Europawahl – Verschenkte Stimme?

Sie haben die Nase voll von den etablierten Parteien und suchen eine Alternative? Sie haben aber noch mehr die Nase voll von der sogenannten Alternative für Deutschland? Warum nicht mal bei der Europawahl eine der kleinen Parteien wählen? Bringt nichts? Verschenkte Stimme? Das sehe ich anders.


Bild von Colin Behrens auf Pixabay

Im Zusammenhang mit der Klage von VOLT gegen die Bundeszentrale für politische Bildung, die den bekannten Wahl-O-Mat betreibt, schrieb der Kollege Henning Hirsch

Ich käme allerdings nicht auf die Idee, mir alternativ eine marxistische Splitterpartei auszusuchen, weil ich keine Lust habe, meine Stimme zu verschenken. Und genau hier stößt man übrigens auf die wahre Benachteiligung der Kleinen: der Teufel scheißt gerne auf den größten Haufen. An diesem weitverbreiteten Schwarmverhalten ändern weder die Nicht-Existenz der Sperrklausel bei der Europawahl noch die erweiterten Vergleichsmöglichkeiten beim Wahl-O-Mat das Geringste. Zudem – was nützt es mir, wenn eine Mikropartei einen (als Zahl geschrieben: 1) Abgeordneten ins EU-Parlament entsendet, während die anderen Fraktionen in Bataillonsstärke in Brüssel und Straßburg einrücken?

„Stimme verschenkt“ und „was soll ein einzelner Abgeordneter schon ausrichten“, das sind im wesentlichen die zwei Argumente, die ich in den vergangenen Wochen mehrfach gehört habe, wenn ich meine bereits erfolgte Briefwahlentscheidung mitgeteilt habe.

Wahlgeheimnis

Einige Schlaumeier meinten, wegen des Wahlgeheimnisses sei es mir verboten, meine eigene Wahlentscheidung öffentlich zu machen. Aber das ist natürlich Blödsinn. Jeder Wähler darf seine Wahlentscheidung öffentlich verkünden oder auch nicht. Da durch die Geheimheit der Stimmabgabe keine Möglichkeit besteht, die Richtigkeit dieser Mitteilung zu überprüfen, wird eine eventuelle Einschüchterung verhindert. Nur darum geht es. Wenn jemand vor der Wahl unter Druck gesetzt worden ist – Junge, in unserer Familie wählt man seit Karl dem Großen die XXX-Partei -, so kann derjenige nach seiner geheimen Stimmabgabe ohne Weiteres behaupten, die von ihm verlangte Wahl getroffen zu haben, obwohl er tatsächlich eine andere Partei gewählt hat. Okay, es mag kleine Wahllokale in Inzuchtgebieten geben, bei denen die eine Stimme für den „Feind“ dann doch auffällt, aber die könnte dann ja auch ganz wer anders abgegeben haben. Eine schönes Thema für den folgenden Stammtisch und Anlass für eine zünftige Schlägerei. Aber Scherz beiseite.

Sie können wählen was Sie wollen und Sie können darüber auch reden oder es lassen. Ganz Ihre Entscheidung.

Wechselwähler

Kommen wir zu Henning Hirschs Bedenken gegen die Wahl einer kleinen Partei. Auch ich bin der typische Wechselwähler. Das bedeutet, dass ich mir vor einer anstehenden Wahl Gedanken darüber mache, wem ich meine Stimme gebe. Das mache ich im Restaurant ja auch. Wer will schon immer dasselbe essen? Und wer will nochmal in einem Restaurant essen, wo er zuletzt schlecht bedient wurde?

Dazu schaue ich mir die bisher gewählten Parteien ganz genau an und gucke, was aus deren Wahlversprechen bei der letzten Wahl alles so geworden ist. Und das ist dann häufig recht enttäuschend. Nirgendwo werden mehr unerfüllbare Versprechen gemacht, als im Wahlkampf. Und dann schaue ich mir die Programme der zur Wahl stehenden Parteien an, soweit ich die grundsätzlich für wählbar halte. Rechts- oder Linksextremisten fallen also schon bei der Vorauswahl raus. Ebenso wie Henning, würde ich meine Stimme weder einer marxistischen noch einer rassistischen oder nationalistischen Splitterpartei geben. Aber nicht etwa, weil die so klein ist, sondern weil ich mit Verfassungsfeinden nichts anfangen kann.

Dass eine Partei neu und klein ist, bedeutet aber ja nicht, dass die nicht auch mal groß werden kann. Das haben die Grünen bewiesen, das haben in Grenzen auch die Piraten bei einigen Wahlkämpfen bewiesen. Wie schnell das gehen kann, hat auch leider die AfD bewiesen. Jede Partei fängt mal klein an.

Ideen zählen

Es ist also gerade in einer Demokratie kein Grund, eine kleine Partei nicht zu wählen. Die Demokratie lebt im Idealfall vom Wettstreit der Ideen und nicht vom Gerangel etablierter Kandidaten um ein sicheres Pöstchen für vier oder fünf Jahre. Gute Ideen sind nicht davon abhängig, wie viele Menschen die haben. Meistens entstehen die richtig großen Ideen zunächst einmal im Kopf von einzelnen Menschen. Und manchmal verschwinden ganz große Ideen im Machtgerangel einer Partei, die diese Ideen früher einmal vertreten hat, oder unter dem Einfluss einer Lobby. Nur eine Birne die leuchtet, bringt Licht ins Dunkel.

Von Urne zu Urne

Wenn zum Beispiel die SPD über die Regierungsjahre vergessen hat, was ihr Markenkern ist, dann muss sie damit zurecht kommen, dass ihr die Wähler, die sie wegen dieses Markenkerns einmal gewählt haben, weglaufen. Und wenn dann noch die treuen Stammwähler, also die, die schon immer SPD gewählt haben, weil man das in bestimmten Orten so macht und weil man im Ortsverband immer noch beim Stammtisch sein Pilsken schlürft, sich von der einen Urne zur anderen verabschieden, dann kann auch eine ehemals mächtige, große Volkspartei plötzlich nichtig und klein wirken.

Wenn eine CDU, deren scheidende Kanzlerin – die ich zuvor noch nie gewählt habe – gerade meine Sympathie für ihr pragmatisches aber auch in Teilen empathisches Verhalten geweckt hat, sich von allen Grundsätzen des christlichen verabschiedet und mit AKK eine Vorsitzende wählt, die die zehn Plagen – mit denen Gott Ägypten überzog, um den Pharao zu bewegen, Moses und sein Volk ziehen zu lassen – mit den sieben Plagen aus der Apokalypse des Johannes verwechselt (oder waren es doch die sieben Zwerge oder gar die sieben Blagen der Ursula von der Leyen? (Danke Clemens Haas)), dann bringe ich es bei allem Bekenntnis der CDU zu Europa nicht übers Herz, denen gerade jetzt meine Stimme zu geben. Außerdem hätte ich ja dann auch noch die Damen und Herren von der CSU unterstützt, was mir gar nicht gefiele.

Die Grünen hätten es, wie die Piraten oder auch Volt werden können und ich gönne ihnen auch, dass sie viele Stimmen erhalten, aber bei dieser Wahl habe ich etwas anderes gewählt.

Bei den Linken gibt es zwar, wie in fast allen anderen Parteien, auch vernünftige Leute, aber obwohl eine Publizistin, die zwar viele Bücher, aber offenbar nicht meine Kolumnen, gelesen hat, mich als „autoritären Linken“ identifiziert hat, kann ich mit der Partei im Ganzen noch nicht allzu viel anfangen. Auch das mag sich ändern.

Und dass die selbsternannte Alternative für Deutschland keine Alternative für einen Fan des Grundgesetzes sein kann, brauche ich wohl nicht näher zu erläutern.

Europäischer Traum

Ich will eine europäische Union, die wie die Bundesrepublik in der Zukunft einmal ein Bundesstaat wird, wie die vereinigten Staaten von Amerika, mit einem echten Parlament und einer echten Regierung. Die soll die für Europa wichtigen Themen erledigen, während die nationalen Parlamente und Regierungen sich weiterhin um die regionalen Dinge kümmern sollen. Einheitliche Steuergesetze, freier Warenverkehr, einheitliche soziale Absicherung, gemeinsame Asyl- und Zuwanderungspolitik und eine europäische Verteidigung. Weniger nationaler Egoismus, aber durchaus Platz für nationale Eigenheiten und Marotten. Ich hoffe auf eine europaweite Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Rentenabsicherung, um ähnliche Lebensbedingung in ganz Europa zu schaffen.

GG statt cc

Wer meine Kolumnen regelmäßig liest, der weiß, dass ich ein großer Freund unseres Grundgesetzes bin, das in der abgelaufenen Woche erfreuliche 70 Jahre alt geworden ist. Früher einmal war es recht einfach, eine Partei zu finden, in der die Freiheits- und Bürgerrechte der Verfassung eine ganz überragende Rolle spielten. Das war die FDP der sozialliberalen Koalition. Das waren Menschen wie die von mir sehr verehrte Frau Hildegard Hamm-Brücher, die die FDP wegen der Annäherung „an die antiisraelischen und einseitig propalästinensischen Positionen des Herrn Möllemann“ verließ. Das war (und ist gottlob noch) ein Liberaler wie Gerhart Baum, der immer noch, auch mit 86 Jahren einer der profiliertesten und wachsten Vertreter des linksliberalen Teils der FDP ist, der sich für den Schutz von Bürgerrechten einsetzt und deren Einschränkung durch staatliche Überwachungsmaßnahmen zu verhindern sucht, indem er immer wieder übergriffige Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht stoppen lässt. Last but not least gehören in diese Reihe Burkhard Hirsch, der ebenso wie Baum nicht müde wird, für die Bürgerrechte zu kämpfen, und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, eine Frau mit Rückgrat, die als Justizministerin zurücktrat, weil sie die Entscheidung der Bundesregierung zum Einsatz des „großen Lauschangriffs“, der später vom Bundesverfassungsgericht auf Klage von Baum und Hirsch als verfassungswidrig gekippt wurde, nicht mittragen wollte. Ja, so eine FDP wünsche ich mir zurück und nicht den neoliberalen Karriereklub von Posterboy Christian Lindner. Den habe ich zweimal live erleben dürfen und war vermutlich für den Rest meines Lebens bedient. Für mich ist das ein Blender, der leider die ganze FDP im festen Griff hat.

Neue Liberale – Die Sozialliberalen

Nun, wenn man eine solche Partei sucht, dann landet man irgendwann bei der NL. Nein, nicht bei den Niederlanden. Und auch nicht wie manch einer fälschlich meint bei den Neoliberalen. Das einzig Beschissene an der NL ist ihr äußerst doofer und missverständlicher Name: „Neue Liberale – Die Sozialliberalen“ . So ganz neu ist diese Kleinpartei nicht. Sie wurde vor immerhin 5 Jahren von früheren FDP-Mitgliedern, Piraten und anderen gegründet und hat eine sozialliberale Ausrichtung. Liberalismus ja, aber mit einem sozialen Gewissen. Auf der einen Seite steht sie für „eine freie Gesellschaft, in der jeder Mensch in seiner Individualität geachtet wird und sich entfalten kann“ also glasklar für Art. 2 GG, auf der anderen Seite aber eben auch dafür, „soziale Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, Menschen in sozialer Not beizustehen und ihre Fähigkeiten und Talente zu fördern“, also für Gerechtigkeit und sozialen Rechtsstaat.

Vertrauen

Nun kann man ja viel erzählen, wenn der Tag lang und der Wahlkampf aktuell ist. Papier ist geduldig und bisher konnte die Partei ja noch nichts beweisen. Völlig richtig. Aber da kommt bei mir nun dazu, dass ich den Spitzenkandidaten, Chris Pyak, seit Jahren kenne. Schon bei The European waren wir Kollegen und beide haben wir dieses einmal von Alexander Görlach gegründete und proeuropäisch ausgerichtete Projekt gleichzeitig verlassen, als es durch seinen neuen Eigner in eine Richtung geführt wurde, die es uns unmöglich machte, dort weiter Content zu liefern. Heute sind wir Kolumnistenkollegen bei DieKolumnisten. Und deshalb weiß ich, wie Chris Pyak tickt und bin mir sehr sicher, dass er im Europaparlament sinnvolle Arbeit leisten wird, auch und vielleicht gerade als Einzelner. Ich vertraue Chris Pyak ganz einfach. Ganz nebenbei fände ich es einfach geil, wenn einer unserer Kolumnisten im Europaparlament wäre und bei uns als Insider weiter schreiben würde.

Zudem – was nützt es mir, wenn eine Mikropartei einen (als Zahl geschrieben: 1) Abgeordneten ins EU-Parlament entsendet

fragt Henning Hirsch.

Nun mir nützt es, da auch ein Einzelner im Europaparlament seine Ideen vor einem großen Publikum vortragen kann. Und Ideen sind nun mal das Salz in der Suppe dieses Parlaments, dass ja nicht das mächtigste in Europa ist, es aber eigentlich sein sollte. Und dass bei Abstimmung auch eine einzige Stimme mal entscheiden kann, wusste schon Adenauer, der sich selbst bei seiner ersten Wahl zum Kanzler wählte und mit genau dieser einen Stimme die Wahl gewann.

Für Europa reicht’s

Auch der Vertreter DER PARTEI, die Sie selbstverständlich auch wählen können, denn „DIE PARTEI ist sehr gut“, und „Für Europa reicht‘s“ hat mit seiner Stimme einmal die Abstimmung „A8–0045/2019 – Jytte Guteland – Am 2“ entschied. Dabei stimmt Sonneborn immer im Wechsel mit Ja und mit Nein, was ich zwar ganz spaßig finde, was aber nur einem Hofnarren gegönnt sei und nicht zum allgemeinen Prinzip werden sollte. Ein Hofnarr ist wichtig, reicht aber auch.

Und was nützt es, wenn Henning Hirsch zwar zutreffend feststellt, dass der Teufel auf einen großen Haufen scheißt, er es dann aber dem Teufel nachmacht und auf denselben Haufen scheißt? Warum nicht mal das Gegenteil von dem tun, was der Teufel tut. Ich bin ja nicht der Teufel. Die Stimme ist nicht verschenkt. Denn zum einen ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass die NL genügend Stimmen für den Einzug ins Europaparlament erhält – da es keine 5%-Hürde gibt reichen schon 160000 bis 180000 Stimmen , je nach Wahlbeteiligung – und zum anderen ist die Stimme auch nicht verschenkt, wenn das nicht funktionieren sollte. Denn sie zählt ja auf jeden Fall bei der Wahlbeteiligung.

Greta hat’s gezeigt

Das Argument, ein Einzelnen könne nichts bewirken, ist in der letzten Zeit ganz wunderbar von Greta Thunberg widerlegt worden. Hätte die den Quatsch geglaubt, ein einzelnes Mädchen könne eh nicht ausrichten, dann hätte sie sich nie zum Schulstreik entschlossen und Fridays for Future wäre nie entstanden.

Nachdem nun der Wahl-o-Mat wieder online ist, können Sie ja einfach mal testen, was die Kleinen so zu bieten haben. Vielleicht ist ja was für Sie dabei und vielleicht ist es sogar die NL. Sie haben die freie Wahl. Aber was auch immer Sie wählen wollen, tun Sie es einfach, denn nichts ist dümmer als Nichtwählen.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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