Heilige Schriften

Es gibt viele heilige Schriften. Manche davon sind schon sehr alt. Warum sind sie noch immer heilig?


Es gibt Bücher, die sind dir heilig. So ein heiliges Buch kann im Bücherregal stehen, du nimmst es von Zeit zu Zeit liebevoll in die Hand, blätterst darin, liest ein paar Sätze, und ein andachtsvoller Schauer erfasst dich.

Für mich gab es lange Zeit so ein Buch, es war die Erstausgabe von Christa Wolfs „Sommerstück“. Das Buch war 1989 erschienen, es muss irgendwann im Frühjahr oder Frühsommer gewesen sein, denn ich war noch Student in Berlin. Wir wussten, dass das Buch jeden Tag in die Buchhandlung kommen konnte, so standen wir, ein paar Studenten, jeden Morgen eine halbe Stunde vor Ladenöffnung am „Internationalen Buch“, warteten, bis sich die Tür öffnete und die Verkäuferin sagte: „Ist noch nicht da“ . Bis zu dem Tag, wo sie das eben nicht mehr sagte, sondern uns zu dem kleinen Stapel vorließ, von dem jeder von uns nun ein Exemplar nahm, bezahlte, und glücklich verschwand.

Das „Sommerstück“ war ein schönes Buch, der Einband, das Schriftbild, alles war schön. Außerdem enthielt es Zeichnungen – von wem, weiß ich nicht mehr. Und die Sprache hat mich bezaubert, die Geschichte hat mich berührt.

Irgendwann war das Buch verschwunden, ich weiß nicht mehr, habe ich es verliehen, oder habe ich es sogar verschenkt? Während ich dies schreibe, will ich sogar glauben, dass ich es verschenkt habe. Jedenfalls ist es nicht mehr da, ich habe mir irgendwann eine Taschenbuchausgabe gekauft. Ich habe noch nicht hineingesehen.

Buch oder Schrift

Das Wort „Buch“ ist doppeldeutig, es bezeichnet einen physischen Gegenstand, ein Stapel Papier, bedruckt zumeist mit Schrift, und ein Einband, vielleicht aus Pappe, vielleicht mit einem Schutzumschlag versehen. Ein Buch kann ein heiliger Gegenstand sein, eine Reliquie.

Aber wenn einer ein Buch geschrieben oder ein anderer ein Buch gelesen hat, dann meint man nicht dieses Papierding, sondern die Schrift darin, den Text. Wenn jemandem so ein Text heilig ist, könnte er ihn als seine heilige Schrift bezeichnen.

Ich scheue mich davor, zuzugeben, dass es für mich heilige Schriften gibt. Wenn ich so vor meinem Bücherregal stehe und auf die Buchrücken schaue, wenn ich dieses oder jenes Buch herausziehe und darin blättere, dann muss ich mir allerdings eingestehen, dass es Texte gibt, die einen gewissen heiligen Status für mich haben. Gedichte von Rilke, ja, und, ich muss es zugeben, auch „Sein und Zeit“ und einige Vorlesungen von Heidegger, „Der Satz vom Grund“ etwa, oder „Was heißt Denken?“. Auch einige Schriften des Aristoteles gehören dazu. Natürlich will ich das sofort relativieren, kaum, dass ich es hingeschrieben habe.

Was ist das „Heilige“?

Wenn zwei zusammenkommen, denen die gleichen Schriften heilig sind, dann bildet sich Gemeinschaft. Man liest sich gegenseitig den einen oder anderen Abschnitt vor, sieht die leuchtenden Augen des Anderen, merkt, dass man einander durch und in diesen Texten versteht. Und man ist verwundert und berührt von der Tatsache, dass ein paar Worte, vor langer Zeit geschrieben, den Autor mit uns hier und jetzt zu einer Gemeinschaft vereint.

Das ist ja überhaupt das Heilige: Dass es auf intuitive Weise Gemeinschaft herstellt, mit anderen, die anwesend sind, aber auch mit denen, die schon zuvor dieses Heilige erfahren haben. Man ist dann geneigt, ja, man kann vielleicht nicht mal umhin, intuitiv zu verstehen, dass es eine Idee geben muss, die in diesem heiligen Werk lebt, eine Idee, die die einzelnen Menschen überdauert, und dass es diese Idee ist, die die Gemeinschaft derer, die von diesem Heiligen erfasst werden, erzeugt und sicherstellt.

Damit sind wir im Bereich der Religionen angekommen, und gleichzeitig an einer Stelle, die den Philosophen immer wieder Kopfzerbrechen bereitet und diese merkwürdige Verwandtschaft zwischen Philosophie und Theologie erklärt. Denn wie es sein kann, dass solche Ideen über Jahrhunderte hinweg existieren, dass wir heute spüren, dass schon Aristoteles die gleichen Gedanken umgetrieben haben wie uns jetzt, dass sich in einem Rilke-Gedicht etwa ausspricht (ja, es spricht sich aus) was ich erspüren kann – dass es also dieses Reich der Ideen irgendwie wirklich geben muss, dass lässt die Philosophen schlaflos sein, während die Theologen einfach Gott dazu sagen. Die Gemeinschaft, die sich um eine bestimmte Heilige Schrift herum bildet, ist dann eben eine Religions-Gemeinschaft, deren Anhänger sich darüber einig sind, dass genau in dieser Schrift die Ideen ihres Gottes sprechen.

Religiöse Züge

So weit, so gut, und wir sagen nicht umsonst, dass die Verehrung eines Dichters oder Denkers hier und da „religiöse Züge“ annimmt. Diese Art von Religiosität ist vielleicht wirklich eine zutiefst menschliche Angelegenheit, die die Identifikation und Gemeinschaft mit weit entfernten und längst verstorbenen Menschen eben über diese gemeinsamen Ideen, die uns Sterbliche überdauern, ermöglicht. Das ist ganz wunderbar, und wir täten gut daran, das Phänomen der Religiosität aus der Enge der Kirchen herauszuholen und es viel allgemeiner und selbstverständlicher zu beschreiben.

Aber nicht in diesem Text. Denn hier soll es denn doch noch um die Schriften gehen, die den großen Glaubensgemeinschaften heute als heilig gelten: Die Bücher und Evangelien der Bibel etwa, oder der Koran.

Diese Schriften, so heißt es, sind von einem Gott selbst geschrieben oder wenigstens diktiert. Sie sind deshalb unumstößlich wahr, und soweit sie Anweisungen für das praktische Leben enthalten, sind diese von denen einzuhalten, die sich zur jeweiligen Glaubensgemeinschaft zählen.

Idee oder Gott

Man muss nicht an einen aktiv schreibenden oder diktierenden Gott glauben, um die Entstehung einer Heiligen Schrift zu verstehen und zu akzeptieren. Nimmt man an, dass es Ideen gibt, die unabhängig von konkreten Menschen und deren Einzelzielen und Anschauungen existieren (etwa die Idee der Freiheit, die der Gerechtigkeit, der Ehrlichkeit, der Liebe, der Freundschaft, des Glücks und des guten Lebens), dann kann man sich die Entstehung einer heiligen Schrift auch so vorstellen. Ein Autor, der die wichtigen Ideen der Gemeinschaft besonders intensiv und direkt erkannt hat und zudem die Fähigkeit besaß, diese Ideen in bildhafter Sprache und in verständlichen Geschichten zum Ausdruck zu bringen, hat diese Texte geschrieben. Der Autor kann dieses Schreiben durchaus als intuitives Erkennen der Ideen, als Sprechen der Ideen zu ihm und durch ihn, erlebt haben. Durch die Akzeptanz der Gemeinschaft ist zudem gesichert, dass es tatsächlich diese Ideen der Gemeinschaft sind, die unabhängig vom Autor da sind, die aus dem Text sprechen.

Wie auch immer, damit diese Texte verständlich sind, müssen sie an das Leben der aktuellen Gemeinschaft, an ihre konkrete Erfahrung, ihre Gewohnheiten, ihre Lebensweise anknüpfen. Auch ein Gott muss, um sich seinen Gläubigen verständlich zu machen, in ihrer Sprache sprechen, muss in Gleichnissen reden, die ihrem Alltag und ihrem Weltverständnis entnommen sind.

Gott muss alltäglich sprechen

Wenn also spätere Generationen die Ideen einer heiligen Schrift verstehen wollen, müssen sie sie deuten. Man muss sie nicht einmal in die heutige Welt „übersetzen“, aber man muss die Idee aus dem Text herausdeuten. Der pure Text kann nicht die Botschaft sein. Auch wenn ich heute bei Aristoteles etwas über seine Idee der Demokratie erfahren will, muss ich seine Welt und die seiner Mitdenker in mein Denken mit hineinholen. Jede heilige Schrift ist Gleichnis in der Welt ihres Entstehens, die Idee, die sie ausspricht, muss neu erspürt werden. Das eigentlich Wunderbare ist ja, dass das wirklich geht.

Auch diejenigen also, die sich immer wieder gern aus moderner Sicht über alte heilige Texte lustig machen, zeigen nur, dass sie das Wesen einer Heiligen Schrift nicht verstanden haben. Die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments etwa, in der Gott in sieben Tagen die Welt erschuf, halten sie von der modernen Naturwissenschaft für widerlegt. Aber versetzen wir uns einmal in die Lage Gottes, der den Menschen vor ein paar tausend Jahren erklären wollte, dass auch diese Welt, so wie sie heute ist nicht ewig existierte. Wir Heutigen haben natürlich eine gewisse Vorstellung davon, was Millionen oder Milliarden Jahre sind, aber in einer Zeit ohne Geschichtsschreibung, ohne Archäologie oder Geologie, wie sollte man da die Idee vom Werden der Welt erklären? Wenn man das in Betracht zieht, dann ist es eigentlich ganz faszinierend, wie genau die Schöpfungsgeschichte mit dem heutigen naturwissenschaftlichen Denken übereinstimmt: erst die Entstehung von Sonne und Erde, die Notwendigkeit des Lichts und des Wassers, dann die Pflanzenwelt, dann erst die Tierwelt und schließlich der Mensch. So falsch ist das nicht, und wenn man bedenkt, dass die Autoren dieser Schriften wirklich keinen einzigen empirischen Hinweis hatten, dass es so gewesen sein muss, dann muss man staunen über die Intuition dieser Denker.

Aber auch diejenigen, die die Heiligen Schriften akzeptieren und als Vor-Schriften für Ihre Gemeinschaft nehmen, müssen sich vergegenwärtigen, dass ihr Gott zu ihnen hier und heute anders sprechen würde, in anderen Bildern, anderen Gleichnissen, und dass er ihnen auch andere Vorschriften machen würde, die in die heutige Welt passen. Sie müssen die Ideen hinter den Geschichten erspüren, die universellen Normen hinter den Gesetzen, die in einer ganz bestimmten Zeit formuliert worden sind.

Viele Heilige Schriften – und immer die gleichen Ideen

Vielleicht würde es ihnen auch helfen, wenn sie sich vorstellen könnten, dass dieser Gott an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Heilige Schriften geschrieben hat, und dass sie nur durch die Zusammenschau all dieser Texte zu der Idee kommen können, die ihnen ihr Gott auch heute mit auf den Weg geben will. Und vielleicht stecken diese Ideen ja auch in anderen Schriften, denn der Gott, zu dem die einen oder anderen beten, ist ja universell, er kann auch zu Menschen sprechen, die nicht an ihn glauben. Vielleicht ist ja selbst dieser Text hier von diesem Gott diktiert.

Oder er ist eben ein Ausdruck einer allgemeinen Idee, die auch in diesem Text lebt, die mich aus meinen heiligen Schriften anweht und die mich, auch durch diesen Text, überdauert.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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