Wen wählen?

Noch nie fiel es ihm so schwer wie dieses Mal, sein Kreuz zu setzen. Henning Hirsch hat deshalb eine Methode entwickelt, die er Negativauswahl nennt. Eine Statt-würfeln-Kolumne.

Bild von MissKaLem auf Pixabay

Nur noch zweieinhalb Wochen bis zur BTW, und ich weiß immer noch nicht, wo ich mein Kreuz setzen werde. Im Unterschied zu früheren Wahlen tue ich mich dieses Mal echt schwer damit, eine finale Entscheidung zu treffen.

Da ich mich nie der Illusion hingegeben habe, dass 1 Partei 100 Prozent meiner individuellen Träume, wie unsere Gesellschaft gestaltet werden soll, in ihrem Programm drinstehen hat, reicht es mir schon, wenn die Hälfte davon meinen Vorstellungen ähnelt. Mein heutiger erster Test mit dem Wahl-O-Mat 2025 spuckte das Ergebnis aus, dass 20 (von insg. 28) Parteien diese Anforderung erfüllen. Der Spitzenwert liegt bei 60, die geringste Deckungsgleichheit entsprach 40 Prozent. Das hilft mir mithin nur wenig, um meine Unentschlossenheit zu überwinden. Leicht unterschiedlich sieht es aus, sobald ich einzelne meiner Antworten gewichte, ihnen mehr Bedeutung als den anderen zumesse; aber auch dann verbleiben immer noch 15 Parteien, mit denen ich inhaltlich zu Minimum 50 Prozent übereinstimme. Ich bin nach 3-fachem Bedienen des Wahl-O-Mats letztlich genauso schlau bzw. desorientiert wie vorher.

Wer studiert langweilige Wahlprogramme?

Also müssen zusätzlich zur (A) Programmatik – Hand aufs Herz: wer studiert schon stinklangweilige Wahlprogramme? – weitere Auswahlkriterien hinzugezogen werden. Für diesen Zweck bieten sich an:
(B) Besitzen die Anwärter eine realistische Chance, die 5%-Sperrklausel zu knacken?
(C) Stehen sie fest auf dem Boden der FDGO?

Mittels (B) reduzieren wir die Parteien, die theoretisch für 1 (mein) Kreuz in Frage kommen von ursprünglich 28 auf 7+1 (SSW; allerdings nur in Schleswig-Holstein wählbar). Im Anschluss wenden wir uns (C) zu: AfD ist pfui, und das BSW in meinen Augen nicht viel besser -> diese beiden fliegen sofort raus; die Linke, die ich wg. ihrer liberalen Drogenpolitik schätze, hat aus Warschauer-Pakt-nostalgischen Gründen ein chronisches Problem mit der deutschen NATO-Mitgliedschaft, weshalb ich die auf Bundesebene nie wählen würde; so wichtig ist mir ne liberale Drogenpolitik dann doch nicht. Bleiben also nur noch 4 übrig: Union, SPD, Grüne und die FDP.

 Die Union gefällt mir wg. ihrer pragmatischen Außenpolitik und der festen Verankerung im transatlantischen Bündnis (wobei natürlich zu fragen ist, welchen Wert dieses Bündnis nach weiteren 4 Jahren Trump noch aufweisen wird)
 An der SPD schätze ich so Sachen wie den Mindestlohn, das Bekenntnis zum Bürgergeld und einen unverkrampften Bezug zur Schuldenbremse
 Die Grünen haben sicher Recht, dass Klima DAS Megathema, wenn auch nicht für meine Generation (die oft gescholtenen Boomer), aber ganz sicher für meine Kinder und noch stärker für deren Kinder darstellen wird. Und hinsichtlich legalem Kiffen sind die Ökos halbwegs liberal.
 Die FDP, mein früherer Favorit für die Zeitdauer von locker 5 Bundestagswahlen, habe ich mal sehr gemocht wg. ihres Einsatzes für Bürger- & Menschenrechte, dem klarem Bekenntnis zu Europa und zur EU, ihrer marktwirtschaftlichen Vernunft. Seitdem der linke Flügel entweder tot/ausgewandert/in Rente oder zumindest gänzlich verstummt ist, die Partei sich immer mehr in Richtung BCL (Bündnis Christian Lindner) entwickelt und den universellen liberalen Ansatz in einen kleingeistig libertären transformiert hat, fremdele ich stark mit meiner alten Heimat. Zumal aufgrund der Prognosen ohnehin fraglich scheint, ob die FDP den Sprung über die 5-Prozent-Hürde überhaupt schaffen wird. Evtl. wär’s ja 1 verschenkte Stimme.

3 Kandidaten = 3 verschiedene Charaktere

Liegen mithin noch 3 Kugeln in der Trommel: Union (auf meinem Breitengrad = CDU), SPD und Grüne. Immer noch 2 zu viel, um 1 Zweitstimmenkreuz zu setzen. Und auf die Zweitstimme kommt es nach der letzten Wahlrechtsreform vor allem an. Nun mache ich Folgendes: Ich schaue auf das Spitzenpersonal; wie wirkt das auf mich: sympathisch, glaubwürdig, nimmt man die Leute im Ausland für voll und all so’n weiches Personalbewertungszeug. Alle 3 (für mich) in Frage kommenden Parteien verfügen über eigene Kanzlerkandidaten. Okay, dann wollen wir mal sehen, wie die 3 Bewerber abschneiden:
 Friedrich Merz, 69, Sauerländer, guter Rhetoriker, macht im Anzug ne windschnittige Figur. Will die „linke“ Merkel-CDU wieder mehr nach rechts führen, spielt politisch hin und wieder va banque oder auch all in. War mal Fraktionsführer, bevor er in die Wirtschaft zu Black Rock und im Anschluss wieder zurück in die Politik wechselte. Typ: Hasardeur.
 Olaf Scholz, 66, Hamburger (allerdings in Osnabrück gebürtig), nicht so guter Rhetoriker (Scholzomat), politisch eher Seeheimer Kreis, kann aber, falls notwendig, auch mühelos auf den linken Flügel wechseln, als Kanzler einer zugegebenermaßen schwierigen 3-Farben-Koalition überwiegend blass geblieben. Typ: Technokrat/Zauderer.
 Robert Habeck, 55, im hohen Norden beheimatet, schreibt ab und an mal ein Kinderbuch (was ich persönlich klasse finde), wie Merz ein versierter Redner, als Vizekanzler & Superminister der Ampel leider zumeist glücklos agierend, kann, wenn er will, sehr selbstkritisch & reflektiert rüberkommen. Typ: Erklärbär.

Wenn ich mir’s wie ne Collage zusammenstellen dürfte, dann sähe mein Kandidat so aus = man nehme die Erfahrung von Scholz, kombiniere die mit der Ehrlichkeit von Habeck und würze abschließend mit 1 Prise Merzscher Risikobereitschaft. Herauskäme DER ideale Kanzler.

Statt Würfeln = die Negativauswahl

Da „Ich bastele mir meinen Lieblingspolitiker“ leider nur theoretisch funktioniert, verbleiben nach wie vor 3 Lose im Topf, und ich bin weiterhin unentschlossen. Um jetzt nicht würfeln zu müssen, hilft nur noch die Methode, die ich „Negativauswahl“ getauft habe = ich achte in den letzten Wochen vor dem Stichtag auf all die Dinge, die mir nicht gefallen. Z.B.:
 Union bringt 5-Punkte-Plan zur Migrationsbegrenzung im Parlament ein, in dem u.a. dauerhafte Grenzkontrollen ( = das Ende für Schengen) gefordert wird = Minuspunkt
 FDP hat keine Bedenken, dem Plan zuzustimmen, obwohl darin die faktische Aushebelung von Art. 16 GG (Recht auf Asyl) enthalten ist = DICKER Minuspunkt
 SPD will zwar ihrerseits Verschärfungen, stimmt aber 2 Tage später dem sog. ZustrombegrenzungsG nicht zu, ohne ihr Nein inhaltlich zu begründen = Minuspunkt
 Grüne wollen scheinbar gar nichts an der momentan misslichen Einwanderungspraxis ändern = FETTER Minuspunkt
 Union & FDP votieren gemeinsam mit der AfD = Minuspunkt
 SPD & Grünen fällt zum Thema „Migration“ nicht viel mehr ein, als Friedrich Merz in die Nähe von Franz v. Papen zu rücken = Minuspunkt
 Das Brandmauer-Lamento nervt eh -> Minuspunkte für die Jammerer
 Sie benötigen 1 weiteres Beispiel? Wie wär’s mit: Unsere Außenministerin gibt seit Wochen zu jedem Problem, das gerade über unseren Planeten geistert, ungefragt ihren Senf dazu. Zumeist in der Form einer moralischen Ermahnung, selten (nie?) mit nem konkreten Lösungsvorschlag … Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Wer am Ende die wenigsten Minuspunkte auf dem Konto hat, gewinnt. Zugegebenermaßen nicht die wissenschaftlich sauberste Methode, aber für meinen persönlichen Zweck, bis zum Morgen des 23sten eine Präferenz zu entwickeln, reicht diese Vorgehensweise völlig aus. Setzt natürlich voraus, dass man hin und wieder den Politikteil der Tageszeitung aufschlägt, regelmäßig die 20h-Nachrichten schaut, keine Berührungsängste mit längeren Artikeln in Politmagazinen zeigt und (im Idealfall) die Kurzzusammenfassungen der Parteiprogramme überfliegt. Für Wechselwähler wie mich sicher geeignet; alle anderen, die qua Familientradition („schon mein Urgroßvater war Liberaler/Sozi/Monarchist etc.) wählen, können sich die Mühe sparen; die setzen ihr Kreuz eh immer an derselben Stelle.

Stand heute weiß ich zwar immer noch nicht, welche der 3 (oder vllt. doch 4) Parteien am Ende das Rennen (bei mir) machen wird, bin aber zuversichtlich, dass ich es mit der oben skizzierten Negativauswahl schaffen werde, rechtzeitig 1 Entscheidung herbeizuführen. Wählen werde ich aber auf jeden Fall: denn Nichtwählen ist für mich keine Option.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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