Digitalisierung: Plädoyer für einen neuen Sozialliberalismus (II)

Datenschutz und Datenhoheit sind die Schlüssel zu fairem Wettbewerb in der digitalen Wirtschaft. Mit der Selbstbestimmung würden wir deshalb zugleich den Wirtschaftsstandort Europa stärken. Beitrag von Julius Reiter


Im ersten Teil meines Plädoyers habe ich die Auswüchse des digitalen Kapitalismus geschildert – etwa die ausgeprägte Einkommensungleichheit, die durch die Automatisierung weiter zunehmen dürfte. Zugleich habe ich davor gewarnt, darauf mit einem „Angriff auf das Kapital“ zu reagieren. Denn ich bin überzeugt: Wir müssen das Solidarprinzip stärken, ohne die unternehmerische Freiheit zu schwächen.

Zudem habe ich die Sozialliberalen in die Pflicht genommen: Sie sind meines Erachtens prädestiniert und damit besonders gefordert, zukunftsträchtige Konzepte zu entwickeln, um Freiheit und Solidarität neu zu verzahnen. Denn wenn wir uns an sozialliberalen Werten orientieren, können wir soziale Konflikte entschärfen, ohne das liberale Gesellschaftsmodell zu opfern.

Neben der unternehmerischen müssen wir, und damit komme ich zum zweiten Teil meines Plädoyers, auch die persönliche Freiheit entschlossen verteidigen. Denn digitale Technologien von der Sprach- bis zur Gesichtserkennung höhlen vielerorts die Privatsphäre aus; zugleich entstehen Möglichkeiten zur massenhaften Überwachung, bei denen frühere Diktatoren vor Neid erblasst wären.

Digitalisierung: Freiheit stirbt scheibchenweise

Was heute machbar ist, zeigt sich in China auf besonders erschreckende Weise. Dort sollen rund 600 Millionen Videokameras installiert werden, um Städte zu überwachen – auch mit Gesichtserkennung. Zudem wurde jüngst bekannt, dass China ein System zur Echtzeit-Überwachung von Elektroautos eingerichtet hat. Selbst deutsche Hersteller müssen deshalb sensible Daten an die Behörden liefern.

Es gibt damit kaum noch einen Bereich, in dem die Big-Brother-Diktatur keine Daten über ihre Bürger sammelt. Besonders erschreckend: Sie führt sie in gigantischen Datenbanken zusammen, die Basis für ein „Social-Scoring-System“ sind: Bis 2020 bekommt jeder Chinese ein „Rating“, und bei schlechten Werten, etwa wegen Bußgeldern oder unbezahlten Online-Käufen, drohen Repressalien.

Big Data macht’s möglich.

Das kann in Europa nicht passieren, meinen Sie? Ich wäre vorsichtig: Die Freiheit stirbt scheibchenweise, insbesondere bei einer ausufernden Digitalisierung. Und Demokratien sterben heutzutage selten plötzlich; meist untergraben Autokraten das Fundament des Rechtsstaats schrittweise. Wir sollten deshalb stets sehr genau hinschauen, wenn Daten erhoben und zusammengeführt werden sollen – sei es von staatlichen Institutionen oder privaten Unternehmen.

Ist der EU-Datenschutz ein Innovationshemmnis?

Einige Politiker wie unsere Digital-Staatssekretärin Doro Bär argumentieren gerne, dass unser Datenschutz Innovationen verhindert. Unternehmen in China, aber auch in den USA, könnten wesentlich mehr Daten sammeln, heißt es dann oft – und damit Systeme künstlicher Intelligenz (KI) füttern. Wenn Europa nicht umschwenke, verliere es auch die zweite Runde der Digitalisierung.

Sollen wir also den Schutz der Privatsphäre lockern? Damit würden wir einen zentralen Baustein des europäischen Modells aufgeben, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt – und nicht den Markt oder den Staat. Ich meine deshalb ganz klar: nein.

Aber der Reihe nach. Was richtig ist: Wir erleben einen verschärften Wettbewerb der Systeme. Der US-Finanzkapitalismus und der chinesische Staatskapitalismus, jeweils in Verbindung mit aggressiver Industriepolitik („America“ bzw. „China first“), stellen Europa vor große Herausforderungen. Denn auf den grassierenden Wirtschaftsnationalismus haben wir noch keine adäquate Antwort gegeben.

Wie die USA und China den fairen Wettbewerb aushebeln

Beispiel China: Da das Reich der Mitte seinen Markt abschottet, können Internetgiganten wie Alibaba, Baidu oder Tencent ungestört wachsen – und ihre Gewinne in die Expansion stecken. Auch in anderen Branchen drängen hochsubventionierte oder staatliche chinesische Firmen ins Ausland; sie bauen Autobahnen, kaufen Rohstoffminen und übernehmen Innovationsführer in aller Welt.

Das hebelt den fairen Wettbewerb aus – zulasten hiesiger Unternehmen. Von einem „level playing field“, also gleichen Spielregeln für alle, kann keine Rede sein.

Beispiel USA: Die Trump-Administration schützt nicht nur heimische Unternehmen mit Strafzöllen, sondern unterstützt sie auch mit üppigen Steuersubventionen. Davon profitieren insbesondere Datenkonzerne wie Amazon, Facebook oder Google, die dadurch ihre Vormachtstellung auf dem Weltmarkt zementieren können. Amazon etwa zahlte 2018 laut Handelsblatt nur 6,7 Prozent Steuern.

Der Siegeszug der Online-Giganten macht vielen europäischen Unternehmen das Leben schwerer (denken Sie an Einzelhändler, die Amazon nicht genug entgegenzusetzen haben) – und hebelt die Soziale Marktwirtschaft aus. So hat Amazon einen Preiswettbewerb unter Paketdiensten entfacht, der zu Subunternehmerketten und prekären Arbeitsverhältnissen ohne Sozialversicherungsschutz führt.

Wie reagieren wir auf „America first“ & „China first“?

Um unsere Unternehmen, deren Mitarbeiter und den Wirtschaftsstandort zu schützen, müssen wir das europäische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell entschlossen verteidigen. Und dazu brauchen wir eine starke EU.

Völlig zu Recht fragt der französische Präsident Emmanuel Macron – ein Sozialliberaler – in seinem flammenden Appell für Europa: „Welches Land kann sich allein der aggressiven Strategien der Großmächte erwehren? Wer kann allein seine Unabhängigkeit von den Internet-Giganten behaupten? Wie könnten wir ohne den Euro den Krisen des Finanzkapitalismus widerstehen?“

Allerdings halte ich wenig davon, jetzt nach der Devise „Europe first“ auf genau jene Instrumente zu setzen, die wir bei anderen kritisieren. Und im Zuge einer aggressiveren Industriepolitik europäische Champions zu pämpern, wäre gerade im Land der „Hidden Champions“ wenig zielführend.

Statt Gleiches mit Gleichem zu vergelten und neue Giganten zu formen, sollten wir sozialliberalen Werten treu bleiben – und umso entschlossener auf fairen Wettbewerb pochen. Das heißt zum Beispiel, dass wir die US-Digitalgiganten angemessen besteuern und Übernahmen staatsnaher chinesischer Unternehmen genau prüfen (genauso wie Angebote bei öffentlichen Ausschreibungen).

Datenhoheit ist der Schlüssel zu fairem Wettbewerb

Zentrale Bedeutung hat darüber hinaus – und damit komme ich zurück zu der Frage, ob Datenschutz ein Wettbewerbsnachteil ist – der Umgang mit personenbezogenen Daten. Ich bin überzeugt: Wir können in der digitalen Wirtschaft nur dann für fairen Wettbewerb sorgen, wenn die Menschen selbst über ihre Daten bestimmen können.

Auch das lässt sich am Beispiel Amazon illustrieren: Das Unternehmen kennt die Einkaufshistorie der Kunden und verfügt deshalb über einen Datenschatz, der maßgeschneiderte Angebote erlaubt – ein gewaltiger Wettbewerbsvorteil. Aber was wäre, wenn Menschen die Daten – die schließlich ihnen gehören! – per Knopfdruck zu anderen Anbietern mitnehmen könnten? Das würde die Chancen neuer Wettbewerber deutlich erhöhen.

Die EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) war ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung, weil sie den Grundsatz der „Datenportabilität“ festschreibt. Allerdings sind Wechsel in der Praxis noch kompliziert, weshalb eine britische Expertenkommission gerade vorgeschlagen hat, Online-Plattformen enger an die Kandare zu nehmen: Sie sollen den Wechsel per Knopfdruck ermöglichen. Eine ähnliche Stoßrichtung hat ein aktueller Vorschlag der FDP, wonach das „Erschweren des Plattformwechsels“ künftig als Kartellverstoß gelten soll.

Digitalisierung, Teil II: Warum ich zuversichtlich bin

Das zeigt: Datenschutz und Datenhoheit sind im digitalen Zeitalter eine entscheidende Voraussetzung für fairen Wettbewerb. Nur so wird es gelingen, (über-)mächtige Digitalkonzerne zu bändigen und den Innovationswettbewerb anzufachen. Schon deshalb bin ich überzeugt, dass der Schutz der Privatsphäre kein Innovationshindernis ist – und damit auch kein Nachteil im Standortwettbewerb.

Hinzu kommt: Innovationen setzen sich langfristig nur durch, wenn Menschen ihnen vertrauen. Und Vertrauen entsteht nur, wenn ich sicher sein kann, dass meine Privatsphäre respektiert wird. Das sehen übrigens auch immer mehr US-Tech-Manager so: Für die einst gescholtene DSGVO gibt es immer mehr Lob, sie ist auf dem Weg zum internationalen Standard.

Das ist ein Paradebeispiel dafür, dass Europa den Wettbewerb der Systeme nicht scheuen muss. Wenn wir an unseren Prinzipien festhalten, die Freiheit schützen und gleichzeitig den sozialen Frieden bewahren, stärken wir auch den Wirtschaftsstandort.

Angesichts der tiefgreifenden digitalen Transformation helfen aber keine alten Rezepte und ideologischen Reflexe (Industriepolitik, Robotersteuern): Wir brauchen innovative Konzepte – zum Beispiel in Sachen Datenportabilität (siehe oben). Weitere Ideen stelle ich in den nächsten Wochen in loser Folge zur Diskussion.

Julius Reiter

Professor Julius Reiter ist Gründer der Kanzlei Baum Reiter & Collegen in Düsseldorf. Als IT-Rechtler, Anlegeranwalt und Liberaler beschäftigt er sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung und der Frage, wie ein moderner Daten- und Verbraucherschutz aussehen kann. Hier geht’s zu seinem Blog Digital Fairplay – Menschen. Daten. Selbstbestimmung: http://www.digital-fairplay.de/

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