Formaljuristisch – Ein Wort für die Tonne

Über den Unsinn der Verwendung des Wortes „formaljuristisch“. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz.


Bild von Hans auf Pixabay

Vorige Woche bat mich eine Leserin, den Begriff „formaljuristisch“ zu erklären. Vermutlich glaubte sie, dies sei ein juristischer Begriff. Vorab, das ist er nicht.

Die deutsche Sprache ist bekannt für ihre Präzision und ihre Fähigkeit, komplexe Konzepte prägnant auszudrücken. Doch manchmal schleichen sich Wörter ein, die mehr Verwirrung stiften als Klarheit schaffen. Ein solches Beispiel ist das Wort „formaljuristisch“. Ein Begriff, der auf den ersten Blick Sinn zu ergeben scheint, bei genauerem Hinsehen jedoch lediglich eine Leerstelle im Wortschatz füllt.

Was bedeutet überhaupt „formaljuristisch“? Der Begriff setzt sich zusammen aus „formal“ und „juristisch“. „Formal“ bezieht sich auf äußere Formen, Strukturen und Verfahren, während „juristisch“ sich auf das Recht als solches und rechtliche Aspekte bezieht. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass „formaljuristisch“ eine treffende Beschreibung für etwas ist, das die äußeren Formen und rechtlichen Aspekte betrifft. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass der Begriff genau das Gegenteil behauptet, ohne dass es dafür nachvollziehbare Argumente gibt.

BILD-Gerichtshof

Wird ein „Kinderschänder“, der bereits vor dem BILD-Gerichtshof schuldig gesprochen und dem Volkszorn anheimgegeben wurde, überraschenderweise vom Gericht freigesprochen, weil z.B. Beweismittel illegal erlangt wurden, dann schreit die Volkesseele, dass das ja nur eine formaljuristische (Fehl-) Entscheidung war. „In Wirklichkeit“ sei der selbstverständlich schuldig, und das Gericht bremse die Gerechtigkeit mit formalistischen Argumenten aus. Schande, große Schande über das Gericht.

Die Rechtswissenschaft selbst ist eine weitgehend formale Wissenschaft. Die Justiz wendet diese an und gebraucht sie als Handwerkszeug. Sie beschäftigt sich mit den Regeln und Prinzipien, die die äußere Erscheinung von Rechtsakten und -verfahren bestimmen. Die Formalität ist also bereits im Kern des juristischen Denkens verankert. Das Hinzufügen des Wortes „formal“ vor „juristisch“ führt zu einer sinnlosen Wiederholung, die mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet. Das Wort wird in erster Linie eingesetzt, um Zweifel an juristischen Entscheidungen zu säen.

Regeln

Wenn nun die Gesetze bestimmte Voraussetzungen an die Beschaffung von Beweisen stellen, dann ist es nicht „formaljuristisch“, sondern einfach nur juristisch, wenn die Beweismittel nicht zu einer Verurteilung führen können, falls sie gesetzeswidrig erlangt wurden. Ansonsten könnte man ja auch wieder munter foltern. Das würde zwar manch einem gefallen und vielleicht kommt das ja auch nach der nächsten Machtergreifung wieder, aber mit Gerechtigkeit hätte das eben nichts mehr zu tun.

Ein Blick auf die Verwendung des Begriffs in der Praxis verdeutlicht seine Unsinnigkeit. Oft wird er benutzt, um einen scheinbaren Unterschied zwischen „formalen“ und „materiellen“ Aspekten des Rechts zu betonen. Doch auch hier bleibt die Frage: Gibt es eine rechtliche Angelegenheit, die nicht formale Elemente enthält? Das Recht als System ist darauf ausgerichtet, Struktur und Ordnung in gesellschaftliche Beziehungen zu bringen. Jeder rechtliche Akt, sei es ein Vertrag, eine Klage oder ein Gesetz, ist von formellen Aspekten durchzogen. Ohne Spielregeln und deren Einhaltung kann es kein Recht geben.

Es ist natürlich blöde, wenn man ein Verfahren verliert, weil man selbst bestimmte Formalien nicht eingehalten hat, also z.B. erst klagt, nachdem die Forderung schon verjährt ist oder andere Fristen abgelaufen sind. Aber das macht die juristische Niederlage nicht zu einer „formaljuristischen“, weil die Einhaltung der Fristen eben Voraussetzung für einen erfolgreichen Prozess ist. Die eigene Nachlässigkeit oder auch Doofheit dem Gericht reinzudrücken, indem man seine eigene Niederlage als lediglich „formaljuristisch“ bezeichnet, ist ein leicht zu durchschauendes Manöver, um von eigenen Fehler abzulenken. Ich hätte das Verfahren ja glatt gewonnen, wenn das dumme Gericht sich nicht an die Gesetze gehalten hätte. Wer behauptet, er sei „nur formaljuristisch“ unterlegen, der behauptet damit, dass er ja eigentlich recht gehabt hat. Das ist Schwachsinn.

Nobody is perfect

Es mag sein, dass manche Entscheidungen schlicht falsch sind. Das liegt aber nicht daran, dass sie „formaljuristisch“ falsch wären, sie sind einfach juristisch falsch. Nobody is perfect, auch RichterInnen nicht. Dafür gibt es aber den Rechtsweg, da muss man nicht herumjammern. Und auf dem Rechtsweg lassen sich die meisten falschen Entscheidungen wieder kassieren.

Manche juristische Entscheidung mag auch dem Laien einfach unverständlich vorkommen, weil die Sprache der Juristen oft nicht dem normalen Sprachgebrauch entspricht. Das lässt sich wegen der Vielzahl von Fachbegriffen genauso wenig vermeiden, wie bei Arztbriefen.
Allerdings ist es in einer Zeit, in der die Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit eine immer wichtigere Rolle spielen, die Klarheit der rechtlichen Sprache von entscheidender Bedeutung. Bürgerinnen und Bürger sollten grundsätzlich nicht durch undurchsichtige Fachterminologie von der aktiven Teilnahme am Rechtssystem abgehalten werden. Vielmehr sollte die Sprache des Rechts für alle weitestgehend verständlich sein, unabhängig von ihrer juristischen Vorbildung. Das ist aber wieder ein ganz anderes Thema und hat nichts mit dem elenden Begriff „formaljuristisch“ zu tun, der unterm Strich nichts anderes bedeutet als: „Ich bin mit dem Urteil nicht einverstanden und motze mal was unqualifiziert rum“.

Es ist an der Zeit, den Begriff „formaljuristisch“ in die Schublade der überflüssigen Wörter zu legen oder gleich in die Tonne zu kloppen.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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