Europa
Gastkolumnist Axel Weiß über die Notwendigkeit eines emanzipierten Europas.
(Foto: Axel Weiß)
Die gute Nachricht: Es geht voran mit diesem großartigen Kontinent. Und nicht nur das. „Planet first!“, wie Emmanuel Macron kürzlich sagte. Ein exzellentes und effizientes statement gegen Donald Trump und dessen rücksichtslose Politik in Amerika. Ja, Europa kann – und muss – sich jetzt endlich emanzipieren.
Der andere Pol des Phänomens: Bloß wie?
Es gibt so viele hochkomplexe Baustellen in der Europäischen Union, dass man nur allzu leicht den Überblick verlieren könnte. Doch auch das ändert nichts daran, dass es spätestens jetzt nur noch nach vorne gehen kann, wenn es überhaupt gehen soll. Zurücksehen und -sehnen in frühere Zeiten ist nicht mehr drin.
Wir haben gerade mal noch fünf Jahre Zeit, so viel Raum hat die Wahl in Frankreich Europa geschenkt. Längst überfällige Reformen müssen jetzt entschlossen, klug und weitblickend vorangebracht werden, sonst wird Europa wohl für lange Zeit in der Bedeutungslosigkeit versinken.
Die politischen Lösungskonzepte und sozialen Konsequenzen, die derzeit im Kern des supranationalen Gebildes Europa entstehen, sind zukunftsweisend für die nächsten Generationen, die alle Vorzüge der offenen Grenzen und einer gemeinsamen Währung nutzen und weiterentwickeln werden. Diese Zukunft kann nur mit einer wesentlich besseren Aufklärung, mehr Transparenz, mehr direkter Demokratie, mit einer offeneren und positiveren Haltung als bisher gemeistert werden. Mit großem Herzen und reiner Vernunft also, aber niemals mit Missgunst und Hass.
In vielen sozialen Netzwerken gelten die herkömmlichen Qualitätsmedien paradoxerweise gerade als jene, die scheinbar die Wahrheit verzerren und all das ausblenden, was sie nicht auf der Tagesordnung haben möchten. Der Brexit und die Wahl in USA haben eindrücklich gezeigt, was Europa bevorsteht, wenn es nicht endlich erwachsen wird.
Vielleicht ist es deshalb an der Zeit, jetzt grundsätzlich und mutig vorwärtsschauend aus den Fehlentwicklungen und Versäumnissen der Vergangenheit zu lernen.
Oberstes Ziel jeglicher modernen und demokratisch-zivilisatorischen Politik ist der Frieden.
Ohne Frieden keine Demokratie. Wenn zunehmend demokratiefeindliche bis diktatorische Kräfte wie Trump, Putin und Erdogan das politische Weltgeschehen bestimmen, muss Europa im gleichen Maße selbstbewusster, großzügiger und selbstverantwortlicher werden. Wenn Demokratie und allgemeine Menschenrechte unsere zentralen Werte und gesellschaftlichen Leitmotive bleiben sollen, sollten wir aufhören zu jammern und die kleinlichen aber leider immer manipulativeren und nationalistischeren Isolationstendenzen jetzt mit konstruktiven und glaubwürdigen Visionen übertreffen und hinter uns lassen.
Erste Großbaustelle: Brexit.
Was mit Großbritannien passiert ist, war schlicht verantwortungslos. Cameron hätte die Wähler niemals mit einer derartig weitreichenden politischen Entscheidung konfrontieren dürfen – zumindest nicht in einem einfachen Mehrheitssystem (angesichts der Bedeutung dieses Ereignisses hätte dazu eine zwei-Drittel-Mehrheit vorausgesetzt werden müssen) und schon gar nicht aus innerpolitischen Machtmotiven. Die Meinungen in der Öffentlichkeit waren stets fragil und änderten sich alle paar Wochen. Die Brexit-Wähler hätten Figuren wie Farage und Johnson auch nicht soviel Glauben schenken dürfen.
Die sachlicheren und vielschichtigeren Argumente der Brexit-Gegner bzw. Proeuropäer haben letztlich gegen die vereinfachenden und missgünstigen Parolen und Feindbilder der anderen Seite ,verloren‘. Das spielte sich durchaus ähnlich ab wie während der Wahl in Amerika. Natürlich haben sich ganz unterschiedliche Gründe für die Entstehung der aktuellen Situation in beiden Ländern gezeigt. Das Ergebnis ist aber in vielen Bereichen ähnlich – insbesondere für die Menschen am untersten Rand, die Armen und im Grunde Chancenlosen. Man hätte Großbritannien (und Europa) von Herzen ein anderes Ergebnis gewünscht. Doch das bei den Brexit-Befürwortern so oft benutzte Argument der echten Demokratie hinkt. Was ist daran wirklich demokratisch, wenn ein paar mehrheitliche Prozent schlechtinformierter Briten ihrem allgemeinen Unmut aufgrund der Unzufriedenheit mit der Situation in ihrem Land freien Lauf lassen und solche wichtigen Entscheidungen sozusagen aus dem Bauch für unabsehbar lange Zeit festlegen können? Wenn ich dort selbst leben würde, gälte mein Herz wohl eher den Schotten oder auch den Londonern, die sich ebenso mehrheitlich für den Verbleib in Europa ausgesprochen hatten. Diesen Menschen wird jetzt sozusagen ohne demokratische Möglichkeit zur Gegenwehr ihr europäischer Pass geraubt. Ein missglücktes Machtspiel des saturierten und konservativen Teil des Landes, indem dieser den sich abgehängt fühlenden Bürgern eine in weiten Teilen irrationale Angst vor der EU einimpfte, das europäische Parlament mehr oder weniger geschickt für ihre eigenen politischen Versäumnisse verantwortlich machte und viele Dinge versprach, die von Anfang an nicht gehalten werden sollten (ein illustres Beispiel war die 350 Millionen Pfund Lüge).
Auf dem Festland hat man dies den rationalen Briten bis zum Ergebnis des Referendums nicht zugetraut. Aber es ist jetzt wie es jetzt ist und Europa muss sich nun eben auch der damit verbundenen Chancen bewusst werden, wie z. B. dem Wegfall bisheriger englischer Blockaden in Europa. An erster Stelle wäre da die Finanztransaktionssteuer auf Geldgeschäfte zu erwähnen, die schon immer von progressiven Kräften – vor allem in Frankreich – gefordert wurde. Sie ist jetzt auf der Tagesordnung und könnte eine weitere potentielle Bankenkrise verhindern.
Deutschland und Frankreich streben spätestens jetzt, nach Trumps Herabwürdigung des Nato Bündnisses, konkret eine zentrale europäische Außen- und Verteidigungspolitik an. Das ist eine weitere Chance und im günstigsten Falle konstruktive Antwort auf die Erfolge der Populisten. Die 2%-Forderungen unter Trump müssen Europa im Grunde nicht wirklich beeindrucken. Was soll die extrem teure Anschaffung jeder Menge weiterer Panzer und Flugzeuge denn tatsächlich bringen? Wenn Russland jemals ernsthaft irgendeine militärische Ausdehnung seines Machtbereiches in Osteuropa planen sollte, wären auch aufgestockte NATO-Einsatzmittel nicht nah und rechtzeitig genug dran, um eine derartige Schaffung von Fakten zu verhindern. Doch das ist äußerst unwahrscheinlich. Putin bewegt sich hart und leider auch sehr geschickt an der Grenze zur Diktatur, aber er ist alles andere als dumm und kurzsichtig. Vielleicht ist eine symbolische Politik der Stärke tatsächlich ein Druckmittel gegenüber Putin, doch mittelfristig wäre die weitaus bessere Prophylaxe eine zweckorientierte und konstruktive Annäherung beider Blöcke.
Würde man jene ungeheuren Aufrüstungsmittel tatsächlich in echte Kriegs – und Terrorverhinderungsprojekte wie eine nachhaltige Entwicklungshilfe, Schulen und Krankenhäuser in den Krisenregionen des Nahen Ostens und Afrika stecken, hätte man eine zukunftsfähige Vision von Humanität und Klugheit im transnationalen Politikgeschehen vorzuweisen. Gleichzeitig würde man damit die künftigen Migrationsbewegungen in jenen Ländern langfristig positiv beeinflussen und den Opfern von Kriegs- und Klientelpolitik eine Zukunftschance in ihren eigenen Ländern geben. Das würde nicht nur unserem Gewissen helfen, sondern auch unserer Sicherheit dienen. Den globalen Terror wird man auf Dauer wohl nur mit dem Austrocknen der entsprechenden Geldquellen und dem Aufbau von vernünftigen Infrastrukturen in den Herkunftsregionen bekämpfen können.
Das sehen europäische Rechtspopulisten und Nationalisten wie AfD in Deutschland, Front National in Frankreich, Ukip in Großbritannien, Lega Nord in Italien, Fidesz in Ungarn, PiS in Polen und einige andere naturgemäß ganz anders. Sie würden sich viel lieber komplett abschotten, ihre nationalen Armeen massiv aufrüsten und gleichzeitig demütig ihren Führungsidolen Trump und Putin huldigen (hier überschneiden sich erstaunlich viele Interessen von rechts und links). Mit Europa oder Vernunft hat das aber nichts zu tun. Unter jenen Machthabern sind interne Kritiker nicht nur nicht erwünscht, sondern werden oft massiv unterdrückt. Die EU hingegen leistet sich intern durchaus scharfe Kritiker wie z. B. den Ukip Abgeordneten Farage, der sich nicht zu schade war und ist, ständig Europa zu beschimpfen und zu beleidigen, obwohl er selbst über 15 Jahre Mitglied des europäischen Hauses war (was im Übrigen für die europäische Demokratie spricht).
Deutschland muss lernen und sich bewegen.
Die vornehmlich deutsche Austeritätspolitik im Zusammenhang mit Griechenland hat einen weiteren Graben erzeugt. Man ließ zu, dass dieses Land in seiner wirtschaftlichen Kraft abgewürgt wurde und ließ griechische Rentner und Jugendliche ungerührt verarmen. Man sah zu, wie die Flüchtenden dort aufschlugen und noch immer unter unwürdigen Verhältnissen an den Grenzen zur Türkei verelenden, ohne Hilfe aus den meisten europäischen Ländern – das erinnert fatal an die sechs Jahre Lampedusa. Auch wenn konkrete Hilfe mittlerweile vor allem aus dem reichen Deutschland kommt, ist das Problem mehr als schlecht angegangen worden und schon gar kein Ruhmesblatt für künftige Politikvisionen. Ein radikaler Schuldenschnitt wäre möglicherweise die einzige Lösung gewesen, die Griechenland mittelfristig wieder auf eigene Beine gestellt hätte. Vielleicht hätte man das Land wirklich für eine Weile aus der EU Währungsgemeinschaft entlassen müssen, um ihm bei gleichzeitiger Unterstützung in der Flüchtlingsfrage die Chance zur Emanzipation zu verschaffen.
Hätte Europa in dieser Frage überhaupt (und gleich) zusammengehalten, dann hätte man die Folgen der einseitigen und kurzsichtigen Kriegspolitik der Amerikaner damals und vor allem die zynischen Kriegsaktivitäten der Russen heute im Nahen Osten abmildern bzw. verhindern können. Deutschland steht mit der humanistischen Aufnahme von Notflüchtlingen längst alleine da. Nachdem Schweden und Österreich, beide an dieser an sich weitblickenden Haltung zunächst intensiv beteiligt, längst ihren Kurs geändert haben, ist es jetzt noch unwahrscheinlicher als zu einem früheren Zeitpunkt, dass das deutsche Beispiel irgendeinen anderen europäischen Staat überzeugen und mitreißen würde. Es war sicherlich ein großer Fehler der deutschen Kanzlerin, die anderen Mitgliedsstaaten nicht von Anfang an gleichberechtigt miteinzubeziehen.
An dieser so schwierigen Frage des richtigen Umgangs mit den vor Krieg und bitterster Armut Flüchtenden, die in Zukunft wahrscheinlich in noch deutlich größerer Zahl aus Afrika kommen werden, kann und wird sich letztlich das Schicksal des modernen Europas entscheiden.
Man kann am Beispiel Griechenland sowie der Flüchtlingsproblematik leicht das Gelingen des vereinten Europa Konzepts in Frage stellen. Doch niemand verfügt über eine bessere Zukunftsalternative als ein nachhaltig geeintes Europa. Im Gegenteil: heute sind die Bedingungen unter dem Strich besser als jemals zuvor. Wir könnten diese Debatte jetzt gar nicht führen, wenn sich Le Pen und der FN in Frankreich an die Spitze gesetzt hätten. Durch Macrons Erfolg bei der Präsidentschaftswahl und der nachfolgenden absoluten Mehrheit seiner Bewegung im Parlament ist Deutschland jetzt endgültig in einer Führungsrolle – ob es das will oder nicht.
Ohne ein einigermaßen geeintes Europa würden die lokalen Konflikte über kurz oder lang kriegerisch eskalieren und damit die Reste der europäischen Demokratie auslöschen. Eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik ist nicht nur erstmals möglich, sondern dringend geboten (und letztlich sogar weniger kostenintensiv als die vielen kleineren nationalen Armeen). Wenn, wie jetzt, die meisten Balkanstaaten nur noch EU-Hilfen nehmen und nichts mehr an das große Bündnis zurückgeben wollen, dann muss man eben auch über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten nachdenken. Das würde Ungarn und Polen sicher weitaus mehr beeindrucken als der stets gutgemeinte aber zynisch ignorierte Ruf nach mehr Menschlichkeit.
Und mit der Korruption muss nun wirklich Schluss gemacht werden. Es gibt dazu ja durchaus konkrete EU-Lösungsansätze, doch in den Internet Medien und dem derzeitig fast flächendeckenden ,fake news‘-Phänomen werden diese gerne unter Verschluss gehalten, um die sorgsam gepflegten Feindbilder der geeinten Europagegner zu erhalten.
Fehlende Transparenz im Lobbyismus ist eine der wesentlichen Schwachstellen in der Europäischen Union. Unternehmen und ihre Lobbyisten waren bislang nicht verpflichtet, sich offiziell zu registrieren, Namen und Unternehmenszugehörigkeit preiszugeben oder zu veröffentlichen, wie viel Gelder sie in ihre Lobbyarbeit investieren. Ausgehandelte Verpflichtungen und Versprechen zwischen ihnen und EU-Funktionären sind weitgehend geheim. Im Anti-Korruptionsbericht der Europäischen Kommission 2014 ist von 120 Milliarden Euro die Rede – diese Summe gehe der europäischen Wirtschaft jedes Jahr aufgrund von Korruption und Bestechung verloren. Hier gibt es Erfolge: Inzwischen ist es hochrangigen Vertretern der Kommission verboten, sich mit unregistrierten Lobbyisten zu treffen. Zudem wurde eine Karenzzeit von 12 -18 Monaten für die Politiker beschlossen, die in den Privatsektor wechseln. Die europäische Demokratie muss direkter werden – sowohl in ihren Wahlstrukturen wie auch in ihrer Transparenz.
Es wäre naiv zu glauben, dass europäische Politiker nicht auch anfällig für das verlockende Spiel der Macht wären. Aber wenn jemand auf diesem Planeten wirklich noch die basalen Menschenrechte seiner Bürger im großen Stil schützen will und kann, dann ist es die reformierte Europäische Gemeinschaft. Kriminelle Vergehen gegen Ausländer, Homosexuelle, Kriegsflüchtlinge und andauernde Verstöße gegen demokratische Strukturen wie die Presse und Meinungsfreiheit oder gar gegenüber Verfassungsgerichten wie in Ungarn und Polen dürfen nicht toleriert werden. Europa muss zusammenrücken und zusammenhalten. Gefährlich wird am Ende vor allem die Toleranz gegenüber Menschenrechtsverletzungen. Politisches Ringen ist immer ein intensiver Kampf um die besten Lösungen. Es ist klar, dass in Europa keine paradiesischen Zustände herrschen, doch eine Alternative haben wir nicht. Hätten wir sie, sollten wir sie wählen.
Vieles fehlt in unserem Europa. Beispielsweise ehrliche Information über das, was (noch) schlecht läuft und dringend verbessert werden müsste. Es würde aber auch schon helfen, durchaus selbstbewusst darüber aufzuklären, was die europäische Gemeinschaft bereits an großen sozialen Leistungen für so viele Menschen geschaffen hat. Dies würde zudem das unangemessene Feindbild, das besonders in England erfolgreich gepflegt wurde, erheblich abschwächen.
Bei aller Kritik an Europa haben seine Gegner offenbar nie richtig verstanden, wie wichtig diese Institution ist, um die Menschenrechte zu schützen und realen Krieg prophylaktisch und dauerhaft zu verhindern. Jetzt ist die große Chance da – wenn wir es richtig anstellen.
Auch wenn das riesige Europa noch lange nicht so ist, wie wir es gerne hätten – es ist das einzige, das wir haben.
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Hintergrundinformationen / weiterführende Links:
• www.bpb.de/apuz/30612/europa
• www.bpb.de/apuz/30621/die-eu-zwischen-legitimitaet-und-effektivitaet?p=all
• www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/245449/fakten-und-wissen-in-der-postmoderne
• www.zeit.de/2017/24/eu-reform-krise-demokratie-politik
• www.zeit.de/feature/populismus-extremismus-europa
• www.zeit.de/kultur/2017-06/demokratie-parteien-politik-rechtsextremismus
• www.theguardian.com/commentisfree/2017/jun/20/authoritarianism-trump-resistance-defeat
• www.theguardian.com/commentisfree/2017/may/29/donald-trump-uniting-europe-eu?CMP=fb_gu
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