres und [hier fehlt offenbar ein Wort in seinem Aufruf] Leben zu führen. Von Herzen glaube ich daran, dass dies ein Menschenrecht eines jeden Kindes ist und ich hoffe, Sie sehen das auch so.“ Wenn wir schon dabei sind, Menschenrechte zu erfinden: Wie wäre es mit dem Menschenrecht für dicke Kinder, nicht für Werbekampagnen von Restaurantkettenbesitzern missbraucht zu werden?

Praktischerweise, erfahre ich, haben die G20 ohnehin schon „ein gesteigertes Interesse, diese Herausforderung anzugehen und dazu auch die entsprechenden Werkzeuge, um Lösungen zu realisieren.“ Da sieht man, wie schlau der Bursche ist: Fordert die auf, die sowieso schon das gleiche wollen. Das erhöht die Erfolgsaussichten doch beträchtlich. Und als Koch weiß er auch, dass es immer darauf ankommt, die richtigen Werkzeuge zu haben. Dann gelingt das Soufflé, und wohl auch die Lösung des drittgrößten Problems der Welt.

Mit allen Mitteln

McKinsey ist der Meinung, es gelte ein möglichst umfassendes Waffensortiment aus dem Arsenal zu fahren, um der Seuche Herr zu werden. „So viele Maßnahmen wie möglich sollten im großen Maßstab eingesetzt und in allen gesellschaftlichen Bereichen effektiv verfolgt werden.“ Insgesamt wurden 74 Interventionen identifiziert, die vom Erschweren des Autofahrens über verpflichtend kostenlose Schulspeisung, Werbeverbote und Subventionen bis zur Elternerziehung reichen. Für viele der Maßnahmen gebe es zwar keine Belege eines Nutzens. (Tatsächlich fanden die Autoren nur für drei Maßnahmen hinreichende Belege für eine Gewichtsreduzierung. Dies waren Gewichtsmanagementprogramme, Operationen und Medikamente.) Doch auf Belege sollte man angesichts der Dringlichkeit des Problems auch nicht warten. Gefordert seien u.a. Regierungen, der Handel, Konsumgüterhersteller, Restaurants, Angestellte, die Medien, Lehrer, Beschäftigte im Gesundheitswesen und jeder Einzelne. Kurz: Die ganze Welt soll mobilisiert werden im Kampf gegen die Fettleibigkeit. Irgendwie der guten Sache verpflichtet und nach dem Motto „Mal sehen, ob es etwas bringt“, sollen im großen Stil paternalistische Maßnahmen zur Volkserziehung und Regulierung eingeführt werden, empfehlen die Berater. Berufene wie Herrn Oliver und seine Millionen Unterstützer gibt es offenbar genug.

Entlastung für die üblichen Verdächtigen

Das Problem für Herrn Oliver dürfte darin bestehen, dass er den Kindern der Welt mit Hilfe der Regierungen der Welt die Weisheiten beibringen will, die ohnehin leicht verfügbar sind, nämlich, dass sie auf Fastfood, Limo und Süßigkeiten verzichten sollen.

Leider hat die Sache einen Haken. Die Weisheiten sind nicht der Weisheit letzter Schluss. Forscher der Cornell Universität haben untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Fastfood, Süßgetränken und Süßigkeiten sowie salzigen Snacks und Übergewicht bei Erwachsenen gibt. Das Ergebnis war deutlich: Es gibt keinen. Genauer: Bei 95% der Menschen gibt es keinen. Eine Ausnahme bilden extrem dicke (mehr als 145 kg bei 180 cm Größe) und extrem dünne (weniger als 60 kg bei 180 cm Größe) Menschen. Die extrem Dünnen konsumierten am häufigsten Süßgetränke, nämlich 70% öfter als die Normalgewichtigen. Und auch Süßigkeiten sowie salzige Snacks aßen sie deutlich häufiger, Obst und Gemüse dagegen seltener. Die extrem Übergewichtigen lagen dagegen nur bei Fastfood deutlich über den Normalgewichtigen. Bei allen anderen Übergewichtigen konnten keine signifikanten Abweichungen zum Konsumverhalten von Normalgewichtigen gefunden werden.

Angesichts dieser Ergebnisse wundert es nicht, dass die Jungs von McKinsey für die Maßnahme „Ernährungsunterricht“ keine hinreichenden Belege für Gewichtsänderung, sondern nur für „Verhaltensänderung“ gefunden haben. Aus eigener Erfahrung mutmaße ich mal, dass die Verhaltensänderung vor allem darin besteht, dass die Kinder, wenn man sie fragt, brav das Gelernte zur „gesunden Ernährung“ hersagen. Allgemeine öffentliche Kampagnen zur Aufklärung über gesunde Ernährung haben selbst nach McKinsey praktisch keinen Effekt. Warum erfreuen sie sich dann solcher Beliebtheit?

Dick ist nicht gleich krank

Eine sehr wichtige Frage wird in der Debatte leider sträflich ignoriert. Sie lautet: Ist Übergewicht ungesund? Darüber kann man trefflich streiten, da es beim Vergleich zweier Menschen in aller Regel sehr schwer ist, zu sagen, welcher der gesündere ist. Deshalb empfiehlt es sich, auf sehr grundsätzliche Kriterien zurückzugreifen. Wenn wir als allgemeines, aber durchaus relevantes Kriterium die Sterblichkeit nehmen, brauchen wir vor einigen Extrapfunden wirklich keine Angst zu haben. Da ergibt sich nämlich bei der Auswertung einer sehr großen Anzahl von Studien folgendes Bild (Gewichtsangaben für einen 1,80 m großen Mann): Moderates Übergewicht (81 kg bis 97 kg) korreliert mit einer reduzierten Sterblichkeit, Stufe 1-Adipositas (97 kg bis 113 kg) korreliert ebenfalls mit einer leicht reduzierten Sterblichkeit, Stufe 2 und 3-Adipositas (von 113 kg aufwärts) korreliert mit einer deutlich erhöhten Sterblichkeit. Man muss also einige Dutzend Kilo zu viel haben, bevor es ungemütlich wird. Ich sage nicht, dass Dicksein nicht das Risiko für die eine oder andere Erkrankung erhöht. Aber damit kann man, im wahrsten Sinne des Wortes, offenbar leben.

Ernährung ist ein Faktor unter vielen

Was macht dick? Am Junk Food liegt es nicht (oder nur selten bzw. nur in geringem Maße). Sehr wahrscheinlich gibt es eine Vielzahl von Ursachen, die von Mensch zu Mensch erheblich variieren können. Dazu zählen genetische Veranlagung, Stress, hormonelle Störungen, psychische Erkrankungen, Medikamente, Infektionskrankheiten, Veränderung der Darmflora, zu wenig Schlaf, beheizte Wohnungen. Und wahrscheinlich noch viel mehr. In den meisten Fällen von starkem Übergewicht liegt man nicht falsch, wenn man sagt, dass Menschen nicht dick werden, weil sie zu viel essen, sondern dass sie zu viel essen, weil sie dick werden. Das ist nicht so paradox, wie es klingt.

Wenn Herr Oliver Kindern zu einem gesünderen und glücklicheren Leben verhelfen will, dann sollte er damit aufhören, dicke Kinder und ihre Eltern als unaufgeklärte Fastfood-Junkies zu denunzieren. Damit ist ihnen mehr geholfen als mit der Anleitung zum Karottenstickbasteln in der Unterrichtszeit.

Lesen Sie auch die letzte Kolumne von Thilo Spahl über die Gefahr des Wurstverzehrs.

Thilo Spahl

Thilo Spahl ist Diplom-Psychologe und lebt in Berlin. Er ist freier Wissenschaftsautor, Mitgründer des Freiblickinstituts und Redakteur bei der Zeitschrift NovoArgumente.

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