Die halluzinierte Meinungsdiktatur
Von zwei Lügengeschichten und wie man ihnen begegnen muss, schreibt heute Kolumnist Henning Hirsch
»Man darf nichts mehr sagen«, sagt Jupp.
»Du hast sie nicht mehr alle«, sage ich.
…
»Schreib bloß nicht wieder so viel«, meint sie.
»Nur zwei, drei Seiten«, sage ich.
»Maximal eine«, erwidert sie. »Mehr liest eh keiner.«
…
Am vergangenen Sonntag wurde in Brandenburg und Sachsen gewählt. Dank der Prognosen, die seit Wochen bekannt waren, kam das Ergebnis dann zwar leicht schockartig, jedoch nicht überraschend. Ich vergleiche es mit einer Krebserkrankung, von der man schon länger ahnt, dass man sie in sich trägt und die, wenn man sich damit endlich zum Arzt traut, von diesem mit trauriger Miene bestätigt wird. Obwohl man wusste, dass es so kommt, ist man in dem Augenblick, in dem es definitiv feststeht, dann doch leicht frustriert, weil man insgeheim gehofft hatte, dass es anders ausgeht. Et es wie et es, sagen wir in Köln dazu. Gefolgt vom schulterzuckenden: Wat wells de maache?
Es soll in dieser Kolumne nicht darum gehen, ob der Osten brauner tickt als der Westen. Und falls ja, woran das liegt. Darüber wurden schon tonnenweise kluge und weniger kluge Texte veröffentlicht. Mich beschäftigen in dieser Nachbetrachtung speziell zwei Fragestellungen, die mir im Zusammenhang mit dem ständigen Erstarken der Hellblauen von Relevanz zu sein scheinen.
(A) Stimmt es, dass man heute nicht mehr offen das sagen darf, was man denkt?
(B) Wie reagieren Politik und Medien auf das Phänomen?
Deutschland eine Meinungsdiktatur?
Keine Erzählung – von der angeblichen Gefahr der messermordenden Migranten abgesehen – wird so häufig und mit solcher Inbrunst von den AfD-Funktionären und ihren Followern auf allen Kanälen verbreitet wie die Behauptung, in Deutschland könne man nicht mehr frei das aussprechen, was einen wirklich beschäftigt; dürfen die wahren Probleme allenfalls flüsternd im engen Freundeskreis diskutiert werden. Ich reibe mir dann immer verdutzt die Augen bzw. säubere meine Ohren mit Q-tips, um auch bloß nichts von dem zu verpassen, was da an bisher streng Geheimgehaltenen gleich kommen wird. Und es kommt entweder nichts oder halt Altbekanntes. Dass nämlich Deutschland aufgrund der Migration kurz vor dem Kollaps steht. Ich blicke von meinem Balkon runter auf die Straße, in der viele Migranten der ersten, zweiten und dritten Generation leben, und überlege, ob der Kollaps spätestens übermorgen droht oder ich ihn eventuell verschlafen habe. Danach gehe zurück ins Wohnzimmer und denke: Wat soll dä Kwatsch?
Losgelöst vom nicht stattfindenden Kollaps fällt bei genauem Hinhören auf, dass die behauptete Unsagbarkeit weder die AfD-Funktionäre noch deren Fanbasis daran hindert, eigentlich Unsagbares trotzdem fröhlich jeden Tag zu sagen. Da werden munter Schießbefehle an der Grenze, Internierungen auf einsamen Inseln, Reduzierung der Willkommensleistungen auf Null, schnelle Abschiebungen in Bürgerkriegsregionen, Einstellung der Seenotrettung im Mittelmeer gefordert, wird Libyen als sicheres Herkunftsland gepriesen, der syrische Schlächter Assad als gütiger Landesvater hofiert, werden junge Nordafrikaner in toto zu stets gewaltbereiten Sozialschmarotzern deklariert, und bekommt natürlich täglich die Kanzlerin, die an der ganzen Misere die Schuld trägt, ihr Fett weg. Es wird also im Minuten-Stakkato gesagt, was man früher noch nicht mal denken wollte. Und es wird, so lange man niemanden persönlich beleidigt oder Nazi-Vokabular benutzt, auch völlig straffrei, mithin risikolos, gesagt. D.h. jeder kann beispielsweise einen Hochverratsprozess – selbst wenn er mit 95%iger Wahrscheinlichkeit nicht weiß, was dieser Begriff überhaupt beinhaltet – gegen Frau Merkel verlangen, ohne dass ihm für diesen Wahnsinn auch nur eine Anzeige ins Haus flattert. Das hätte der Chemnitzer AfD-Rentner vor 35 Jahren mal bei Honecker versuchen sollen. Im Gerechtigkeitskombinat Bautzen wäre ihm schnell klar geworden, welche Systeme tolerieren, dass man sagen darf, was man denkt – selbst wenn es hanebüchen ist –, und welche Regime allergisch auf freie Meinungsäußerung reagieren.
Das Märchen, dass wir in der Bundesrepublik nicht sagen dürfen, wo uns der Schuh wirklich drückt, darf man den Hellblauen nicht durchgehen lassen. Wenn sie es mal wieder mit Leichenbittermiene vortragen – wie bspw. der AfD-Vertreter in der Berliner Runde am vergangenen Sonntagabend –, muss die Reaktion lauten: „WAS dürfen Sie nicht sagen?“ und nicht: „Oh doch, bei uns im ZDF dürfen Sie alles sagen“. Schon ist man in die Falle getappt, denn dies impliziert, dass die Menschen außerhalb des liberalen ZDF eventuell doch nicht alles sagen dürfen. So fasste es der Herr von der reaktionären Alternative ja auch sofort auf. Bei der Frage „WAS?“ wird man hingegen feststellen, dass außer Flüchtling-Nordafrika-Messerstecher-Gebrabbel nichts kommt. Denn zu anderen Themen wie Renten, Bildung, Pflege, Infrastrukturausbau, E-Mobilität hat diese Partei einfach nichts zu sagen, weil sie sich mit diesen Problemfeldern gar nicht ernsthaft beschäftigt. Okay, noch ein bisschen mit der Klimalüge, aber das war’s dann schon mit Inhalten.
Mehr mit den Menschen reden
Eine am Abend des ersten September von den interviewten Politikern häufig in den Mund genommene Satzschablone lautete: „Wir müssen in Zukunft mehr mit den Menschen reden“. Und ich dachte: Wtf! Das tut ihr doch hoffentlich schon seit Anbeginn der Republik. Kommunikation ist ein integraler Bestandteil eures Jobs. Warum geht ihr den Hellblauen auf den Leim, die frech behaupten, außer ihnen würde niemand mit den Leuten ins Gespräch kommen? Denn „Wir müssen in Zukunft mehr mit den Menschen reden“ impliziert ja genau das: Bisher wurde anscheinend zu wenig kommuniziert.
Wenn man sich mit Politikern, die etwas abseits des medialen Rampenlichts stehen, unterhält, ergibt sich folgendes Bild: dreißig bis fünfzig (in den parlamentsfreien Wochen) Prozent ihrer Zeit verbringen sie damit, den Kontakt zu den Bürgern zu pflegen. Denn die sind ihre Wähler. Wer mit denen nicht im ständigen Austausch steht, ist bei der nächsten Wahl ratzfatz wieder weg vom Fenster. Jeder Abgeordnete betreibt ein Wahlkreisbüro, bietet regelmäßige Sprechstunden an, tingelt in seinem Wahlkreis von Oberzentrum A über Mittelzentrum F bis hin ins Mikrozentrum Z. Besucht Weinfeste, Firmeneröffnungen, Gewerkschaftsbüros, Betriebsratssitzungen und Jubilare in Altersheimen. Er tut das, weil es (a) ihn von Berufs wegen interessiert (b) für ihn überlebenswichtig ist. Die Erzählung von der abgehobenen Politikerkaste, die vor lauter Staatsbanketten und Auslandsreisen gar nicht mehr weiß, was an der Basis eigentlich Sache ist, gründet genauso auf einem Hirngespinst wie die Mär von der Meinungsdiktatur. Aber – und das ist in diesem Kontext das wichtige Aber – ein Abgeordneter muss nicht zwangsläufig das für richtig erachten oder gar als Antrag im Parlament einbringen, was ihm ein einzelner Bürger insinuieren möchte. Weshalb sollte bspw. ein grüner MdB die Forderung eines Görlitzer Mauer-Nostalgikers nach Stacheldraht und Tellerminen entlang der Neiße mit zurück nach Berlin nehmen, wenn er selbst die Sache völlig anders sieht? Oder ein Sozialdemokrat sich für den Wunsch einer patriotischen Rente erwärmen? Es geht also gar nicht darum, dass die da oben denen da unten nicht zuhören, sondern darum, dass die oben nicht alle das machen, was einige da unten wollen. Prinzip nennt sich Repräsentative Demokratie, ein Konstrukt, das völkisch Denkenden noch nie gefallen hat, weshalb es völlig egal ist, wie viel mit den Rechten geredet wird. So lange man nicht das tut, was sie (also: die Rechten) für dringend notwendig erachten, werden sie stets über die dekadente, den Volkswillen mit Füßen tretende, Hauptstadtpolitikerbande lamentieren. Daran würde auch ein Hochfahren der Bürgerkommunikation auf hundert Prozent Nullkommanichts ändern.
Kein falsches Verständnis für Unsagbares zeigen
Um zum Abschluss der Kolumne zu gelangen, denn es sind doch schon wieder drei Seiten geworden: Es wird höchste Zeit, der AfD auf den Feldern, wo sie Unsinn erzählt oder gar offensichtlich Lügenmärchen auftischt, mit harter Replik zu begegnen. Jemand, der sich in einer Meinungsdiktatur wähnt, soll entweder konkrete Beispiele benennen oder, falls es die nicht gibt, er sich aber weiterhin in einer Tyrannis eingesperrt fühlt, zum Psychiater geschickt werden. Jedoch sollten Politik und Medien nicht immer wieder Verständnis für Menschen äußern, die unfassbare Dinge sagen, die wir früher noch nicht mal denken wollten. Andernfalls besteht irgendwann die Gefahr, dass wir uns aufgrund von Phantomschmerzen eine Kopf-OP aufschwatzen lassen, an deren Ende wir dann hirnlos in einer richtigen Meinungsdiktatur aufwachen.
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