Die große Gier

Geisterspiele sind wie Sex ohne Partner, sagt Kolumnist Henning Hirsch und schlägt vor, dass der Fußball die Corona-Zeit nutzen sollte, um den Spielergehälter- und Transfersummenwahnsinn wieder auf Normalmaß runterzufahren


„Geisterspiele sind besser als gar kein Fußball“, sagt meine alte Schulfreundin.
„Geisterspiele sind der größte Scheiß“, sage ich.
„Dir kann man es auch nie recht machen“, sagt sie.

Der stets lauernde Pleitegeier

Anders als in anderen Sportarten und in benachbarten Ligen sträubt sich der deutsche Profifußball mit allen ihm zur Verfügung stehenden Torwarthandschuhen und Schienbeinschonern gegen einen vorzeitigen Saisonabbruch. Mit der Begründung, dass bei Wegfall der dritten Tranche der TV-Gelder einem Viertel oder gar Drittel der Vereine der Gang zum Konkursgericht droht. Nicht etwa mit den Argumenten, dass die Spieler ganz heiß darauf sind, endlich wieder auf den Rasen zu dürfen oder die Fans wochenlang ohne Droge Fußball in Depression verfallen. Nein, das Geld muss weiter sprudeln. Erstmal ne ehrliche Aussage. Immerhin. Als langjähriger Bundesligakunde fragt man sich jedoch, ob das tatsächlich eine gute Idee ist, die noch fehlenden neun Spieltage in Zeiten von Corona vor leeren Rängen durchzuziehen. Wer, Hand aufs Herz, mag Derbys in mucksmäuschenstillen Stadien anschauen? Also ich nicht. Und ich schaue mir sonst echt viel Fußball an. Warum nicht Saisonende Mitte März? Warum nicht Meister und Abstieg anhand des aktuellen Tabellenstands? Warum nicht alternativ gar kein Meister und gar kein Abstieg?

Weil sonst die Kohle nicht reicht, sagen Sie? Schon klar, es geht halt mal wieder um die Kohle. Es geht darum, die astronomischen Spielergehälter zu bezahlen, es geht darum, die Insolvenz zu vermeiden, es geht darum, bis zum 30. Juni mit allem durch zu sein, weil dann viele Verträge auslaufen, es geht darum, im Sommer wieder jede Menge Euros im Transfermarkt versenken zu können. Darum geht es. Aber es geht eben nicht darum, was die Fans von Geisterspielen halten. Es geht nicht darum, ob die Sonderbehandlung des Fußballs ein gutes gesellschaftspolitisches Signal ist. Es geht nicht darum, ob sich einige Akteure eventuell doch auf dem Rasen mit Covid-19 infizieren könnten. Nein, um die letztgenannten drei Dinge geht es ganz und gar nicht.

Weshalb darf der (Profi-) Fußball etwas, das einigen Branchen nach wie vor verwehrt ist? Weshalb werden Fußballer, die ja bis zum Sommer auch im Home Office trainieren und sich fithalten könnten, mehr getestet als Kranken- und Pflegepersonal? Weil die Liga – im Unterschied zu Krankenhäusern und Altersheimen – genügend Geld hat, um für ihre Leute sowas zu finanzieren, sagen Sie? Jap, antworte ich. Genauso ist es.

Vom Kapitalismus zum Turbokapitalismus

Fußball ist Turbokapitalismus. Okay, war er schon in meiner Jugend, als ich noch im Müngersdorfer Stadion in der Südkurve stand und mit meinen Idolen Overath, Flohe und Müller (Dieter, nicht Gerd) mitfieberte und mitlitt.  Aber, es war damals weniger Turbo. Sowohl auf dem Rasen ging es gemächlicher zu – dass Overath ständig aus der Tiefe des Raums kommt, wäre bei all dem Usain-Bolt-Supertempo heute ein Ding der Unmöglichkeit (das war gar nicht Overath, sondern Netzer, sagen Sie? Oh!) –, als auch in Sachen Kapitalismus war man noch nicht so weit wie heute. Wenn man das Geschäftsgebaren, das in den 70ern üblich war, demjenigen von 2020 gegenüberstellt, mutet das an, als ob man den Betrieb in der Schalterhalle einer Kreissparkasse mit der Hektik, die in einem New Yorker Hedgefonds herrscht, kurz bevor die Börse schließt, vergleicht. Profifußball war von Beginn an Kapitalismus. Der dumme 11-Freunde-Scheiß stimmte nie. Stimmte schon nicht, als der Spruch zum ersten Mal über die Lippen von Sepp Herberger, oder wer sonst sich das ausgedacht haben mag, kam. Fußballteams sind Zweckgemeinschaften. Jedoch bestanden die Mannschaften damals zu 80 Prozent aus lokalen/ regionalen Gewächsen, lag die durchschnittliche Verweildauer der Spieler bei den Clubs um 500 Prozent höher, kostete die Schülerkarte Stehplatz Süd 4 Mark und ein FC-Schal nen Zehner, wenn man nicht von seiner Oma einen selbstgestrickten zu Weihnachten geschenkt bekam. Pausenbier und -bratwurst waren erschwinglich. Niemand musste ein Fünftel seines Monatslohns abdrücken, nur um mal ein Stadion von Innen zu sehen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Fans als niedliches Beiwerk für ein Spektakel – und nicht als Fans – zu sehen. Es gab keine rosa und gelben Schuhe an Spielerfüßen, keine Rhetoriktrainer für standardisiertes Gewäsch vor TV-Kameras („Ich bin froh, dass ich der Mannschaft helfen durfte“), keine Spielerberater und keine Spieler, die im 3-Jahres-Rhythmus den Verein wechselten. Hätte uns damals jemand erzählt, dass in einer fernen Zukunft Clubs von kuwaitischen Scheichs, russischen Oligarchen oder US-amerikanischen Pensionsfonds übernommen werden, hätten wir ihn als Spinner ausgelacht. Sie wissen, woran man merkt, dass man alt wird, fragen Sie mich? Indem man anfängt, seine Jugend zu verklären. Stimmt, antworte ich. Deshalb höre ich an dieser Stelle auch schon wieder auf damit. Wobei die Zeit, als Overath, Flohe und Müller (Dieter!) über den Platz liefen und ne Pausenbratwurst 2 Mark kostete, für den FC nicht die schlechteste war.

Heute, wo man Fans vor allem als Choreographie und das Spiel als Event begreift, Umsätze generiert werden, von denen man damals gar nicht ad hoc gewusst hätte, wie viele Nullen an einer Milliarde dranhängen, 70 Millionen für einen Transfer als Schnäppchen gelten, die Verhandlungen mit der Fernsehindustrie über die Details der Ausstrahlungsrechte länger dauern als die Potsdamer Konferenz 1945, fällt auf, dass die Etats nicht weniger Vereine trotz dieser irrwitzigen Summen auf Kante genäht sind. Woran das liegt? Keine Ahnung; ich bin kein Wirtschaftsprüfer, sondern verdiene meine paar Kröten mit dem Schreiben kleiner Texte. Aber vermutlich wandeln die Clubs deshalb ständig am Rande der Insolvenz, weil die Darsteller gierig sind: exorbitante Spielergehälter, Transfersummen, die ans Obszöne grenzen, Akteure (Spielerberater), die niemand braucht, machen sich die Taschen voll. Und da man diesen Wahnsinn nicht mit Ticketverkauf und Merchandising allein finanzieren kann, hat man sein Überleben vom meistbietenden Bezahlsender abhängig gemacht. Ist halt so, alter Mann, sagen Sie, den Turbokapitalismus in seinem Lauf …? Mag schon so sein, antworte ich, gefallen muss es mir trotzdem nicht.

NIEMAND will Geisterspiele sehen oder Bescheidenheit wär‘ auch ne Möglichkeit

Anstatt nun Geisterspiele durchzuführen, die niemand sehen will – auch mein Kumpel Jupp, eingefleischter bis hin zu bisweilen fanatischer Effzeh-Fan seit Geburt, der sich sogar Partien gegen Sandhausen und Heidenheim in Sky anschaut, hat darauf Null Bock –, hätte die Liga ja eventuell auf folgende Lösungsmöglichkeiten kommen können: Reduzierung der Spielergehälter um 50 Prozent, Aufstockung des Solidarfonds für die finanziell besonders gebeutelten Clubs, keine Transfers im Sommer, TV-Gelder fließen anteilig jetzt als Vorschuss auf die kommende Saison. Und als Kirsche auf der Torte hätte die Liga ihre 20.000 Corona-Testsets an Krankenhäuser und Seniorenresidenzen gestiftet. Das wären Signale gewesen, die es rechtfertigen würden, über die gesellschaftspolitische Vorbildfunktion des Profifußballs mal wieder ins Gespräch zu kommen. Denn so, wie es im Moment seit Jahren läuft – welche Vorbildfunktion geht denn vom Fußball noch aus? Wie man in kurzer Zeit möglichst viel Kohle verdient, dazu kann ich mir auch einen Vortrag von Gordon Gekko anhören.

Niemand, wirklich niemand, hat den Fußball in den vergangenen Wochen derart vermisst, dass er nun nach Geisterspielen lechzt. Geisterspiele sind wie Sex ohne Partner, sind wie ein Joint ohne THC, sind wie Two and a half men ohne Charlie Sheen, sind wie Dosenravioli diavolo ohne Tabasco, sind genauso fade wie Amy-Winehouse-Songs, die nicht von Amy Winehouse gesungen werden. Geisterspiele sind etwas, das niemand braucht außer den Clubs selber, die mittlerweile Sky und DAZN genauso hilflos ausgeliefert sind wie ein Junkie seinem Hinterhof-Dealer.

Es geht bei den Geisterspielen einzig darum, die Gier einiger privilegierter Akteure zu befriedigen. Akteure, die in Zeiten von Corona alternativ auch gut und sorgenfrei auf die Hälfte ihres Gehalts und ihre Vermittlungsprovisionen hätten verzichten können, um die Saure-Gurken-Phase bis zum Spätsommer, wenn die neue Spielzeit angepfiffen wird,  zu überstehen. Nur darum geht es. Es geht nicht um die Fans oder die Gesellschaft. Richtige Fans tun sich sowas weder in ner TV-Bar noch zu Hause auf dem Sofa an.

Ich werde mir das FC-Spiel heute Nachmittag gegen Mainz definitiv NICHT anschauen. Und ich habe seit 50 Jahren noch kein einziges FC-Spiel versäumt. Ob mein kleiner Boykott die Verantwortlichen interessiert? Nein, tut er nicht. Aber die Verantwortlichen interessieren sich eh kaum noch für die richtigen Fans.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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