Durch die Finsternis ins Licht
Nick Caves Neuerscheinung „Ghosteen“ ist für Ulf Kubanke das Album des Jahres. Die Hörmal-Kolumne am Sonntag
„Jeder verliert jemanden. Es ist ein langer Weg zum inneren Frieden.“ Diese ebenso simple wie unumstößliche Erkenntnis äußert Nick Cave auf „Ghosteen“, seinem ad hoc veröffenrtlichten Überraschungsalbum. Großes Brimborium des Labels, PR-Kampagne, Vorabsongs? Fehlanzeige! Die Platte erscheint nackt; gehüllt lediglich in die Würde ihres Urhebers, die Kraft ihrer Töne, die Wucht ihrer Worte. Sie nimmt den Hörer mit auf einen nächtlichen Ritt durch Untiefen zwischen Verlust und Hoffnung, Entziehen kann man sich dieser hochgradig intensiven Musik nicht.
Als Caves Sohn 2015 tödlich verunglückte, befand er sich inmitten des Entstehungsprozesses zu „Skeleton Tree“. Die Aufnahmen samt Aufführungen jener Songs verkörperten den ersten Schritt aus der Hölle. Sie beendeten seine Lähmung. Die songwriterische Auseinandersetzung boten sie gleichwohl nicht. Denn sämtliche Tracks waren bereits geschrieben. „Ghosteen“ hingegen ist genau das, was die Verarbeitung der Tragödie hervorbrachte: Ein Drittel Storytelling, ein Drittel Selbstbeleuchtung, ein Drittel poetisch-philosophische Reflexion. „Die Lieder kamen zu ihm in seinen Fieberträumen. Es sind seine Fieberlieder.“ sagt Caves Gattin Susie Bick.
Genau deshalb verlangen diese vor Herzblut strotzenden Songs dem Publikum, dem Kritiker, überhaupt jedem Lauschenden emotional so viel ab, dass jeglicher Versuch routinierter Einordnung ins Schema Popkultur binnen weniger Tage von vorn herein scheitern muss. Musik und Texte liefern den gewohnt edlen Standard des Hauses Cave. Allein die Texte bieten so viel komplexe Details und poetische Blider; man wird auch nach Wochen eingehender Beschäftigung noch immer neue Nuancen entdecken.
Dabei sind die Arrangements von fast spartanischer Schlichtheit. Derbe Rhythmusorgien früherer Tage fehlen völlig. Caves Piano steht im Zentrum allen Geschehens. Die Bad Seeds reduzieren sich bewusst zur ebenso bescheidenen wie eleganten Effektmaschine. Klassische Songstrukturen und große Melodien tauchen auf, werden jedoch flugs von der Dominanz des elegisch fließenden Vortrags eingefangen. Das Hadern trifft das stoische Hinnehmen. Am Ende des Tunnels wartet jene Fackel, die womöglich keine komplette Erlösung verheißt – wie auch? – aber immerhin einen gewissen Grad der Heilung in Aussicht stellt.
Die große Leistung aller Beteiligten besteht darin, diese Lieder nicht als zweckgebundenes Requiem oder Dokument reinen Schmerzes zu inszenieren. Melancholie? Tonnenweise! Depression? Kein bisschen! Beileibe keine Selbstverständlichkeit. Denn frühere Meisterwerke wie „The Firstborn Is Dead“, „The Good Son“, „The Weeping Song“ oder sein von Bob Dylan geborgtes „Death Is Not The End“ wirken auf einmal wie makabre Boten späteren Unheils. Das Leben imitiert die Kunst. Doch „Ghosteens“ Gratwanderung gelingt. Dieses Album öffnet einerseits Türen in jene sinistren Korridore zwischen Herz, Bauch und Hirn, zu denen man die Schlüssel vielleicht nicht weggeworfen hat ; wohl aber sicher verwahrt und abschottet.
Andererseits verfügen die Stücke über betörende Schönheit, die maximalen Hörgenuss garantiert. „Bright Horses“ etwa macht dort weiter, wo er vor einem Vierteljahrhundert mit „All The Pretty Little Horses“ an der Seite von Kumpel David Tibets Current 93 jenes vierbeinige Motiv erstmals verwendete. Diesmal jedoch als entrückte Boten einer Freiheit, die sich dem Zugriff aller menschlichen Hände entzieht. Kernstück des Reigens ist das vierzehnminütige „Hollywood“. „Auf dem Weg nach Malibu verkrochen wir uns in unseren Wunden.“ haucht Cave, der nach dem Unglück von London gen Kalifornien umzog. Seine Bad Seeds begleiten diese Reise als schattenhafter Chor zur sanften Percussion Thomas Wydlers. An Ende dieses bewegenden Liedes steht weiterhin die Ungewissheit, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Doch ebenso die Gewissheit eines gemeinsamen Lebens nach dem Todesfall.
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