Afghanistan: vom Komplettversagen deutschen Regierungshandelns

Mit dem Verrat an den afghanischen Ortskräften endet die Ära Merkel unrühmlich, meint Kolumnist Henning Hirsch

Bild von Christian Dorn auf Pixabay

Afghanistan und kein Ende titelte hier am vergangenen Wochenende Heinrich Schmitz. Nicht ahnend, dass die Gotteskrieger im Präsidentenpalast bereits fröhlich Selfies schossen, als die Tinte seiner Kolumne noch nicht getrocknet war. Die Taliban nahmen Kabul am Sonntag kampflos ein, Militär und Polizei streckten, ohne Widerstand zu leisten, die Waffen, der tags zuvor noch siegesgewisse Regierungschef Ghani verließ sang- und klanglos wie ein Dieb durch die Hintertür das Land. Im Gepäck noch 25 Prozent des Staatshaushalts; denn das Leben im Exil ist erfahrungsgemäß teuer.

So weit, so gut bzw. schlecht bzw. das ENDE. 20 Jahre westlicher Aufbau pulverisiert binnen 10 Tagen. Pulverisiert durch Kämpfer in Sandalen, die mit alten Maschinengewehren auf der Ladefläche noch älterer LKW hocken. Mit Turbanen statt Helmen auf dem Kopf. Bar jeglichen High-Tech-Schnickschnacks, mit Krummsäbeln und rostigen Armeepistolen als Standardausrüstung. Was für eine Blamage für die USA und ihre Verbündeten! Das ist, als wenn beim Kampf Tyrannosaurus Rex gegen ein Meerschweinchen das Meerscheinchen siegt. Wettquote 1 zu 10.000.

Dass Afghanistan nach dem Rückzug der NATO-Truppen fallen wird, wusste eigentlich jeder. Und genau genommen war es allen – so lange sie keine Afghanen sind – auch herzlich gleichgültig. Hauptsache raus aus diesem Land und nie mehr Brunnen bohren. Was überraschte, war einzig die Schnelligkeit, in der eine Provinz nach der anderen wie überreifes Fallobst in die Hände der Gotteskrieger fiel. Noch am Samstag ging man in den westlichen Regierungszentralen (angeblich) davon aus, dass sich Kabul einige Wochen lang halten wird. Dieser Irrglaube währte exakt 24 Stunden. Dann entpuppte auch er sich als fatale Fehleinschätzung.

Eine Aneinanderreihung fataler Fehleinschätzungen

Und mit dem Stichwort „Fehleinschätzung“ sind wir endlich beim Thema dieser Kolumne angelangt. Und zwar bei den sich aneinanderreihenden deutschen Fehleinschätzungen der Situation. Nun kann man schulterzuckend sagen, dass es völlig egal ist, ob wir Deutsche in Afghanistan eine Situation richtig oder falsch einschätzen. Hauptsache, die Amerikaner wissen, wo es lang geht. Bloß wussten es die Amerikaner dieses Mal eben auch nicht. Der geplante geordnete Rückzug mutierte so binnen Minuten in eine Chaos-Flucht, wie wir sie zuletzt im April 75 in Saigon gesehen hatten.

Natürlich ist es legitim, nach 20 Jahren aus einem Land abzuziehen, in dem man eigentlich nichts verloren hat. Es ist ebenfalls nachvollziehbar, dass man nicht jedes Jahr aufs Neue zig Milliarden Dollar in einem Fass ohne Boden versenken möchte. Der Glaube, dass 300.000 gut ausgerüstete einheimische Soldaten ausreichen müssten, um 80.000 Krummsäbel-Kämpfer ein paar Monate lang im Zaum zu halten, ist ja jetzt kein völliges Hirngespinst. Da man als Laie nicht mit täglichen Geheimdienstdossiers von der Front versorgt wird, erscheint einem das alles erstmal plausibel. Geklappt hat es allerdings weder mit dem Im-Zaum-halten, noch mit dem geordneten Rückzug. Was wir da an Bildern vom Kabuler Flughafen zu sehen bekommen, ist mit „verstörend“ sehr beschönigend umschrieben. Dass wir Deutsche es nicht schaffen, alle Deutsche rechtzeitig auszufliegen und die Ortskräfte, die für uns gearbeitet haben, zu evakuieren, ist ein Drama, das in vielen Fällen in einer Tragödie enden wird.

5 Fragen, die jetzt gestellt werden müssen

Nun müssen Fragen gestellt werden:
(1) Wer wusste wann worüber Bescheid? Lieferten die Geheimdienste tatsächlich Fehleinschätzungen, oder lasen unsere Politiker die evtl. doch wahrheitsgetreuen Berichte gar nicht, oder lasen sie die Analysen zwar, wollten aber die traurige Wahrheit aus wahltaktischen Gründen nicht hören?
(2) Weshalb wurden die schon Wochen vorher übermittelten Warnungen des deutschen Botschaftspersonals vom AA komplett in den Wind geschlagen?
(3) Warum wurde mit den Evakuierungen nicht schon im Frühjahr begonnen? (einen entsprechenden Antrag der Grünen im Bundestag lehnten die beiden Regierungsparteien mit ihrer Stimmenmehrheit ab)
(4) Wie konnte man 10 Tage vorher noch guten Gewissens Abschiebungen nach Afghanistan fordern?
(5) Und last, but not least: Wer in unserer Regierung ist für was verantwortlich? Das ist die dümmste Frage von allen. Und ich entschuldige mich dafür, sie überhaupt gestellt zu haben. In der deutschen Regierung ist nie irgendjemand für irgendwas verantwortlich. Es tut allen ein bisschen leid, dass es dumm mit der Rettungskation gelaufen ist; aber das habe man vorher beim besten Willen nicht wissen können und überhaupt hätten sich ja ALLE (inkl. der Amerikaner) getäuscht. Zuallererst muss deshalb Joe Biden den Job an den Nagel hängen, bevor in Berlin über Rücktritte nachgedacht wird.

Das Kabinett Merkel IV, das in Punkto „Mittelmäßigkeit“ viele Vorgänger-Kabinette schon lange überholt hat, zeigt sich in diesen Tagen von seiner traurigsten Seite: ALLE waren ahnungslos (beim BND hängen sich gerade 5 Afghanistan-Experten auf, während ihre Analysen eilig geschreddert werden), Kanzlerin und Minister geben sich zerknirscht, versprechen, JETZT alles Menschenmögliche zu tun, um die Leute rauszuholen und düsen dann fort zum nächsten Wahlkampfauftritt in Lüneburg oder Würselen, um auch dort die Zerknirschten zu mimen.

Kandidat Laschet warnt davor, dass sich 2015 auf gar keinen Fall wiederholen darf und regt an – dabei eifrig assistiert von Kandidat Scholz –, stattdessen den Afghanen vor Ort zu helfen. Beispielsweise, indem man den afghanischen Frauen, die nun erneut von Bildung ausgeschlossen werden, per Geheimkurier ausrangiertes deutsches Unterrichtsmaterial nach Hause schickt. Oder den 1500sten Brunnen bohrt, oder Zelte für Flüchtlingslager spendet, oder Geld an die Taliban überweist, damit die das dann gerecht auf die Bevölkerung verteilen. Aber bloß KEINE Asyl suchenden Afghanen in Deutschland! Die sollen entweder zu Hause bleiben und sich mit der Theokratie arrangieren oder in die USA auswandern. Da ist mehr Platz, und die Amerikaner haben uns den ganzen Schlamassel schließlich eingebrockt.

Eine Ära endet im Debakel

Während ich diese Zeilen tippe, fliegen deutsche Soldaten ein paar hundert Ortskräfte aus. Die vorher brav sämtliche Einreisedokumente ausgefüllt und zum Flughafen mitgebracht haben. War ein Kästchen falsch angekreuzt, musste man nochmal zurück nach Hause, das Dokument erneut ausdrucken und durfte sich dann wieder hinten in der Evakuierungsschlange anstellen. 2500 (von geschätzt 20.000) Menschen, die wir vor den religiösen Mordbuben in Sicherheit bringen, werden es am Ende wohl sein. Fehlen also nur 17.500, die wir aufgrund grob fahrlässigen Nichtstuns schnöde ihrem Schicksal überlassen. Aber da unsere Regierung das ja alles nicht ahnen konnte, sind die 2500 selbstredend als mittelgroßer Erfolg zu buchen.

Und ganz ehrlich: Ich bin schon froh, dass die deutschen Maschinen überhaupt abhoben, sich wegen Materialermüdung nicht gerade in einem Reparatur-Hangar befanden und genügend Kerosin getankt hatten. Sollte ich jemals von irgendwo evakuiert werden müssen, vertraue ich im Zweifelsfall lieber auf die Amerikaner als auf unsere Bundeswehr.

Wäre es 5 Wochen vor der Wahl nicht egal, würde ich jetzt am Ende dieser Kolumne noch was Gepfeffertes zu den DRINGEND gebotenen Rücktritten schreiben. Mit gutem Beispiel vorangehen müsste allerdings die Kanzlerin, denn bei einem solch eklatanten Prognose-Versagen, wie wir es gerade in Bezug auf die fatale Fehleinschätzung in Afghanistan sehen, wären Außenminister und Verteidigungsministerin bloß Bauernopfer. Der Fisch … (den Satz dürfen Sie selbst vervollständigen).

Mit dem schnöden Im-Stich-lassen vieler Helfer und derer Familien endet die Ära Merkel unrühmlich.

PS. lasst die Afghanen bei uns rein! Vor allem die Kinder und Frauen. Für das Desaster am Hindukusch sind wir Deutsche mehr verantwortlich als die bitterarmen afghanischen Nachbarländer, die nun die Menschenströme aufnehmen und für den reichen Westen die Flüchtlingssuppe mal wieder auslöffeln sollen.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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