Literaturkritik als Feuilletonkritik
Lincoln im Bardo von George Saunders wagt vieles, stolpert aber über die eigene Konzeption. Dieses Buch sollte polarisieren, findet Kolumnist Sören Heim. Wie kann es sein, dass die professionelle Kritik es einhellig feiert?
Lincoln im Bardo von George Saunders ist tatsächlich ein unglaublich kurzes Buch. Bedruckt sind über 400 Seiten, aber da tatsächlich höchstens jede zweite Zeile bedruckt sein dürfte und zwischen den insgesamt 108 Kapiteln noch reichlich leere Seiten anfallen, könnte der Roman tatsächlich, mit einem gängigen Buch verglichen, weniger als 200 Seiten haben.
Das vorweg geschickt, weil sich Leser oft scheuen, moderne Experimente dann auch tatsächlich selbst zu prüfen, wenn keine totale Jubelrezension folgt. Und die folgt nicht. Auch das daher noch vorweg geschickt: Die kurze Geschichte liest sich im Großen und Ganzen durchaus ordentlich, hat ein paar anrührende Passagen und zeichnet zwar kein Panoptikum der amerikanischen Gesellschaft und liefert mit Sicherheit keine tiefere Analyse derer (es bleibt in der Fragmentierung, über die noch zu sprechen sein wird, bei all zu sehr entkontextualisierten Schlaglichtern), aber Lincoln im Bardo erzählt doch einen relativ interessanten Konflikt rund um den Umgang mit dem Sterben und mit dem Andenken an Tote und der Frage, was vom Verstorbenen bleibt.
Das Problem mit den Sprachfetzen
Der Hinweis eingangs greift darauf vor: Die literarische Besonderheit von Lincoln im Bardo zeigt sich im Satz. Der Roman montiert im Großteil der Kapitel die Stimmen (Un)toter aus der Zwischenwelt, in die der kürzlich verstorbene Willie Licoln eingegangen ist, und in einer Minderheit der Kapitel verschiedene Quellen zu Ereignissen aus Abraham Lincolns Leben rund um das Datum des Todes des Sohnes. Funktioniert das als Roman? Ist das vor allem Spielerei? Das sind Fragen, die die Literaturkritik angesichts von Lincoln im Bardo zwingend zu stellen hätte und daher ist dieser Text mindestens so sehr Feuilletonkritik, wie Romankritik.
Es funktioniert nämlich allerhöchstens sehr bedingt. Alle 2, 3 Zeilen wechselt der Erzähler, was immer durch eine Angabe unterhalb der Erzählpassagen deutlich gemacht wird. Eine große Masse an Kritikern unter anderem auf Amazon hat das als sehr störend moniert. Man werde immer wieder aus dem Lesefluss herausgeholt. Umso mehr, weil die Erzähler-Zuordnung anders als etwa in einem Theaterstück nicht vor, sondern nach der Rede erfolgt, so dass nun genau genommen eigentlich nie weiß, wem man gerade „zuhört“. Ganz so störend wie es am Anfang scheint ist das Verfahren auf die Dauer allerdings nicht: Die meisten Leser dürften mit der Zeit bemerken, dass sich Lincoln im Bardo wie ein relativ traditioneller Roman liest, wenn man den Text als Fließtext nimmt und die Stimmenzuordnung größtenteils ignoriert.
Zu viel Anleihen bei Donald Duck
Nun sollte man erwarten, dass Vielstimmigkeit, besonders eine derart krass gesetzte und voneinander abgesetzte, verstören, Widersprüche setzen, Perspektiven gegeneinander montieren würde. Das geschieht jedoch selten, besonders die toten Erzähler nehmen sich gegenseitig die Worte aus dem Mund, stehen zueinander eher wie Tick, Trick und Track als wie z.B. Naphta und Settembrini im Zauberberg. Tatsächlich deutlich voneinander abweichende Perspektiven auf die gleiche Handlung werden hier und da in dem Montagen historischer Quellen entfaltet, selten aber zu zwingenden Zeit-Themen, eher zu Nebensächlichkeiten wie der Augenfarbe des Präsidenten, oder ob der Mond schien.
Weitere Fragen die hinblicklich der Form zu diskutieren wären: Gelingt dem Roman dadurch eine Auseinandersetzung mit dem Tod besser als zum Beispiel dem Zauberberg, in dessen verschiedenen Sterbeszenen? Oder Rushdies Satanischen Versen? m.E.: Nein. Das Fragmentarische enthüllt keine Konflikte zur Wahrnehmung des Totes, die man nicht dialogisch hätte abhandeln können.
Erscheint Lincoln oder dessen Ära in diesem auch ob seiner historischen Tiefe gelobten Roman in neuem Licht? Nicht wirklich: Auch die guten Lincoln Biografien zeichnen den Präsidenten durchaus kontrovers, dabei aber deutlich tiefer und enger mit seiner Zeit verwoben.
Sollte polarisieren – woher die Einhelligkeit?
So neigt die Waage sich denn in Richtung „ erzwungener Modernismus“. Vielstimmigkeit ist eine der zentralen Forderungen an moderne Literatur, doch droht sie zum Fetisch zu erstarren oder als Köder für Buchpreisjurys zu fungieren, wenn ihre Gründe und Grenzen kaum reflektiert werden. Vielstimmigkeit scheint auf den ersten Blick sowohl eine Lösung für das klassische Erzählerproblem: „Was ist das eigentlich, ein Erzähler, wo kommt dieser Typ her und warum wird erzählt?“ zu liefern und gleichzeitig das Unbehagen an der Homogenisierung der Mannigfaltigkeit der Welt im Kunstwerk zu befriedigen. Doch das Austarieren des Verhältnisses zwischen Allgemeinem und Besonderem ist die große Herausforderung, die Kunstschaffen an den Künstler stellt. So verlangt auch die Vielstimmigkeit dann wieder nach ästhetischer Integration. Vargas Llosa gelingt das in Gespräche in der „Kathedrale“, das über 70 Stimmen aus dem zunehmend betrunkenen Gespräch zweier Protagonisten entfaltet, Dostojewski gelang es vor über 100 Jahren dank seiner abseitigen Beobachter-Icherzähler. Lincoln im Bardo scheint sich um die Integration nicht zu scheren und hat doch keines der erzählerischen Probleme gelöst: Denn auch die Kompilation realer oder fiktiver Quellen trifft natürlich eine Auswahl, und die Frage „was ist ein Erzähler?“ verschiebt sich zur Frage „was ist ein Kompilator?“
Es gibt also einige gute Gründe, zu urteilen: Das Experiment Lincoln im Bardo ist gescheitert. Womöglich gibt es auch gute Gründe das Gegenteil zu behaupten. Und das ist einmal mehr mein großes Problem mit den professionellen Kritiken zu Lincoln im Bardo. Der Roman wird durch die Bank weg gefeiert, seine erzählerischen Mittel werden hymnisch aufgezählt, werden ob ihrer bloßen Existenz gelobt, ohne dass zumindest mal ernsthaft die Probe darauf gemacht würde, ob sich der behauptete Effekt einstellt. Es ist sicher zu Erwarten, dass dieser Roman manchen Rezensenten begeistert. Aber alle? Und derart ohne Zwischeneinwände? Das scheint verdächtig. Man sollte erwarten, dass zumindest ein paar professionelle Feuilletonisten angesichts eines doch wenigsten sehr ungewöhnlichen Versuches zu dem absolut zu rechtfertigenden Urteil kommen: Das war nix. Da hat sich vielleicht auch die Jury des Man Booker vergriffen. Doch um solche begründeten Urteile zu finden, muss man einmal mehr auf Amazon ausweichen.
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