Gegen den Westen? Zur Rolle Russlands und Deutschlands in der Nachkriegsordnung von Versailles

Obwohl Deutschland und Russland zu den vehementesten Gegnern der vor hundert Jahren in Versailles entstandenen Nachkriegsordnung zählten, ge-stalteten sich ihre Beziehungen zu den westlichen Siegermächten in der Zwi-schenkriegszeit recht unterschiedlich.


Zu den größten Schwächen der nach dem Ersten Weltkrieg errichteten Versailler Ordnung gehörte die Tatsache, dass Russland und Deutschland – die potentiell stärksten Mächte des Kontinents – sich nicht an der Gestaltung dieser Ordnung beteiligen durften und deren unversöhnliche Gegner wurden.

Sowjetrussland wurde nach Versailles nicht einmal eingeladen. Die deutsche Delegation luden die Siegermächte nach Versailles nur dazu ein, um ihr die bereits beschlossenen Friedensbedingungen mitzuteilen.

Hätte Deutschland den Ersten Weltkrieg gewonnen, so hätte sein Siegfriede womöglich einen ähnlichen Charakter gehabt wie der Versailler Vertrag. Der Friede von Brest-Litowsk, den die Mittelmächte dem besiegten Russland im März 1918 aufgezwungen hatten, war ein Beispiel für einen solchen Siegfrieden. Auch in Bezug auf den Westen hatten führende deutsche Politiker und Generäle umfassende Annexionspläne. Sie spiegeln sich in zahlreichen Denkschriften wider, die während des Ersten Weltkrieges verfasst worden sind. Fast alle hielten die Annexion Belgiens und einiger Teile Nordfrankreichs für erforderlich, um Deutschlands Sicherheit zu garantieren. Da aber Deutschland den Krieg verloren hatte, wurden diese Pläne gegenstandslos. Die Abschüttelung der Restriktionen des Versailler Vertrages erhielt nun für die deutsche Außenpolitik absolute Priorität. Alle Mittel heiligten diesen Zweck, auch ein Bündnis mit dem sowjetischen Regime, das die bisherige Weltordnung in einer beispiellosen Weise herausforderte.

Eine widersprüchliche Allianz

Mit besonderer Vehemenz setzte sich für eine deutsch-sowjetische Allianz der Chef der Heeresleitung, General Hans von Seeckt, ein. Frankreich trieb seiner Ansicht nach in Bezug auf Deutschland „pure Vernichtungspolitik“. „Versöhnungs- und Verständigungspolitik gegenüber Frankreich ist aussichtslos“, schrieb Seeckt Ende 1922 an den Reichskanzler Wirth. Die einzige Möglichkeit, die dem durch die Restriktionen von Versailles gefesselten Deutschland verblieb, aktive Politik zu betreiben, bestand für Seeckt in einer engen Anlehnung an den sowjetischen Staat.

Die Gedankengänge Seeckts erinnern an diejenigen Erich Ludendorffs, der mit ähnlichen Argumenten die Unterstützung der Bolschewiki durch das Deutsche Reich während des Ersten Weltkrieges gerechtfertigt hatte: „Militärisch war die … (Entsendung Lenins nach Russland) gerechtfertigt“, so Ludendorff in seinen Kriegserinnerungen: „Rußland mußte fallen.“

Auch für Ludendorff, ähnlich wie für Seeckt, heiligte der Zweck, damals war es „der militärische Sieg im Weltkrieg“ – alle Mittel.

Den Bolschewiki kam die Zwangslage, in der sich Deutschland infolge des Versailler Vertrages befand, nicht ganz ungelegen. Auf diese Weise blieb der beinahe unüberbrückbare Gegensatz innerhalb des „kapitalistischen Lagers“, der dem sowjetischen Regime bereits während des Ersten Weltkrieges das Überleben ermöglicht hatte, weiterhin bestehen. Moskau hielt den Gegensatz zwischen Deutschland und den Siegermächten für eine konstante Größe der europäischen Politik und diese Prämisse bestimmte in einem erheblichen Ausmaß seine Außenpolitik in den ersten Nachkriegsjahren. Es fiel den Bolschewiki nicht leicht, das Nachkriegsdeutschland politisch einzuordnen. Es war einerseits „kapitalistisch“ und daher befand es sich im feindlichen Lager. Zur gleichen Zeit handelte es sich aber bei Deutschland um einen „von den Siegermächten unterjochten Staat“ und daher um einen potentiellen Verbündeten. Die paradoxe Lage Deutschlands wurde von Lenin im Dezember 1920 folgendermaßen beschrieben: Deutschland sei nach den Vereinigten Staaten die zweitstärkste wirtschaftliche Macht der Welt, und ausgerechnet diesem Staat hätten die Siegermächte einen Friedensvertrag aufgezwungen, der seine Existenzgrundlagen zerstöre. Obwohl Deutschland selbst eine „imperialistische Macht“ sei, so Lenin weiter, müsse es einen Verbündeten suchen, um sich dem Druck der imperialistischen Siegermächte zu entziehen. Dieser Umstand zwinge Deutschland zu einem Bündnis mit Sowjetrussland. Zwar seien die deutschen Nationalisten unversöhnliche Feinde des Kommunismus, ihre Interessen drängten sie jedoch zu einem Bündnis mit den von ihnen so ungeliebten Bolschewiki.

Lenin gehörte ähnlich wie General von Seeckt zu den glühendsten Verfechtern einer deutsch-sowjetischen Allianz.

Gegner der prorussischen Orientierung in der politischen Klasse Deutschlands, wie der Außenminister Walther Rathenau, die den Westen nicht allzu stark provozieren wollten, hatten zu Beginn der 1920er Jahre schlechte Karten, und zwar wegen der unversöhnlichen Haltung des Siegermächte Deutschland gegenüber.

Der Weg nach Rapallo

Da Russland den Einschränkungen des Versailler Vertrages nicht unterlag, wollte die deutsche Militärführung dort schwere Waffen produzieren und die deutschen Soldaten an ihnen ausbilden. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland wurden nach der Unterzeichnung eines Handelsabkommens im Mai 1921 immer intensiver. Den Höhepunkt dieses deutsch-sowjetischen Annäherungsprozesses stellte bekanntlich der Vertrag von Rapallo dar, den die beiden Verlierer des Ersten Weltkrieges zum Erstaunen der Weltöffentlichkeit am 16. April 1922 unterzeichnet hatten. In diesem Vertrag knüpften beide Seiten erneut diplomatische Beziehungen an. Die Deutschen verzichteten auf die Rückzahlung der Schulden des Zarenreiches und die Bolschewiki auf die Reparationen, die sie dem Versailler Vertrag gemäß hätten fordern können. Darüber hinaus versprachen die Deutschen den Bolschewiki wirtschaftliche Unterstützung. Sowohl Lenin als auch Seeckt waren über den Vertrag von Rapallo äußerst befriedigt. Seeckt schrieb am 17. Mai 1922:

Ich sehe den Rapallo-Vertrag nicht in seinem materiellen Inhalt, sondern in seiner moralischen Wirkung. Er ist die erste, aber sehr wesentliche Stärkung des deutschen Ansehens in der Welt.

Lenin kommentierte das Bündnis von Rapallo mit folgenden Worten:

 In Anbetracht der Bedeutung des deutsch-russischen Vertrages … sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es für uns das Richtigste wäre, nunmehr unsere gesamte Außenpolitik darauf aufzurichten, dass wir für eine gewisse Zeitspanne … alles auf der Grundlage des deutsch-russischen Vertrages aufbauen, ihn zum ausschließlichen Vorbild erklären.

Die militärische und wirtschaftliche Übermacht der Siegermächte war in den Augen Lenins so erdrückend, dass es zum Überleben für Deutschland und Russland  geradezu eine Notwendigkeit war, die Kräfte zusammenzuschließen, um sich dieser Überlegenheit einigermaßen erwehren zu können. Lenin ging bei dieser Überlegung von der scheinbaren Schwäche der beiden Staaten aus, ohne die Möglichkeit, dass dieser Zustand sich bald ändern könnte, genügend in Betracht zu ziehen.

Der Vertrag von Rapallo wirkte auf die Siegermächte wie ein Schock. Die Entrüstung in den westlichen Hauptstädten war so groß, dass manche Anhänger der prowestlichen Orientierung im politischen Establishment der Weimarer Republik in Panik gerieten. Im Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet, weil Deutschland seinen von der Reparationskommission festgelegten Zahlungen nicht nachgekommen war. Diese Aktion wurde von einigen deutschen Politikern, z.B. von Gustav Stresemann, als eine Art Strafe für Rapallo aufgefasst.

Die Überwindung der Nachkriegskrise und die „goldenen“ 1920er Jahre

Die Ruhrbesetzung stellte den Höhepunkt der unversöhnlichen Politik des Westens gegenüber dem bezwungenen Deutschland dar. Aber gerade die Ruhrbesetzung zeigte, wie kontraproduktiv die Politik der direkten Pressionen gewesen war. Sie stürzte Deutschland in den finanziellen Ruin und in eine revolutionäre Situation, die Westmächte erzielten jedoch dadurch kaum Vorteile. In Frankreich wurden nun die Kräfte, die Deutschland gegenüber eine versöhnlichere Politik führen wollten, immer stärker. Diese neue Stimmung äußerte sich bei den französischen Parlamentswahlen, die im Mai 1924 stattfanden. Den Sieg trug das sog. linke Kartell, die Gegner des bisherigen unversöhnlichen Kurses gegenüber Deutschland, davon. Auch in Deutschland wuchs die Kompromissbereitschaft gegenüber den Westmächten. Diese Entwicklung war nicht zuletzt mit der erfahrenen Ohnmacht zur Zeit der Ruhrbesetzung eng verknüpft. Der englische Historiker Alan J.P. Taylor sagt, man habe in Deutschland im Grunde erst während der Ruhrbesetzung begriffen, dass das Land den Krieg verloren hatte. Dies war in der Tat offensichtlich. Das wichtigste Industriegebiet des Reiches wurde von den westlichen Truppen okkupiert und die Reichsregierung war nicht imstande, wirksame Schritte dagegen zu unternehmen.

Die wichtigste Voraussetzung für die Entspannung in Europa war indes die Sanierung der europäischen, vor allem der deutschen Wirtschaft. Und diese Voraussetzung wurde im Jahre 1924 in der Tat geschaffen. Der Chronist der Weimarer Republik, Arthur Rosenberg, sagt, im Dezember 1923 hätte ein kritischer Beobachter keine fünf Mark für das weitere Bestehen der Weimarer Republik gegeben. Als der Frühling gekommen sei, sei der militärische Ausnahmezustand klanglos aufgehoben worden, die Währung sei stabil geblieben und ohne viel Aufsehen und Kämpfe sei plötzlich die Demokratie wieder akzeptiert worden. Dieses Wunder sei durch die New Yorker Börse erreicht worden.

Die Vereinigten Staaten kehrten in der Tat im Jahre 1924 nach Europa zurück. Das wirtschaftliche und politische Chaos in den europäischen Staaten, die zu den wichtigsten Handelspartnern der USA gehörten, konnte die Vereinigten Staaten – die damals bereits wichtigste Industrie- und Wirtschaftsmacht der Welt – trotz ihrer isolationistischen Neigungen, nicht gleichgültig lassen. Auch war in diesem Zusammenhang wichtig, dass Frankreich und Großbritannien ihre beträchtlichen Kriegsanleihen an die Vereinigten Staaten nicht zurückzahlen konnten, da sie auf die Reparationen aus Deutschland warteten. All diese Faktoren führten zu einer amerikanischen Intervention, die eine großzügige Kreditpolitik (Dawes-Plan) zum Inhalt hatte. Diese Intervention trug innerhalb kürzester Zeit zur wirtschaftlichen Stabilisierung Deutschlands und des europäischen Kontinents bei.

Der „Geist von Locarno“ und die Moskauer Ängste

Die unerwartete wirtschaftliche Stabilisierung konnte allerdings ohne die Beseitigung der politischen Spannungen auf dem europäischen Kontinent nicht gesichert werden. Der allgemeine Wunsch nach der Beseitigung der Folgen des Krieges setzte sich in Europa nun immer stärker durch, vor allem in Großbritannien, in Frankreich und in Deutschland. Zu den Vätern der damaligen deutsch-westlichen Entspannung gehörten die Außenminister dieser drei Länder: Sir Joseph Austen Chamberlain, Aristide Briand und Gustav Stresemann. Im Juni 1925 wurde das Ruhrgebiet geräumt, im Oktober 1925 der Locarno-Vertrag, in dem die Frage der deutschen Westgrenze endgültig geregelt wurde unterzeichnet. Im September 1926 trat Deutschland dem Völkerbund bei.

Wie reagierte die Sowjetunion auf diese Entwicklung? Die Aussöhnung zwischen dem Westen und der Weimarer Republik beunruhigte Moskau. Gleichzeitig begann aber damals die Sowjetunion selbst ihre Beziehungen zum Westen zu normalisieren. Beide Staaten waren also nicht mehr so sehr aufeinander angewiesen, wie noch kurz zuvor. Trotz dieser Entwicklung reagierte man in Moskau mit recht großem Unbehagen auf den Geist von Locarno, der den Geist von Rapallo abzulösen begann. So kritisierte Moskau die Absicht Deutschlands, dem Völkerbund beizutreten. Der Völkerbund sei der Klub der Sieger, sagte der Volkskommissar für äußere Angelegenheiten, Tschitscherin, im Gespräch mit dem deutschen Botschafter in Moskau, Graf Brockdorff-Rantzau. Trotz solcher Befürchtungen Moskaus neigte aber Gustav Stresemann keineswegs dazu, den „russischen Faktor“ in der deutschen Außenpolitik zu vernachlässigen. Um die sowjetischen Ängste zu beschwichtigen, schloss er im April 1926 mit der Sowjetunion in Berlin einen Vertrag, der eine Art Gegengewicht zum Locarno-Vertrag bilden sollte. Er bestätigte alle Punkte des Rapallo-Vertrages.

Trotz des Berliner Vertrages gelang es Stresemann nicht, die Ängste der sowjetischen Führung vor einer weitgehenden außenpolitischen Isolierung zu beschwichtigen. Im Januar 1927 äußerte sich in diesem Zusammenhang einer der Führer der bolschewistischen Partei, Nikolaj Bucharin:

Wenn Deutschland in der vorausgegangenen Entwicklungsphase in Bezug auf die westeuropäischen Staaten als isolierte Größe dastand und kraft der gesamten Lage der Dinge zu uns hin neigte, so hat sich die gegenwärtige Lage radikal geändert. Deutschland hatte eine ziemlich entschiedene Wendung nach dem Westen vollzogen … Deutschland tritt jetzt ein in das Konzert der ‚voll- und gleichberechtigten‘ imperialistischen Staaten, es ‚wendet sich ab‘ vom Osten und schlägt den Kurs nach Westen ein.

Die Einschätzung Bucharins war allerdings zu voreilig. Stresemann war es letztendlich nicht gelungen, die radikalen Gegner des Westens im eigenen Land zu beschwichtigen. Die gekränkte nationale Eitelkeit stellte die alles beherrschende Emotion in der Weimarer Republik dar und die prowestlich gesinnten „Vernunftrepublikaner“ waren nicht imstande, sie einzudämmen. Bereits Mitte 1929, also noch vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, begann das sprunghafte Wachstum der NSDAP, worauf mehrere Historiker hinweisen. Die wachsende Popularität der NSDAP lässt sich nicht zuletzt als die Absage bestimmter politischer Kreise Deutschlands an die kompromissbereite Außen- und Innenpolitik Stresemanns auffassen. Für diese Gruppierungen waren weder der von Stresemann angestrebte außenpolitische Kompromiss (der Young-Plan) noch sein innenpolitischer Kompromiss (die Koalitionsregierung mit der SPD) akzeptabel. Diese Radikalisierungstendenzen in der deutschen Politik, die bereits vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise vom Oktober 1929 zu verzeichnen waren, wurden durch diese Krise nur intensiviert.

Die Unterschätzung des Nationalsozialismus

Die sowjetische Führung sah in der damaligen deutschen Entwicklung keine direkte Bedrohung für sich selbst. Zumindest sah sie den sowjetischen Staat, dessen Interessen für sie im Vordergrund standen, durch diese Entwicklungen nicht bedroht. Seit 1919 sahen die Bolschewiki, wenn man von einigen Ausnahmen absieht, im deutschen Nationalismus keine Kraft mehr, die für Sowjetrussland hätte eine Gefahr darstellen können. Es galt nämlich in Moskau als Axiom, dass der deutsche Nationalismus sich ausschließlich gegen die Versailler Ordnung richte. Da die Bolschewiki sich selbst ebenfalls als Gegner dieser Ordnung betrachteten, hatten sie keine Einwände gegen die seit 1929/30 verschärfte Auseinandersetzung der Deutschen mit dem Versailler System. Man beschuldigte nur gelegentlich die deutschen Nationalisten, sie treten nicht radikal genug gegen dieses System auf. So warf einer der Führer der Komintern, Otto Kuusinen, im September 1932 den deutschen „Faschisten“ vor, sie hätten nicht den Mut, von den Siegermächten den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und die Wiederangliederung der deutschen Gebiete, die nach 1918 Polen zugefallen seien, zu fordern. Die aggressive Sprache der deutschen Nationalisten sahen die bolschewistischen Führer nur als Fassade an, die die militärische und politische Ohnmacht Deutschlands verschleiern sollte. Es galt nämlich bei den sowjetischen Führern seit 1919 neben dem Axiom, dass der deutsche Nationalismus ausschließlich eine antiwestliche Spitze habe, auch das Axiom, dass die militärische Macht Deutschlands für Generationen gebrochen sei. Diese Überzeugung der sowjetischen Führung blieb bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme unerschüttert. Obwohl die Bolschewiki die Stärke der deutschen Industrie bewunderten, ließen sie außer Acht, dass gerade aufgrund dieses Industriepotentials Deutschland alle Voraussetzungen besaß, um seine Militärmaschinerie schnell wiederherzustellen.

Trotzkis Warnungen

Zu den schärfsten Kritikern der sowjetischen Deutschlandpolitik zu Beginn der 1930er Jahre zählte der 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesene Leo Trotzki. Trotzki warnte die Moskauer Führung unentwegt vor der Unterschätzung der nationalsozialistischen Gefahr. Nur ein „faschistisches“ Deutschland könne es wagen, einen Krieg gegen die Sowjetunion zu führen, um dadurch seine unlösbaren innenpolitischen Probleme zu verdrängen, schrieb Trotzki Mitte 1932. Die demokratischen Westmächte seien nicht bereit, sich in ein solches Abenteuer zu stürzen und das faschistische Italien sei zu weit von der Sowjetunion entfernt. Nur das nationalsozialistische Deutschland könne die „Mission der Befreiung der europäischen Zivilisation vor der bolschewistischen Gefahr“ übernehmen.

Trotzki riet der sowjetischen Führung, sofort nach der Benachrichtigung von einer nationalsozialistischen Machtübernahme eine Teilmobilmachung der Roten Armee anzuordnen. Diese Warnungen Trotzkis wurden von der Führung der Komintern scharf zurückgewiesen. Der bereits erwähnte Otto Kuusinen bezeichnete derartige Äußerungen Trotzkis als Provokationen. Trotzki wolle, dass die Sowjetunion sich unnötig ins außenpolitische Abenteuer stürze und ihre Sicherheit aufs Spiel setze.

Unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung warnte Trotzki die sowjetische Führung noch eindringlicher vor einem Angriffskrieg Hitlers gegen die Sowjetunion. Hitler wolle dem überbevölkerten Westeuropa den Weg zur Eroberung des Ostens weisen, schrieb Trotzki im Juni 1933. Er spreche von den ungerechten deutschen Grenzen und beabsichtige, neue Gebiete für Deutschland im Osten zu finden. Es handele sich dabei um die Aufteilung der Sowjetunion.

Trotzki „provozierte“ allerdings mit seinen Warnungen nicht nur die stalinistische Führung. Bereits einige Monate nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ erkannte Trotzki nämlich, dass das eigentliche Ziel des Nationalsozialismus nicht nur der Krieg gegen die Sowjetunion, sondern auch eine grundlegende Veränderung des europäischen Kräfteverhältnisses zugunsten Deutschlands war. Deshalb, so folgerte er Mitte 1933, werde sich Hitler früher oder später auch gegen den Westen wenden.

Trotzki befürchtete, dass Hitler jetzt mit der gleichen Überrumpelungstaktik, die er in Deutschland angewendet hatte, einen Siegeszug im internationalen Maßstab beginnen würde. Den friedfertigen Reden Hitlers werde in Europa ähnlich wie in Deutschland vor 1933 Glauben geschenkt, schreibt Trotzki im Juni 1933. Hitler benutze indessen seine Friedensangebote lediglich zur Beschwichtigung seiner Gegner, um sie danach umso leichter überwältigen zu können.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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