Judenhass als Teil der Erziehung
Kann es sein, dass Geschichtsunterricht an deutschen Schulen antiisraelische und auch antisemitische Haltungen unter Jugendlichen verstärkt, fragt unser Gastautor Burak Yilmaz. In Duisburg arbeitet er als Gruppenleiter beim Projekt „Junge Muslime in Auschwitz“. Wie arbeitet man mit Jugendlichen, die zum Judenhass erzogen wurden?
„Es gibt Menschen, die dein Land wollen!“, sagt Cem zu seinem Sohn Musa. „Mit furchtbaren Hakennasen. Es sind keine Menschen, es sind Kreaturen!“, schreit Cem ihn weiter an. Musa ist ein kleines Kind, spricht seinem Vater die Worte nach und bekommt von diesem eine Waffe in die Hand gedrückt. „Diese widerlichen Juden! Ich hasse sie abgrundtief, ich hasse sie!“, verabschiedet sich Cem aus der Szene. Sein Sohn Musa hat die Waffe in der Hand, richtet sich auf und wiederholt in einer Beschwörungsformel mehrmals die Worte seines Vaters: „Juden, Ich hasse sie! Ich hasse sie! Ich hasse sie!“ Der Hass ist übertragen.
Botschaft des Hasses
Diese Szene aus unserem Theaterstück „Coexist“ zeigt ein Grundmuster der Erziehung, das sich in abgeschwächter Form auch in patriarchalen Familien in Teilen der muslimischen Community wiederfindet. Das Kind bekommt eine Verheißung auf Macht und Besitz, während man sich gemeinsam auf einen Feind einschwört. Hass wird hier begriffen als Notwendigkeit das Eigene zu bewahren und zu schützen. Der Vater grenzt seinen Sohn gegen das Andere ab, das als das absolut Böse vermittelt wird. Er kreiert ein Feindbild, an dem man seine Aggressionen auslassen kann und gibt auf subtile Art und Weise seinem Kind die Einstellung mit: „Wenn du mich liebst, dann folgst du meiner Hassbotschaft!“
Dieses Phänomen kennen wir seit gut fünf Jahren aus unserer pädagogischen Arbeit im Duisburger Norden, was auch mit der Grund dafür war, dass wir das Projekt „Junge Muslime in Auschwitz“ ins Leben gerufen haben, das seit 2011 in Duisburg existiert.
Das Auschwitzprojekt, das wir in Kooperation mit Ofju e.V. und HeRoes Duisburg seit 2011 leiten, arbeitet mit anderen pädagogischen Methoden als das Schulsystem, denn wir gehen davon aus, dass muslimische Jugendliche in Bezug auf ein Geschichtsbewusstsein andere Lernvoraussetzungen mitbringen als deutsch-deutsche Jugendliche. In ihrer Sozialisation sind diejenigen geschichtlichen Erinnerungen, die ihre Identität stärken so sehr im Vordergrund, dass identitätsschwächende Erinnerungen tabuisiert sind. Ohne, dass dies wertend klingen soll, gibt es dafür einige signifikante Beispiele.
Heroische Erinnerungen
Der Befreiungskrieg Atatürks steht hier stark im Vordergrund, die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen oder die Unabhängigkeitskriege der nordafrikanischen Länder finden breiten Raum. Heroische Erinnerungen über Befreiung sind ein zentraler Punkt in der Erinnerungskultur, wohingegen Erinnerungen tabuisiert sind, in denen das eigene Volk Täter war. Über das Sklavereisystem der Osmanen oder über den Genozid an den Armeniern wird nicht gesprochen, es lastet ein kollektives Schweigen auf diesen Themen und es kann in den jeweiligen Ländern sogar gesetzlich unter Strafe stehen, sie anzusprechen.
Die Fixierung auf diese Geschichtsnarrative erreicht insbesondere beim Thema Israel seinen Höhepunkt, weil nicht das Leid der Juden während und vor dem Holocaust im Zentrum steht, stattdessen werden sie als Täter und Besatzer im Nahostkonflikt wahrgenommen. Besonders in muslimischen Familien, die patriarchale Familienstrukturen aufweisen, ist das Feindbild Jude und Israel ausgeprägt, in Teilen sogar so weit, dass Judenhass zum Erziehungsprogramm gehört, wie eben oben in der Eingangsszene des Theaterstücks. Musas Vater Cem vermittelt seinem Kind nicht nur ein klares Feindbild, sondern auch klare Narrative in Bezug auf sein Geschichtsbewusstsein. Wir Araber sind die Opfer, die Juden sind die Täter.
Mit diesem Narrativ im Kopf melden sich auch viele Jugendliche in unserem Projekt an, die wir über Werbung an Schulen erreichen. Auch wenn ihr Geschichtsbild für sie abgeschlossen scheint, wollen sie sich trotzdem mit dem Holocaust beschäftigen. Gerade in den letzten drei Jahren merken wir, dass die Anfrage so hoch ist, dass wir mit dem Angebot nicht mehr nachkommen, da pro Jahr „nur“ zehn junge Männer mitfahren können.
Biografiearbeit
Wir haben nicht den Ansatz wie in der Schule, dass Geschichte ausschließlich aus einer deutsch-deutschen Perspektive beigebracht wird, auch wenn diese Perspektive sehr wichtig ist. Der Zugang zu diesem Thema bei den meisten Jugendlichen aus den jeweiligen Communities erfolgt über den Nahostkonflikt, insbesondere wenn ihre Eltern aufgrund der zahlreichen Kriege aus ihren Heimatländern fliehen mussten. Es erfolgt am Anfang eine intensive Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Biografie, der Biografie der Eltern und der Biografie der Großeltern.
Diese Biografiearbeit ist so wichtig, weil hier sichtbar wird, wie geschichtliche Ereignisse wie der Militärputsch 1980 in der Türkei, die islamische Revolution im Iran 1979 oder das Massaker von Sabra und Shatila einen massiven Einfluss auf die eigene Biografie und Familiengeschichte haben können. Geschichte und Biografie liegen hier ganz nah beieinander und im Austausch mit anderen Jugendlichen erinnert man sich im Dialog, macht Vergleiche und zieht schon mal seine eigenen Schlüsse. Diesen Raum für intensive Biografiearbeit gibt es in der Schule nicht und sie ist auch nicht Bestandteil bei der Vermittlung von Geschichte. Doch es müsste für alle ein unverzichtbarer Bestandteil des Unterrichts sein, wenn man eine historisch-kritische Sichtweise vermitteln will. Denn so wie wir in unserem Projekt bei der Prägung durch unsere Familienherkunft und deren Geschichte ansetzen, müsste es für alle Schüler_innen erfolgen.
In dieser emotionalen Mengenlage, wo es auch um Opfersensibilisierung und Täterstrategien geht, nehmen erste schauspielerische Übungen ihren Platz, um durch das Eintauchen in verschiedene Rollen Empathie zu entwickeln. Empathie entwickeln für Ungleichwertigkeitsvorstellungen in jeder Form, ob es zwischen Muslimen und Juden, Mehrheit und Minderheit oder Mann und Frau ist. Nach einer dreimonatigen Vorbereitung erfolgt dann die gemeinsame Reise nach Auschwitz.
Auschwitz – die Geschichte der Anderen
Auch wenn viele der Teilnehmer die deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Schule gut kennen, spricht sie sie nicht im erwünschten Maße an, weil sie sich aufgrund ihrer Diskriminierungserfahrungen nicht damit identifizieren können. Dadurch, dass sie sich in Deutschland oftmals aufgrund ihrer Herkunft stigmatisiert fühlen, entwickeln sie eine gewisse Distanz. Um einen Jugendlichen von uns zu zitieren, der dieses Gefühl ziemlich treffend beschrieb: „Wieso soll ich mich für deutsche Geschichte interessieren, wenn Lehrer mir jeden Tag das Gefühl geben, kein richtiger Deutscher zu sein?“
Empathie für den Feind
In Auschwitz aber wird zum ersten Mal das Ausmaß der Judenverfolgung spürbar. Wir haben bei der letzten Fahrt folgendes Schaubild entwickelt, um die Gefühle, die man in Auschwitz hat, veranschaulichen zu können. Wir nennen dieses Schaubild den „Auschwitz-braincrash“.
Es ist so: Wenn man das Wort Juden oder Israel hört, blinkt eine Box im Kopf, die mit starken Hass- und Abneigungsgefühlen gefüllt ist. Es ist die einzige Box zu diesem Thema die existiert und auch das einzige Gefühl. Dann auf einmal, im Konzentrationslager, kommt plötzlich eine zweite Box dazu, obwohl es da keinen Raum mehr gibt für weitere Emotionen. Es ist eine zweite Box, die einen stark verunsichert, weil sie mit Gefühlen wie Empathie und Mitleid gefüllt ist. Man entwickelt auf einmal Empathie für den Feind, um es überspitzt zu sagen.
Mal ist es so, dass die erste Box blinkt, aber die zweite Box blinkt immer stärker und am schlimmsten ist es dann, wenn auf einmal beide Boxen blinken und man nicht mehr weiß, was man denken soll. Das ist dann in einigen Fällen genau der Moment, wo man seine gesamte Sozialisation in Frage stellt und sich fragt: „Was mache ich eigentlich hier? Was habe ich hier verloren?“
In Auschwitz zum Deutschen werden
Auschwitz geht auch sie als diverskulturelle etwas an, denn in Auschwitz werden die Jugendlichen, die an der Fahrt teilnehmen und die in Deutschland nie als Deutsche wahrgenommen werden – ausgerechnet in Auschwitz – das erste Mal als Deutsche wahrgenommen. Völlig unerwartet wird man auf einmal zum Deutschen. Besonders in der Mischung Deutscher und gleichzeitig Araber bzw. Muslim liegt eine große Spannung, da man in Auschwitz auch das erste Mal Israelis trifft. Eine Mischung, die für Israelis in Auschwitz eigentlich nicht schlimmer sein könnte. Ein Jugendlicher beschrieb diese Situation mit den Worten: „Eigentlich wollte ich viel länger mit den Israelis reden, ihnen mehr aussprechen als mein Beileid, aber ehrlich gesagt habe ich mich nicht getraut. Irgendetwas hat mich gehemmt und ich war total verunsichert.“ Mit diesen intensiven, zum größten Teil sehr verwirrten Gefühlen kommt man dann nach Hause.
Die ersten zwei Wochen nach Auschwitz sind eigentlich die entscheidenden, weil genau hier Geschichte in die eigene Biografie hinein kracht. Im anschließenden Theaterprojekt, das ungefähr drei bis sechs Monate dauert, steht die eigene Identität im Vordergrund sowie eine lange Reflexion der Gefühle und Gedanken, die man aus Auschwitz mitgebracht hat. Es tauchen Fragen auf wie: Vielleicht bin ich ja doch deutsch? Wieso gibt es in Deutschland immer noch Rassismus, nach dem ich gesehen habe, wozu das alles führen kann? Woher kommt dieser Judenhass, mit dem ich sozialisiert wurde?
Woher kommt der Judenhass?
Genau diese Fragen und das Tagebuch, das die Jugendlichen in Auschwitz geführt haben, hilft ihnen, anhand dieses Stoffes unter Anleitung der deutsch-ukrainischen Theaterpädagogin Marina Gerber eigene Rollen zu entwickeln, Szenen zu entwerfen und am Ende ein gesamtes Theaterstück selbst zu schreiben und zu spielen. Bei der letzten Gruppe stand die Beziehung der Nazis zu den Arabern im Vordergrund, denn die Verfolgung der Juden war für die Nazis nicht nur eine europäische Aufgabe, sondern auch eine, die sich in den Nahen Osten erstrecken sollte.
Cem, der von seinem Vater mit Judenhass indoktriniert wird, schließt später im Stück Freundschaft mit einem Juden. Er wird jedoch von seinem Vater erwischt und beide werden vom hasserfüllten Vater erschossen, weil er sich von seinem eigenen Sohn hintergangen fühlt.
Es ist ein psychoanalytisches Theaterstück entstanden, denn die Handlung ist in einen Alptraum eingebettet. Es geht um die Angst, als Verräter oder Nestbeschmutzer aus den eigenen Reihen diffamiert und auch schikaniert zu werden. Diese Ängste sind da. Man will Juden und Israelis kennenlernen, doch ist geplagt von Schuldgefühlen. Wir wollen genau diese Ängste sichtbar machen, auf die Bühne bringen und der Öffentlichkeit präsentieren, weil das der Kern ist, wieso Versöhnung scheitert.
Wir wollen mit diesem Theaterstück muslimischen Jugendlichen eine Plattform geben, um sich von diesem Hass zu emanzipieren und einen Weg der Versöhnung einzuschlagen. Wir wollen auf Erziehungsmethoden aufmerksam machen, die Kinder in schwarz weiß Denken leitet und auf Schuldgefühlen basiert und nicht nur innerhalb der muslimischen Community wollen wir einen ehrlichen und kritischen Diskurs über das Thema Antisemitismus.
Verstärkt der Geschichtsunterricht Ressentiments?
Unser Anspruch ist es, Teil der deutschen Erinnerungskultur zu sein, die sich aber inklusiv versteht und mehrere Perspektiven zulässt. Außerdem wollen wir uns auch unbequeme Fragen stellen: Ist Pegida vielleicht ein Produkt gescheiterten kollektiven Erinnerns, weil wir Bürger aus den Neuen Bundesländern aus dem Prozess des Erinnerns ausgeschlossen haben? Kann es sein, dass Geschichtsunterricht an deutschen Schulen antiisraelische und auch antisemitische Haltungen unter Jugendlichen verstärkt, weil die Entwicklungen nach dem Holocaust und die Staatsgründung Israels keinen Raum im Unterricht finden? Wieso nimmt man den Nahostkonflikt nicht in die Lehrpläne auf, anstatt dieses Feld Videos auf Youtube und Facebook zu überlassen, die voller Verschwörungstheorien, aber unter Jugendlichen sehr beliebt sind?
Wie kann es sein, dass jüdische Einrichtungen immer noch unter Polizeischutz stehen müssen? Wir leben in einem Land, in dem 70 Jahre nach dem Holocaust jüdische Jugendorganisationen von Sicherheitsleuten begleitet werden müssen, wenn sie Freizeitaktivitäten durchführen wollen. Aus Angst davor angegriffen zu werden. Können wir da ernsthaft drüber reden, dass wir in einem „freien“ Land leben? Für wen gilt diese Freiheit?
Viele Menschen halten diesen Zustand für „normal“, für uns ist er jedoch nicht hinnehmbar. Antisemitismus ist nicht nur ein gesamtgesellschaftliches Problem, sondern gerade heute eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung.
Aufklärungsarbeit und Versöhnung fängt bei jedem Einzelnen an. Das ist auch die Botschaft unseres Theaterstückes und wir wollen für uns den ersten Schritt machen.
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