Zu viel Nivea, zu wenig Grasnarbe

Ein blutleeres Team ist völlig zu Recht ausgeschieden, meint Kolumnist Henning Hirsch und fragt, „Was ist aus dem Löw’schen Mantra: Ich nehme nur die Besten mit“, geworden?


Ja ja, ich geb’s zu: Zuerst wollte ich als Überschrift Niveatrainer hat fertig wählen, weil das kurz und knackig klingt; fand die Headline dann aber doch eine Spur zu hart in Richtung Joachim Löw. Denn er ist als Übungsleiter zwar der Hauptverantwortliche für den sportlichen Offenbarungseid des Ausscheidens in einer einfachen Vorrundengruppe, jedoch beileibe nicht der einzige, der sich und seinen Beitrag zur aktuellen Misere des deutschen Fußballs hinterfragen muss.

Der Unsinn, dass Weltmeister immer früh ausscheiden

»Amtierende Weltmeister fliegen doch immer sofort raus«, sagen Sie? »Ist Spanien und Italien auch schon passiert.«
»Mag sein«, antworte ich. »Ist aber kein unumstößliches Naturgesetz.«
1958 erreichte das deutsche Team immerhin das kleine Finale, 1978 die zweite Runde, 1994 das VF. Brasilien wiederholte 1962 seinen Triumph von 1958. Ein Kunststück, das Italien 1934 und 38 vorgemacht hatte. England boxte sich 1970 bis ins Viertelfinale durch, wo es unglücklich gegen das deutsche Team den Kürzeren zog. Die Liste der Gegenbeispiele ließe sich mühelos verlängern. Es existiert also keine Regel, die besagt, dass der amtierende Champion vier Jahre später gar nicht erst anzureisen braucht, weil er dann eh sang- und klanglos scheitern wird. Wenn auch 1962 das bisher letzte Mal war, in der die Titelverteidigung gelang, schafften es die Weltmeister von gestern doch zumeist bis in die Runde der Top 8.

Ein im heimischen Rasenballsport vergleichbares Desaster gab es bisher einzig bei Europameisterschaften: 2004 und 2000 jeweils Vorrundenaus. 2000 wurde aufgrund der spielerischen Defizite einiger Akteure gar der Begriff „Rumpelfußball“ erfunden. 1968 verpasste die deutsche Mannschaft die Quali für die EM, die damals allerdings noch nicht den heutigen Stellenwert besaß und als deutlich weniger prestigeträchtig als die große Schwester WM galt. Auf FIFA-Ebene spielten und kämpften sich deutsche Teams hingegen seit 1934 durchgehend zumindest bis in den Kreis der letzten 16.

Wer nicht gut spielt, muss wenigstens leidenschaftlich kämpfen

Das Verb „kämpfen“ bietet das Stichwort, um nun zu den augenscheinlichen Defiziten der 2018er-Mannschaft zu gelangen: gekämpft hat da keiner. Was in Ordnung geht, wenn man so gut spielt, dass der mühselige Fight Mann gegen Mann dadurch überflüssig wird. Aber auch vom bom jogo brasilianischer Prägung waren Kroos & Co. Lichtjahre entfernt. Elendes Hin- und Herpassen, ödes Kreuz- und Quergeschiebe bestimmten weite Teile der drei Matches. Die Partien wurden verwaltet statt gestaltet. Minimalismus gepaart mit Ideenlosigkeit, wo im Mittelfeld Kreativität und Risikofreude gefragt gewesen wären. Und hinten eine Abwehr, die an parallel geschaltete Schwarze Löcher erinnerte. »Für Mexiko, Schweden und Südkorea reicht das normalerweise, wenn man einen Masterplan hat«, meinen Sie? Nein, tut es nicht. Denn diese Teams, die alle drei sicher nicht der Liga der Fußballgroßmächte angehören, rennen bei globalen Turnieren um ihr Leben und verteidigen notfalls mit elf Mann im Strafraum, sprich: nehmen das Ganze ernst und erweisen der WM und ihren Fans den notwendigen Respekt. Verlieren kann man jederzeit. Davor ist keine Mannschaft gefeit. Es kommt aber immer darauf an, wie man verliert. Ob nach großem Kampf oder nach einer Ich-weiß-überhaupt-nicht-was-ich-hier-soll-Nummer. Als ich Jerome Boateng oben auf der Tribüne der Kasan-Arena entdeckte, wusste ich sofort: das wird heute nichts werden. Der Mann saß da als gelangweilter Tourist, schien nicht eine Sekunde mitzufiebern mit seinen unten planlos auf dem Rasen rumstolpernden Kollegen. War in Gedanken bereits in seinem nun halt früher beginnenden Urlaub. Einzelkämpfermentalität, wo unbedingter Teamgeist. notwendig gewesen wäre.

Wenn ich nun höre, dass einige Spieler aufgrund früherer Triumphe wohl zu satt gewesen seien, frage ich mich, weshalb der DFB mit seinen aberhundert Experten – allen voran der Bundestrainer – dieses Negativphänomen nicht früher erkannt und rechtzeitig vor Turnierbeginn gegengesteuert hat. Was war aus dem Löwschen Mantra „bei mir spielen bloß die Besten“ geworden? Neuer und Boateng beide monatelang verletzt, Özil bei Arsenal oft zweite Wahl, der Müller früherer Tage nicht wiederzuerkennen, der ewige Gomez. Warum wurden die aufgestellt? Aufgrund vergangener Meriten? Da war Löw mit Ballack und Frings strenger. Die sortierte er unbarmherzig aus. Angeblich, weil sie von Fitness und Athletik her für Großturniere nicht mehr taugten, und man sich von Erfahrung alleine nichts kaufen kann. Wenn man dieses Kriterium zugrundelegt, hätte Khedira nicht eine Minute auf dem Rasen stehen dürfen. Der spielte ja teilweise wie mit angezogener Handbremse, und ich rieb mir ungläubig die Augen, ob das live oder doch Zeitlupe war.

Nutellabrötchen und Niveaschleim

Von einigen wenigen Akteuren abgesehen grenzte die Vorrundenleistung an Spielverweigerung. Bei einem Club hätte man gesagt: das Team will den Coach loswerden. Aber in der NM herrscht ja ständig Friede, Freude, Nutellabrötchen. Alles wird von einer klebrigen Niveaschleimschicht überzogen, die jede Kritik als Vaterlandsverrat einstuft und unbeantwortet von sich abtropfen lässt. Unbequeme Charaktere werden gar nicht erst in den erlauchten Kreis der nationalen Elitekicker eingeladen mit der Konsequenz, dass wir ein am Reißbrett konzipiertes Spiel serviert bekommen. Die Akteure bloß noch Erfüllungsgehilfen der Laptop-Trainer. Wehe, wenn das theoretisch erdachte System plötzlich versagt. Dann steht ein komplettes Team orientierungslos auf dem Rasen und findet sich ohne Navi dort nicht mehr zurecht. Es wird auch keiner mehr laut und treibt die anderen zu Höchstleistung an. Läuft im Moment nicht so gut? Okay, kann man halt nicht ändern. Schulterzucken, sich in sein Schicksal fügen, abhaken und die eigenen Knochen für die in ein paar Wochen startende Bundesliga schonen. Zweckrational? Ja! Aber für den Fan GRUSELIG anzuschauen. Und für die nicht optimale Kaderauswahl, die mangelnde Motivation sowie die teils vogelwild zusammengewürfelte Startaufstellung und die nicht fruchtenden Einwechslungen ist nun mal der Trainer verantwortlich. Das kann man nicht mit dem Hinweis auf das ähnliche Schicksal anderer Teams relativieren. Zumal Deutschland der einzige Hochkaräter ist, der die Vorrunde nicht überstanden hat.

Verabschiede dich, wenn du es noch selbst in der Hand hast

Während die Regel vom stets früh scheiternden Weltmeister offenkundiger Unsinn ist, gibt es jedoch eine zweite Gesetzmäßigkeit, die ins Auge springt – nämlich die der nachlassenden Motivationskünste von Übungsleitern, die den Zenit ihrer Schaffenskraft überschritten haben. Dem ewigen Herberger gelang nach dem 54er-Überraschungscoup kaum noch was Gescheites, weshalb er zehn Jahre später endlich von Helmut Schön beerbt wurde. Unter ihm erlebte der deutsche Fußball seine erfolgreichste Dekade, bevor 1978 ein ähnlich uninspiriertes Team wie die Versager von Kasan in der zweiten (!) Runde der WM vorzeitig die Rückreise antreten musste, und der Mann mit der Mütze seinen Hut nahm. Franz Beckenbauer war da schlauer und trat freiwillig unmittelbar nach dem 1990er Triumph zurück. Keine Ahnung, welcher missionarische Eifer Joachim Löw dazu trieb, mit dem DFB einen Endlosvertrag bis ins hohe Rentenalter zu unterzeichnen. Nach 2014 ging es auf jeden Fall mit dem deutschen Fußball nicht mehr voran, spielerische und taktische Defizite waren bereits bei der EM in Frankreich klar zu erkennen. Statt die Schwachstellen auszumerzen, das Team konsequent zu verjüngen und nicht-stromlinienförmige Spieler (Leroy Sané, Sandro Wagner) mitzunehmen, brach man lieber mit Altbewährtem zur Titelverteidigung auf und erlebte am vergangenen Mittwoch am Ufer der Wolga konsequenterweise das rasche Ende der Mission impossible. Und da es alle geahnt zu haben schienen, regte sich im Nachgang auch niemand großartig darüber auf. Betriebsunfall. Passiert eben hin und wieder. So what?

Ob ich mich darüber aufgeregt habe? Nein. Es war schlimmer: mir war’s nahezu egal. Als alte Unke hatte ich es nach den verkorksten Testspielen kommen gesehen und die Mannschaft von vornherein für maximal VF-tauglich eingestuft. Nun waren sie halt schon in der Vorrunde ausgeschieden. Okay, aber warum soll ich als Fan mich über was ärgern, was den Großteil der Spieler anscheinend nicht großartig kratzt?

Kommerzialisierung vergrault die Fans

Um weiteres Unheil zu vermeiden, rate ich dazu, Herrn Löw in Würden zu verabschieden (er kann sich dann ja endlich mal an einer Clubmannschaft versuchen) und Herrn Bierhoff gleich mit dazu. Die vom Zweitgenannten ständig vorangetriebene Kommerzialisierung der Marke NM geht mir derart auf die Nüsse: sehe bloß noch Nutella, Nivea, Bitburger, Coca-Cola, Nudelsoßen, Visacard etc. etc. Sponsoren, wohin das Auge blickt. Jeder Quadratzentimeter Bande, Trikot und demnächst vermutlich auch Spielerhaut wird an den Meistbietenden verkauft bei gleichzeitigem Gefeilsche um jede Millisekunde der TV-Übertragungsrechte. Komplette Kommerzialisierung eines einstmaligen Arbeiter-Freizeitvergnügens. Wenn ich im Zusammenhang mit Fußball den Begriff Event höre, schüttelt es mich.

Die Nationalmannschaft benötigt nicht nur dringend einen neuen Trainer, sondern ebenfalls einen Paradigmenwechsel. Weg vom geklonten Querpass-hin-und-her-Schieber, hin zum Ich-krempel-die-Ärmel-hoch-Individualisten, weg von Laptop-und-ich-halte-beim-Reden-die-Hand-vor-den-Mund-Coaches, hin zu Typen mit moderner Spielauffassung, die aber gleichzeitig berücksichtigen, dass es sich beim Fußball um eine schweißtreibende Sache handelt, bei der man hin und wieder auch Kontakt mit der Grasnarbe aufnehmen muss. Weniger Schablone und mehr Siegeswille täten dem deutschen Fußball dringend Not. Und vor allem: weg von der irrigen Idee, ein Spieler sei eine Marke, deren Wert man ständig maximieren muss. Nein, ist er nicht! Er ist ein Mensch, der gekonnt mit dem Ball umgeht und sich deshalb auf das konzentrieren sollte, was er kann: gut und mit Leidenschaft kicken. Die Fans werden es ihm danken.

Und nun freue ich mich auf (hoffentlich) spannende KO-Partien. Denn der wahre Fan schaut die WM auch dann weiter, wenn das eigene Team (leider) schon ausgeschieden ist.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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