DieKolumnisten Gegen-Buchpreis
Frustriert von den jährlichen Long- und Shortlists des Deutschen Buchpreises stellt Literaturkolumnist Sören Heim hier die Top-Werke dieses Jahres und der vergangenen Jahre vor.
Die Longlist des Deutschen Buchpreises war dieses Jahr noch grauenhafter als in den Vorjahren. Und dann wurden für die Shortlist auch noch vier der stärksten Titel gekickt. Seit Jahren überlege ich, dem Elend einen Kolumnisten-Gegenbuchpreis entgegen zu stellen, von dem die Autorinnen und Autoren zwar nichts haben – kein Fame, kein Geld (wer aber Lust hat, sich mit mir auf einen Glühwein zu treffen, um den Preis zu feiern, ist willkommen) – von dem sie aber wissen können, dass hier von einem, der unbestechlich und oft negativ urteilt, ästhetisch gelungene Literatur ausgewählt wird. Ohne Blick auf Vermarktbarkeit, ohne das Reiten-wollen auf den Wellen zeitpolitischer Debatten. Einfach nur Kunst, die das Potential hat, auch in 50 Jahren noch gelesen zu werden. Natürlich schicken mir Verlage keine Vorschläge; daher ist das Ganze beschränkt auf die aktuellen Titel, die ich gelesen habe. Doch das sind nicht wenige und meist ist das Gros der Buchpreistitel vertreten. Weil ich das seit Jahren vor mir herschiebe zuerst ein Best of der vergangenen Jahre.
Die Rezensionen sind jeweils im Titel verlinkt.
Top 5 letzte Jahre:
Der Vogelgott – Susanne Röckel
Ein Text wie aus einer anderen Zeit. Um nicht zu sagen einer anderen Welt. „Der Vogelgott“ von Susanne Röckel wirkt wie geschrieben von einer Autorin, die es geschafft hat, den Standardisierungstendenzen des Literaturbetriebs und seiner Schreibschulen schlafwandlerisch auszuweichen, die nicht mal von der Mühe dieser Ausweichmanöver gezeichnet ist. Wirkt wie geschrieben von einer, die das Brüchige fassen möchte und kann, ohne das Erzählen selbst – und in dieser vordergründig bemühten Weisen, die heute so dominiert – zu zerbrechen. Kafka wurde als Parallele schon einige Male herangezogen; ich möchte die lateinamerikanischen Schriftsteller der Vor- und Früh-Boomphase noch in den Ring werfen, besonders Cortazar. Dabei ist der Vogelgott alles andere als antiquiert: Modern, sicherlich. Aber eben nicht marktgängig-modernistisch.
Ein typischer Buchpreistitel ist das nicht, eigentlich nicht mal ein untypischer. Eher: Selbst ein Mysterium, eines dieser Bücher, die von Mund zu Mund weiterempfohlen werden. Ein Text für die Ewigkeit, an den Werbe- und Selbstversicherungsritualen des Literaturbetriebs eigentlich gar nicht zu messen.
Dieser Text beeindruckt: Der Roman funktioniert als Sportroman. Der Roman funktioniert als Geschichte von Flucht und Vertreibung. Der Roman funktioniert als Studentenroman über einen jungen Mann, der sein Leben radikal ändert. Und sogar die Liebesgeschichte im Roman funktioniert, ohne dass es kitschig wird oder man den Eindruck bekommt, das sei nun eben noch ins Buch gerutscht, weil von Seiten der Marketingabteilung halt eine Liebesgeschichte verlangt wurde. Kurz: Was sich im Kleinen andeutete, setzte sich im Großen fort. Die Spannungsbögen greifen ineinander, die Figuren sind runde Figuren mit entsprechenden Schwächen, nicht, wie man es gerade im Bereich Literatur über Flucht und Vertreibung zu oft erlebt, Thesenpapiere, denen man einen Namen gegeben hat.
Vor allem entwickeln sich die Themen dieses Buchs durchgehend ganz aus der Geschichte bzw. den Geschichten heraus. Gemma Habibi berührt relevante gesellschaftliche Fragen erzählend, kommt gänzlich ohne aufdringlichen Essayismus aus. Die Struktur ist dabei durchaus komplex, es wird zwischen mehreren Zeitebenen gesprungen, wobei sich jeder Sprung als Erinnerung oder Erzählung aus der vorherigen Ebene ergibt, so dass viele Leser die Komplexität ganz überlesen dürften.
Gemma Habibi von Robert Prosser dürfte eines der Bücher des Jahres sein. Und es ist einer der ganz wenigen betont ein aktuelles Thema aufgreifenden Romane, der das nicht mit Bravour vor die Wand fährt.
Nachts ist es leise in Teheran – Shida Bazyar
Nachts ist es leise in Teheran ist auch ein schöner, fast ein elegant zu nennender Roman. In vier Gedankenströmen folgt die Erzählung erst dem links-revolutionären Behsad während der Aufstände gegen Mohammad Reza Pahlavi, deutet eine zarte Liebe zur Genossin Nahid an, und zwingt, dabei zuzusehen wie die Revolution immer mehr von islamistischen Kräften an sich gerissen wird. Erinnerungen an Gedichte von Hafis und Shamlou begleiten diesen Teil. Der nächste Charakter im Fokus ist dann Nahdi selbst: 1989 nach geglückter Flucht Richtung Deutschland; ambivalente Gefühle zwischen Neuorientierung und der Hoffnung auf baldige Rückkehr sind ein zentrales Thema, subtil unterlegt von Reflexionen auf Brechts Gedanken über die Dauer des Exils. Im dritten Teil reist Tochter Laleh mit der Mutter zurück nach Teheran, lernt Jugendliche kennen, die sich an Studentenprotesten beteiligt haben und zeigt sich oft überwältigt von einem Land, das ihr bisher mehr idyllische Kindheitserinnerung als real war. Ab jetzt bestimmt Popmusik stärker das Lebensgefühl der Protagonisten als klassische oder moderne Lyrik. Mo’s Studentenexistenz, bissige Kritik an – bei gleichzeitiger Verbundenheit mit – der universitären Linken, der Blick auf die Proteste 2009 schließen Nachts ist es leise in Teheran im Hauptteil ab, ehe der kontrapunktische Monolog den Text endgültig ausklingen lässt. Sprachlich gelingt es Bazyar, eine glaubwürdig-innerliche Erzählrhythmik und Melodie zu finden, die gerade genug variiert wird um die einzelnen Perspektiven voneinander abzugrenzen, ohne allzu bemüht zu wirken.
Hier sind Löwen – Katerina Poladjan
Ein Buch, das zeigt, dass es auch in deutscher Sprache noch möglich ist zu s c h r e i b e n. Allein diese brillanten Szenen auf den ersten Seiten in Istanbul. Diese Kombination aus atmosphärisch überzeugenden, von Klischees freien Stadtbeschreibungen, gerade genug Rückblende, damit uns die Hauptfigur interessiert und genug Geheimnis, um unbedingt weiterlesen zu wollen. Eingestreute rhythmische Erinnerungen an Buchbinderarbeit, was die kurze dichte Beschreibung des Geruchs, und Mutmaßungen über die Geschichte eines Buches, die den Roman eröffnen, erklärt. In der Folge dann: In gleicher Konsequenz die Montage der Reise der Protagonistin nach Jerawan, wo sie ein Buch restaurieren soll und, eher gedrängt als aus eigenem Antrieb, für die Mutter auch ein wenig nach den eigenen Wurzeln gräbt.
Hier sind Löwen ist auch ein Buch über Bücher, und auch hier eines der seltenen gelungenen, ohne das ständige Geschwalle darüber, wie toll Bücher seien und wie wichtig das Lesen ist. Ein Meisterwerk, das auf 200 Seiten mehr erzählt als andere auf 1000, dessen einzelne Sätze ein Genuss sind, dessen Ton immer genau zu dem passt, was gerade vermittelt werden soll, und das doch so brüchig und unwuchtig ist, wie es die Geschichte, besonders die Geschichte im Sinne von Historie, verlangt, von der der vordergründig unpolitische Texte durchtränkt ist.
Feenstaub – Cornelia Travnicek
Travnicek erzählt in ganz kurzen Bildern. Man möchte gar nicht Kapitel sagen. Manchmal füllen nur ein oder zwei Sätze die Seite. Manchmal ist sie halb voll, selten nur zieht ein Kapitel sich über mehrere Seiten. Ich glaube nie mehr als zwei. Nie wird mehr erklärt, als vor Augen gestellt wird. Die Kinder, die praktisch im Dreck leben, die brutale Kameradschaft im Lager. Der Nebel, der alles verdeckt, die Überfahrt über den Meeresarm, um in der Stadt zu stehlen. Das ist einfach da, eine fremdartige Welt, die genauso behandelt wird wie die vertrauteste. Ohne jegliche Aufdringlichkeit kommen dann Anklänge an Peter Pan ins Spiel. Klar, der Feenstaub, hier eine Droge, die das Leben erträglicher macht. Aber was meint der Anführer, wenn er sagt, dass man Kind bleiben soll oder zumindest sich klein machen, damit der Nebel einen weiter verbirgt? Und was die anderen, wenn es heißt, dass noch jedes der Kinder irgendwann verschwunden sein wird? Mit der Zeit setzt sich ein Bild zusammen (…)
Feenstaub ist ein Roman, auf den man sich einlassen muss, der dann aber keine unüberwindbaren Hürden bereitstellt. Ästhetisch anspruchsvoll, jedoch keinesfalls durch großen Wortschatz oder das Voraussetzen universitärer Bildung erst zugänglich. Ein Meisterwerk, an dem ich wenig bis nichts zu meckern finde.
Honorable Mention:
Der weiße Abgrund – Henning Boëtius
Ich möchte zusätzlich noch einen Titel erwähnen, der im Feuilleton praktisch nicht wahrgenommen wurde, wohl, da der Autor ganz klar als Autor für die breite Leserschaft gilt.
Boetius versucht mit seinem Werk mehr, zeichnet ein wirklich vielschichtiges Bild und das mit einer Leichtigkeit und L e s b a r k e i t, die diesen Roman und damit ein paar interessante Gedanken über Leben, Sterben und Dichtung für wirklich alle Leser zugänglich macht, die sich dafür begeistern können. Der weiße Abgrund ist prätentionslos, ja, aber man wird nie den Drang verspüren, das Buch aus der Hand zu legen. Ich sehe wirklich nicht, warum nicht auch ein solcher Text für Buchpreise in den Blick genommen werden sollte, statt immer wieder diese literarischen Experimente zu bemühen, die eigentlich einfachen Stoffen unnötige Zugangsbeschränkungen in den Weg bauen, und die in ihrem Experimentieren ja noch nicht einmal originell sind, sondern als Modernismus mit angezogener Handbremse das wirklich Wagemutige, was seit Beginn des 19. Jahrhunderts vorgelegt wurde, vorverdaut für das Bildungsbürgertum erträglich machen. Und dann teils noch mit Stoffen kombinieren, bei denen kaum ersichtlich ist, warum sie nach gerade dieser Form verlangen. Der weiße Abgrund dagegen ist zugänglich, doch gut geschrieben. Durchaus modern, ein Text, der einerseits nach 21. Jahrhundert klingt, andererseits jedoch so, dass die Figuren aus dem 19. darin nicht wie Fremdkörper wirken. Nein, dieser Roman müsste keinen Preis gewinnen. Aber es wäre auch kein Fehler, täte er es. Und den Autor darf man sich zur häufigeren Lektüre merken.
Die besten Romane 2021
Und hier die fünf Titel des Jahres, die sowohl zu unterhalten wussten, als auch geistig zu fesseln und sprachlich/formal zu überzeugen.
Dunkelblum ist Eva Menasses bisher bester Roman. Alles andere war entweder grundsolide oder von einer starken Idee getragen, aber mit deutlichen Schwächen. Dunkelblum ist nicht nur der beste Roman der Autorin, sondern auch einer der besten, wenn nicht sogar der beste mir bekannte der „neuen Dorfromane“, Vielleicht gemeinsam mit Stanišićs „Vor dem Fest“ (nicht gemeint sind bzw. betrachtet werden hier ältere Dorfromane wie etwa Gstreins „Einer“ oder Kurzecks „Kein Frühling“).
„Der Himmel vor hundert Jahren“ – Yulia Marfutova
Ja, diese Geschichte ist ein moderner Archetyp, aber was soll’s? Ich sagte es schon einmal: Es gibt sowieso nur eine Handvoll Handlungen, die in der Literatur immer wieder variiert werden. Auf die Ausführung kommt es an. Und die ist im Großen und Ganzen wirklich gelungen. Die Figuren wirken plastisch, man wird sie nicht so schnell vergessen. Das Dorf wie gesagt: sehr überzeugend. Und der Text insgesamt: kurz genug, um nicht zu langweilen oder zu zerfallen.
Die Türme von Eden – Alessandra Ress
Die zwar lose an christlichen und anderen Mythen orientierte und in den Weltraum entrückte Welt ist sehr überzeugend entwickelt. Sie wird in einer Weise ausgebreitet, die ich in Fantasy-Kritiken häufiger nahelege, nämlich im Großen und Ganzen so, als sei sie das Normalste von der Welt. Nicht wie etwas, das der Leserschaft erklärt werden muss, sondern etwas, darin sich LeserInnen selbst bewegen. Das macht den Einstieg natürlich schwerer, als wenn wie im Paradebeispiel Tolkiens erst ein weißbärtiger Zauberer und dann die Mitglieder einer Ratssitzung massig Exposition ausschütten. Es sorgt aber dafür, dass man eine Welt tatsächlich erfährt, erlebt, so, wie man ja auch, wenn man einen Roman von Mwangi liest, nicht erwartet, dass erstmal auf 50 Seiten politisches System und Geschichte Kenias erklärt werden.
Sehr gelungen auch, dass es nicht einfach ist, in diesem Roman die Seiten zu wählen. Wie viel wahr ist an der Religion der Liminalen und wie viel Unsinn, und wer daran tatsächlich glauben mag und wer Glauben zum Zwecke politischer Beeinflussung verbreitet – Die Motivation der Figuren auf Seiten von Liminalen und Suchenden sowie in den Bereichen dazwischen sind jeweils plausibel, sowohl auf der pragmatischen Ebene als auf der psychischen/metaphysischen. Es dauert angemessen lang, bis hierzu ein informiertes Urteilen möglich wird und selbst dann bleiben Restzweifel, die sich daran knüpfen mögen, welches Potential man selbst zur Zeit in der Menschheit noch sieht…
Disclaimer: Wer mich kennt, weiß, dass Alessandra und ich uns kennen, aber man kann nunmal nicht verkennen, dass das Buch gut ist.
Die Geschichte von Kat und Easy – Susann Pásztor
Die Geschichte von Kat und Easy ist ein kluger Roman für die breite Masse. Es gibt praktisch keine Zugangshürden – es ist eine einfach geschriebene einfache Geschichte, die viele Menschen so ähnlich schon einmal erlebt haben könnten und deren Klugheit keine anderen formalen Tricks braucht, als sie aus der Handlung notwendig erwachsen, keine literarische Anspielungen oder ähnliches, sondern die sich rein im Zusammenspiel der Figuren offenbart.
Im Menschen muss alles herrlich sein – Sasha Marianna Salzmann
Endlich einmal ein Buchpreis-Roman, der eine interessante Geschichte erzählt und sie auch relativ i n t e r e s s a n t e r z ä h l t . Interessante Geschichte, damit meine ich weniger das im Klappentext ausgebreitete Thema – Sowjetunion, Zerfall, Ostdeutschland und das alles dann auch noch unter dem Schlagwort »Fleischwolf-Zeit«. Das macht noch keine interessante Geschichte, das macht im schlimmsten Fall wieder nur deutsche Gegenwartsliteratur. Aber Autorin Sasha Marianna Salzmann hat mit ihrer Protagonistin der ersten Hälfte, Lena, eine Figur geschaffen, die diese Zeit tatsächlich e r – l e b t . Und das gelingt, weil sich Salzmann nicht zu schade ist, ihr Probleme, Ziele und Konflikte mitzugeben. Diese nicht nur allzu menschlichen Dinge, sondern eben auch Verfahrensweisen, die man aus dem 101 der Schreibratgeber kennt und die nicht wenigen heutigen Aspiranten auf „höhere Literatur“ von Anfang an als zu bodenständig oder zu Hollywood-mäßig scheinen, als dass sie sich damit noch beschäftigten.
Nachtrag: Vielleicht fragt sich jemand, was mit dem von mir stets so hochgelobten Fairwater von Oliver Plaschka ist. Dieses Buch ist ursprünglich aber schon 2007 erschienen, die Veröffentlichung von 2018 war eine überarbeitete Neuausgabe. Lesen darf – nein, muss! – man das natürlich trotzdem.
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