Russlands Freiheitstraditionen: Einige Betrachtungen aus aktuellem Anlass

Die russische Gesellschaft ist seit Generationen gespalten. Für einige Gruppierungen steht die imperiale Größe an der Spitze ihrer Wertehierarchie, andere hingegen sehnen sich in erster Linie nach Freiheit. Mit den letzteren befasst sich die vorliegende Kolumne.


Russland hat erneut die Außenwelt überrascht. Demonstrationen gegen Korruption, die am 26. März in zahlreichen russischen Städten stattfanden, erschütterten manche westliche Vorstellungen vom russischen Nationalcharakter z.B. die These vom tiefverwurzelten Obrigkeitsglauben, der angeblich die überwältigende Mehrheit der Russen auszeichne.

„Alles ist hier einstimmig“

Diese These hat eine lange Vorgeschichte. Seit Beginn der Neuzeit wurden ähnliche Gedanken unzählige Male geäußert. So schrieb 1549 der österreichische Gesandte Sigmund Freiherr von Herberstein, der in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts Russland besucht hatte, Folgendes: „Das Volk ist von solcher Natur, dass es sich der Leibeigenschaft mehr als der Freiheit freut“.

Im Reisebericht des Marquis de Custine, der 1843 erschien und der das westliche Russlandbild Generationen lang entscheidend prägte, wird der russische Nationalcharakter ähnlich beschrieben. Custine lehnt sich dabei an den Bericht Herbersteins an: „Dieser vor mehr als drei Jahrhunderten geschriebene (Bericht) schildert die damaligen Russen genauso, wie ich die Russen jetzt sehe … Alles ist hier einstimmig, Volk und Regierung… Man kann die Russen, die Großen wie die Geringen, von Sklaverei trunken nennen“.

Die Tatsache, dass Russland seit Begin der Neuzeit unzählige Bauernaufstände und Revolten unterschiedlichster Art und im 20. Jahrhundert vier Revolutionen (so viele wie kein anderes größeres Land Europas) erlebt hatte, vermochte in keiner Weise dieses klischeehafte Russlandbild zu erschüttern.

Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass den russischen Verfechtern der Freiheit das Image der ewigen Verlierer anhaftet. Sogar in den Perioden, in denen sie im Lande regierten, blieben sie nicht allzu lange an der Macht. Bald wurden sie von ihren Kontrahenten – den Verfechtern der imperialen „Machtvertikale“ abgelöst. Handelt es sich also bei den russischen Freiheitskämpfern lediglich um romantische Schwärmer, die nicht in der Lage sind, den im Lande vorherrschenden Mainstream wesentlich zu beeinflussen? Wohl kaum. Es gab in der Geschichte Russlands durchaus Perioden, in denen es diesen „romantischen Schwärmern“ gelang, trotz ihrer angeblichen Weltfremdheit, dem politischen Diskurs im Lande ihren Stempel aufzudrücken. Beispielhaft hierfür war das Wirken der Dekabristen, deren Erscheinen untrennbar mit der petrinischen Umwälzung zu Beginn des 18. Jahrhunderts verbunden war.

Die Dekabristen als Vorbild

Als Peter der Große durch seine grundlegenden Reformen die Spaltung zwischen West und Ost beendete und „das Fenster Russlands nach Europa öffnete“, erhielten die russischen Gegner des allmächtigen paternalistischen Staates zusätzliche Impulse für ihren Freiheitsdrang. Der russische Kulturhistoriker Wladimir Weidle sagte einmal, die Vision Peters des Großen sei ausschließlich technokratischer Natur gewesen. Er habe die Kultur mit der technokratischen Zivilisation gleichgesetzt. Auf die Dauer sei es aber nicht möglich gewesen, die Europäisierung Russlands nur auf die Oberfläche zu beschränken.

Und in der Tat, die Übernahme westlicher Technologien und Entwicklungsmodelle musste zwangsläufig auch eine Übernahme westlicher Geisteshaltungen nach sich ziehen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die russische Bevölkerung ähnliche Forderungen an die Herrschenden stellen würde, wie die westlichen Völker dies bereits schon länger getan hatten. Diese Zeit kam in Russland im Jahre 1825 – mit dem Aufstand der Dekabristen. Unter dem Einfluss der europäischen, vor allem der französischen Ideen sagten die Dekabristen der uneingeschränkten Selbstherrschaft den Kampf an und versuchten, die russische Autokratie mit Hilfe einer verfassungsmäßig verankerten Gewaltenteilung zu zähmen.

Die Auflehnung der Dekabristen scheiterte zwar (das Prinzip der Gewaltenteilung wurde in Russland erst 80 Jahre später, infolge der Revolution von 1905 eingeführt). Dessen ungeachtet dienten die Dekabristen als Vorbild für spätere Generationen der russischen Freiheitskämpfer. Der Freiheitsdrang, der sich auch in früheren Epochen der russischen Geschichte immer wieder manifestierte, war von nun an untrennbar mit dem Begriff „Dekabristen“ verbunden. Die russische Autokratie, die auf der Bevormundung ihrer Untertanen basierte, wurde nun in einem immer stärkeren Ausmaß durch Kräfte herausgefordert, die sich dieser Bevormundung entziehen wollten.

Die Dekabristen inspirierten allerdings nicht nur die radikalen Gegner des zarischen Regimes, sondern auch manche Reformer im herrschenden Establishment, die die Monarchie nachhaltig modernisieren wollten – dies in erster Linie in der Zeit der umwälzenden Reformen des Zaren Alexander II. (1855-1881), der viele Forderungen, die die russischen Regimekritiker, auch die Dekabristen, seit Generationen aufgestellt hatten, eine nach der anderen erfüllte: die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Errichtung von unabhängigen Gerichten und vieles mehr. Nicht zuletzt deshalb lässt sich Alexander II. als eine Art „Dekabrist auf dem Thron“ bezeichnen. Dessen ungeachtet war auch dieser Zar, der 1881 von den Terroristen der „Narodnaja Wolja“ (Volkswille oder Volksfreiheit) ermordet wurde, nicht in der Lage, die tiefe Kluft zwischen den oppositionell gesinnten Kräften und dem bestehenden System zu überwinden

Im ausgehenden 19. Jahrhundert fand eine beschleunigte Polarisierung der russischen Gesellschaft statt. Dieser Prozess war nicht zuletzt dadurch bedingt, dass damals auch die russischen Unterschichten begannen, ähnlich wie die russische Intelligenzija Generationen zuvor, das bestehende System im Lande und seine ideologische Legitimierung in Frage zu stellen. Bis dahin waren die politischen Vorstellungen der russischen Volksschichten im Wesentlichen vorpetrinisch geblieben. Dazu gehörte die Verklärung des Zaren, der als Garant der religiös geprägten Ordnung galt. Auf der Zarentreue der russischen Unterschichten beruhte lange Zeit die Stabilität der russischen Monarchie. Solange dieser Zarenglaube bestehen blieb, konnte sie die Auseinandersetzung mit den revolutionär gesinnten Teilen der Bildungsschicht glimpflich überstehen. Den konservativen Verteidigern der russischen Autokratie war es klar, dass das Schicksal des Regimes davon abhing, wer den Kampf um die „Seele des Volkes“ gewinnen würde.

Noch während der Revolution von 1905 haben viele russische Konservative an die Zarentreue der russischen Landbevölkerung geglaubt. Dementsprechend war auch das Wahlgesetz zur ersten russischen Staatsduma konzipiert. Die Bauern, die als besonders zarengläubig galten, wurden in diesem Wahlrecht eindeutig begünstigt. Als Ergebnis wählten aber die Bauern ein Parlament, das den regimekritischen und revolutionären Parteien ein deutliches Übergewicht verlieh. Aus der wichtigsten Stütze der russischen Selbstherrschaft verwandelten sich nun die Unterschichten in ihren gefährlichsten Gegner. Ihre Hoffnungen auf die Errichtung einer sozial gerechten Ordnung begannen sie in einem immer stärkeren Ausmaß vom Zaren auf revolutionäre Parteien zu übertragen.

Die weltanschauliche Annäherung der revolutionär gesinnten Eliten an die Volksschichten sollte der russischen Monarchie beinahe jegliche Verankerung innerhalb der Gesellschaft entziehen und ihren Zusammenbruch einleiten. Warum aber vermochten die russischen Verfechter der „offenen Gesellschaft“, die nach dem Sturz des Zaren über die Geschicke des Landes entschieden, das im Februar 1917 errichtete freiheitlichste System in der russischen Geschichte nicht wirksam zu verteidigen? Warum wurde es acht Monate nach seiner Entstehung durch die radikalen Verächter der Demokratie – die Bolschewiki – wieder zerstört? Mit dieser Frage befasste sich besonders intensiv der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow.

Die Freiheitsproblematik im bolschewistischen Russland

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts habe die von der Intelligenzija lang ersehnte Begegnung mit dem Volk stattgefunden, schrieb Fedotow 1930 in seinem Beitrag, in dem er die Ursachen und die Folgen der russischen Revolution analysierte. Dies sei allerdings ein äußerst widersprüchliches Bündnis gewesen. Es habe sich unter der Devise „Land und Freiheit“ vollzogen (damit knüpft Fedotow an den Namen einer Organisation der russischen Revolutionäre aus den 1870er Jahren an). Dennoch hätten beide Teile des Bündnisses völlig unterschiedliche Ziele verfolgt: „Ein Teil wollte das Land, der andere die Freiheit“.

Und darin, könnte man hinzufügen, lag die tiefe Tragödie der russischen Revolution begründet. Die russischen Bauern waren im Jahre 1917, wie Fedotow mit Recht hervorhebt, nur am Land, nicht aber an der Freiheit, also an der Verteidigung der Demokratie interessiert, und diese ihre Entscheidung sollte verhängnisvolle Folgen für Russland haben. Die Nemesis der Geschichte ließ nicht allzu lange auf sich warten. Bald nach dem Verlust der Freiheit, sollten die Bauern, und zwar infolge der 1929 begonnenen Stalinschen Kollektivierung der Landwirtschaft auch ihr Land verlieren.

Wie konnte es zu dieser verheerenden Niederlage der überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft kommen? Fedotow erklärt dies in erster Linie mit der mangelnden Bereitschaft der Bevölkerungsmehrheit, ihre Freiheit und ihre Rechte zu verteidigen. Diese Passivität der Massen stellte, so Fedotow, eine Versuchung für machtbesessene Parteifunktionäre dar, denen jegliches Rechtsbewusstsein fehlte. Im zarischen Russland sei die Bevölkerungsmehrheit ebenfalls passiv gewesen, setzt Fedotow seine Gedankengänge fort. Das Land habe damals aber über eine dünne Schicht der Intelligenzija verfügt, die die Freiheit über alles schätzte. Durch ihr beinahe religiöses Freiheitspathos habe sie die Herrscher gezwungen, ihre Machtgelüste zu zügeln. Nach der Beseitigung der Intelligenzija infolge der bolschewistischen Revolution gebe es in Russland indes so gut wie keine Gruppierung mehr, die bereit wäre, die Freiheit zu verteidigen.

Der deutsch-sowjetische Krieg

Die stalinistische Revolution von oben, die zu einer weitgehenden Gleichschaltung sowohl der sowjetischen Gesellschaft als auch der alleinherrschenden Partei führte, schien in der Tat den Freiheitsdrang in Russland bzw. in der UdSSR endgültig erstickt zu haben. Alle Teile der Gesellschaft schienen sich in willenlose „Schräubchen“ eines reibungslos funktionierenden totalitären Mechanismus verwandelt zu haben. (Der Begriff „Schräubchen“ in Bezug auf die Sowjetbürger geht auf Stalin zurück. Er verwendete ihn in einem Trinkspruch anlässlich des Sieges über das Dritte Reich).

Um so erstaunlicher war das Verhalten der vom Regime unterjochten Bevölkerung nach dem Hitlerschen Überfall auf die Sowjetunion. Nach dem verheerenden Debakel der Roten Armee im Sommer und Herbst 1941 schien das Schicksal des sowjetischen Staates besiegelt zu sein. Was machte es dann den sowjetischen Streitkräften möglich, die sieggewohnte Wehrmacht zunächst bei Moskau und dann bei Stalingrad aufzuhalten und einen Gegenangriff zu starten, der erst in Berlin sein Ende fand? „Willenlose Schräubchen“ wären dazu nicht in der Lage gewesen. Ohne die Eigeninitiative der Gesellschaft, ohne die „spontane Entstalinisierung“ (dieser Begriff wurde vom Moskauer Historiker Michail Gefter geprägt) wäre die Bezwingung des Dritten Reiches nicht möglich gewesen. Vor allem aber trug dazu die Sehnsucht unzähliger Sowjetbürger nach einem würdevollen, freien Leben bei, das nach dem Krieg beginnen sollte. Diese Sehnsucht gehörte zu den wichtigsten Faktoren, die dem russischen bzw. sowjetischen Staat die Überwindung der wohl gefährlichsten Krise seiner Geschichte ermöglichte. Mit dieser Aufbruchsstimmung in der UdSSR nach dem 22. Juni 1941 befasste sich besonders intensiv der russische Schriftsteller Wassili Grossmann in seinem Roman „Leben und Schicksal“,  der Anfang der 1960er Jahre geschrieben wurde, allerdings erst 16 Jahre nach dem Tod des Autors, im Jahre 1980 in einem russischen Exilverlag erscheinen sollte.

Viele Helden des Romans prangern den Terror der dreißiger Jahre, die Zwangswirtschaft und die propagandistische Lüge an und träumen von einer Auflösung der Kolchosen und von der Pressefreiheit.

„Oh, die wunderbare, klare Kraft eines offenen Gesprächs, die Kraft der Wahrheit!“, kommentiert Grossman Gespräche dieser Art, die damals nicht nur in der fiktiven Welt des Romans, sondern auch in der sowjetischen Wirklichkeit stattfanden. So beschreibt z.B. der bekannte polnische Dichter Aleksander Wat, der die Kriegszeit in der Sowjetunion verbrachte, die Atmosphäre dieser Jahre: „Es gab keine Slogans, keine Losungen, keinen Kommunismus. … (Alle) glaubten, wenn diese Woge der Millionen Helden und Märtyrer von der Front zurückkäme, dann könnte kein Stalin mehr etwas ausrichten, dann würde Russland sich ändern, und zwar von Grund auf.“

Die Gesellschaft, der die Stalin-Riege in den 1930er Jahren praktisch das Rückgrat gebrochen hatte, hatte nun in der Stunde der tödlichen Bedrohung nicht nur für das stalinistische Regime, sondern auch für den eigenen Staat als solchen, zumindest ein Stückchen ihrer Würde wiedererlangt.

Das Regime, das seit dem 22. Juni 1941 mit einer beispiellosen Gefahr konfrontiert war, hatte keine andere Wahl als die halbherzige Duldung dieser partiellen Eman­zipation seiner Untertanen, die nun als Verteidiger ihrer bedrohten Heimat zu einem neuen Selbstbewusstsein gelangten.

Die vorübergehende Lockerung der stalinistischen Kontrollmechanismen kam nicht nur den Intellektuellen, sondern auch breiteren Bevölkerungsschichten zugute, nicht zuletzt den Kolchosbauern, deren Bewegungsfreiheit seit der Kollektivierung der Landwirtschaft, insbesondere aber seit der Einführung der Inlandspässe im Dezember 1932 erheblich eingeschränkt war. Nur die Inhaber der neuen Pässe hatten das Recht ihren Wohnort relativ frei zu wechseln. Da die Kolchosbauern diese Ausweise in der Regel nicht erhielten, wurden sie zu Bürgern zweiter Klasse degradiert, quasi zu Leibeigenen des Staates. Um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen, gaben die Bauern der bolschewistischen Partei einen neuen Namen. Die Abkürzung WKP(b) (Allunions Kommunistische Partei der Bolschewiki) mutierte im Volksmunde zum „Wtoroje Krepostnoje Prawo“  (die „Zweite Leibeigenschaft“).

Kurz nach Kriegsausbruch fand aber in Russland eine wahre Völkerwanderung statt. Wat, der Ende 1941 aus dem NKWD-Gefängnis entlassen wurde, berichtet darüber: „Ein großer Prozentsatz der Bevölkerung durfte die (jeweilige) Region nicht ohne einen Passierschein vom NKWD verlassen. Aber plötzlich wurde das alles hinfällig, die Wogen des Krieges rissen diese Schranken weg, und Russland war in Bewegung.“

Aber bereits ein Jahr später, noch vor dem Sieg von Stalingrad, begann das zunächst verunsicherte Regime, das „verlorene innenpolitische Terrain“ wiederzugewinnen und zur früheren Rigidität zurückzukehren. Wat sagt: „(Der) Bruch im Rückgrat des Systems (war) inzwischen verheilt. Es herrschte absolute Ordnung. Alle Akten waren an Ort und Stelle. Dann wurde auch der Völkerwanderung Einhalt geboten, denn ohne Erlaubnis des NKWD durfte man gar nicht mehr reisen.“

Die Dämmerung des Sowjetreiches

Nach dem Sieg über das Dritte Reich gelang es Stalin schnell, die auf ihren Sieg so stolze Nation zu disziplinieren. Diejenigen Beobachter, die meinten, die russischen Soldaten würden sich nach ihrer Rückkehr aus Berlin ähnlich verhalten, wie dies ihre Vorgänger getan hatten, als sie nach der Bezwingung Napoleons aus Paris nach Sankt Petersburg zurückkehrten, sahen sich enttäuscht. Eine Neuauflage des Dekabristenaufstandes fand in Russland nicht statt. Die Sehnsucht nach Freiheit, die Russlands Sieg über das Dritte Reich mitbedingt hatte, schien erloschen. In Wirklichkeit war sie aber aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein keineswegs verschwunden.

Dieser Sehnsucht kamen die Nachfolger Stalins entgegen, als sie bereits wenige Tage nach dem Tod des Tyrannen mit der Demontage des von ihm errichteten Systems begannen. Obwohl diese Demontage zaghaft und halbherzig blieb, obwohl sie in einer bürokratischen Manier – in der Form einer paternalistischen Schenkung – durchgeführt wurde, stellte der Tod Stalins eine der größten Zäsuren in der neuesten Geschichte Russlands dar. Die Machthaber begannen nun sowohl im Umgang miteinander als auch im Umgang mit der Gesellschaft bestimmte Spielregeln zu beachten. Ihre Vorgehensweise wurde berechenbarer. Nur offen regimekritisches Verhalten wurde nun bestraft, Regimetreue und Konformität hingegen belohnt. Unter Stalin gab es solche Regeln nicht. Ins Räderwerk der stalinistischen Terrormaschinerie gerieten sowohl ausgesprochene Gegner des Regimes als auch überzeugte Stalinisten.

Nur in einer solchen etwas milderen politischen Atmosphäre war die Entstehung der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren möglich, die sich offen für Menschen- und Grundrechte einsetzte.

Zwar vermochte es die Bürgerrechtsbewegung nicht, breitere Bevölkerungsschichten zu beeinflussen, sie blieb sogar innerhalb der Bildungsschicht weitgehend isoliert. Dessen ungeachtet gelang es ihr, die politische Kultur im Lande grundlegend zu verändern. In einem unfreien Land hätten sich die Bürgerrechtler wie freie Menschen verhalten, so einer der führenden Vertreter der Bürgerrechtsbewegung Andrej Amalrik.

Direkt waren die Bürgerrechtler nicht imstande, ihre Ziele zu verwirklichen, alle ihre organisatorischen Strukturen wurden bereits Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre zerschlagen. Als ihr nachträglicher Sieg kann jedoch die Tatsache gelten, dass das Gorbatschowsche „Neue Denken“ sich in manchen Punkten, ob bewusst oder unbewusst, an die von den Bürgerrechtlern entwickelten Denkmodelle anlehnte. Und dadurch löste der Generalsekretär des ZK der KPdSU ungewollt eine der größten Umwälzungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts aus. Denn die „Klassenkampfmoral“, die das Herzstück der kommunistischen Ideologie darstellt, ließ sich mit dem von Gorbatschow nun propagierten „absoluten Vorrang der allgemein menschlichen Werte“ – eine, wenn auch unbewusste Anlehnung an das Programm der sowjetischen Dissidenten – nicht vereinbaren. Die bis dahin geltende kommunistische Wertehierarchie wurde gesprengt und mit ihr auch das gesamte politische Gebäude, das auf ihr basierte. Der am 19. August 1991 unternommene Versuch der sowjetischen Dogmatiker, das Rad der Geschichte mit Gewalt zurückzudrehen, scheiterte kläglich. Am 21. August 1991 nahmen die russischen Demokraten eine Art Revanche für die Niederlage, die die Bolschewiki ihnen am 7. November 1917 beigebracht hatten und kehrten an die Macht zurück.

Die „gelenkte Demokratie“ und ihre Widersacher

Nach mehr als 70 Jahren bolschewistischer Herrschaft stellte allerdings der Übergang Russlands von einer Gesinnungsdiktatur zu einer offenen Gesellschaft, vom Imperium zum Nationalstaat und von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft ein äußerst schwieriges Unterfangen dar. Dies um so mehr, als Russland, im Gegensatz zu den ehemaligen Satellitenstaaten Moskaus an der westlichen Peripherie des „äußeren“ Sowjetimperiums, nicht ausreichend in die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Strukturen des Westens integriert wurde und keine „europäische Perspektive“ erhielt. Abgesehen davon trugen die von vielen Russen als Trauma empfundene Auflösung der Sowjetunion, die im Januar 1992 begonnene wirtschaftliche Schocktherapie und der scharfe Konflikt zwischen dem russischen Staatspräsidenten und dem Obersten Sowjet, der im Oktober 1993 zu bewaffneten Auseinandersetzungen in der russischen Hauptstadt führte, zusätzlich zur Diskreditierung der im August 1991 entstandenen  „zweiten“ russischen Demokratie bei und zu ihrer Umwandlung  in eine „gelenkte Demokratie“. Dennoch sind die demokratischen Ideen, die Russland Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre grundlegend verändert hatten, aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein keineswegs verschwunden. Russland bleibt ein gespaltenes Land, in dem ein Teil der Gesellschaft die imperiale Größe, der andere Teil aber die Freiheit über alles schätzt. Die Massenproteste gegen die Manipulationen bei den Duma-Wahlen vom Dezember 2011 und die eingangs erwähnten Demonstrationen vom 26. März 2017 stellen ein anschauliches Indiz dafür dar.

PS: Als ich diese Kolumne schrieb, ereignete sich in der Petersburger Metro ein schwerer Anschlag mit vielen Toten und Verletzten. Auf die in vielen Medien entbrannte Diskussion zu diesem Terrorakt, möchte ich hier nicht eingehen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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