Auf ein Wort: Whataboutism
Kolumnist Marcus Munzlinger stolperte im Facebook über den Begriff „Whataboutism“. Dieser Text ist sowohl Auseinandersetzung mit – wie vorsichtige Annährung an den Begriff.
Das Problem liegt natürlich zunächst einmal bei mir selbst. Es ist wirklich ärgerlich, wieviel Zeit ich mit irgendwelchen Debatten bei Facebook oder anderen Portalen verschwende, mit Leuten, die mir meist vollkommen unbekannt und außerhalb des jeweiligen Threads auch ziemlich egal sind. Gegenüber den Menschen in meinem analogen Umfeld, die konsequent aus dem ganzen „social media“ Wahn ausgestiegen sind, weil ihnen dafür die Zeit einfach zu schade ist, fühle ich mich ein wenig unsouverän.
Aber man kann nur schwerlich aus seiner oder ihrer Haut und meine manchmal an Suchtverhalten grenzende Lust an der digitalen Diskussion hat mir immerhin die Möglichkeit beschert, Gastbeiträge bei „Die Kolumnisten“ zu veröffentlichen. Daher möchte ich diese Möglichkeit, etwas mehr Ruhe und Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung zu haben als etwa in der Kommentarfunktion unter einem Facebook-Posting von Kolumnist Hasso Mansfeld, dafür nutzen, mich mit einem zur Zeit bei Facebook sehr populären Wort auseinander zu setzten: Whataboutism.
Mir war dieses Wort bis vor nicht allzu langer Zeit unbekannt. Als es mir dann begegnete hielt ich es zunächst für ein Geschöpf vom Stamme Zuckerbergs – für einen Terminus geschmiedet im Facebook-Fegefeuer. Zu passgenau für die Diskursmaschinerie entworfen erschien mir dieser Ismus, als dass mir eine über den 4. Februar 2004 hinausgehende etymologische Historie auch nur in den Sinn kam. Doch es gibt ja auch noch ein Internet außerhalb von Facebook – und hier können prokrastinierende Menschen neben all den anderen faszinierenden Sachverhalten auch herausfinden, dass es sich wohl um einen Begriff aus der Zeit des Kalten Krieges handelt. Grob gesagt nutzten Feinde und Kritikerinnen/Kritiker der Sowjetunion diesen Begriff, um eine sehr häufige Reaktion der sowjetischen Führung auf Vorwürfe in Bezug auf Menschen- und Völkerrechte zu beschreiben: Anstatt zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, wurde auf scheinbar artverwandte Verfehlungen „des Westens“, also vor allem der USA verwiesen.
Unverstandener Anti-Imperialismus
Whataboutism soll also eine ganz spezifische politische Taktik bezeichnen. Der morphologische Aufbau suggeriert gleichzeitig, dass ein ideologisches Verhältnis vorliegt. Über den Suffix gelangt man schnell vom Terrain der Politik auf das der Soziologie, Psychologie und der Kulturwissenschaften, also jenen Feldern, in denen sich etwa mit Antisemitismus oder Rassismus auseinander gesetzt wird. Der diplomatisch-propagandistische Schachzug des sowjetischen Funktionärs wird zum pathologischen Zwang des Anti-Imperialismus überhaupt: „Aber der Westen“ – eher politisches Tourette-Syndrom denn Beginn eines Arguments.
Auch mir erscheint so eine Beschreibung erstmal ganz sympathisch. Zu heuchlerisch der untergegangene Ostblock, zu engstirnig und verblendet seine Apologetinnen und Apologeten im Westen, als dass man an dem historischen Vorwurf des Whataboutisms etwas auszusetzen hätte. Und dennoch verschiebt schon die Gedankenfigur hinter dem Terminus aus der Zeit des Kalten Krieges zwar nur ganz leicht, aber doch so wesentlich den Fokus auf das Problem, dass sich in ihm eine Instrumentalisierung der berechtigten Ideologiekritik am Anti-Imperialismus vollzieht.
Denn der Begriff Whataboutism denunziert natürlich gleichsam den Vorwurf westlicher Doppelmoral als wahlweise pure Taktik oder ideologische Idiotie. Damit ist dieser Begriff selbst ideologisch aufgeladen – und bestärkt jene, die er unlauterer Methoden zu überführen verspricht. Der sowjetischen Führung und ihren Freundinnen und Freunden im Westen ging es ja nicht – wie es die diversen Definitionen von Whataboutism darlegen – darum, vom Thema abzulenken. Vielmehr rechtfertigten sie die „anti-imperialistische Gewalt“ gerade mit jenen Verbrechen des Westens. Menschen- und Völkerrecht beschrieben sie als Fantasmen einer vom Westen etablierten Scheinordnung, innerhalb derer die „imperialistische Aggression“ Gewalt und Unterdrückung kaschieren könne. Im internationalen Recht erkannten sie die Willkür der Mächtigen.
Sicher: Der Anti-Imperialismus verkürzte mit dieser Sichtweise komplexe politische Verhältnisse auf eine ideologisch leicht konsumierbare Form. Und doch entzündete er sich an unleugbaren, schwerwiegenden globalen Missständen, die eben nicht, wie es die Gedankenfigur des Whataboutisms behauptet, lediglich Objekt rhetorischer Spielchen waren, sondern im Gegenteil Grundlage der Argumentation überhaupt.
Whataboutism im Kontext des Kalten Krieges könnte auch anstatt einer spezifischen Taktik und Ideologie des sowjetischen und anti-imperialistischen Lagers vielmehr eine diskursive Kreisbewegung beschreiben, in der jede Menschenrechtsverletzung beider Lager durch die des jeweils Anderen gerechtfertigt wird. Damit wäre der Begriff ein diskursanalytischer in einem geschichtswissenschaftlichen Kontext. Glaubt man aber den Ergebnissen einer spontanen Internetrecherche, war er damals eher Ausdruck von bestenfalls verkürzter Ideologiekritik. Das Infame in der Ideologie des Ostblocks war doch gerade die mehr oder weniger offene Gutheißung „anti-imperialistischer Gewalt“ und Unterdrückung und nicht – im Gegensatz zur propagandistischen Praxis der anti-kommunistischen Staaten mit demokratischer Form – verschämtes Leugnen oder Kleinreden. Die Berliner Mauer war in der anti-imperialistischen Ideologie ein „antifaschistischer Schutzwall“ und der Aufstand in Ungarn 1956 ein vom Imperialismus unterstützter faschistischer Putsch, der im Sinne des Schwurs von Buchenwald niedergeschlagen werden musste. Die Partnerschaft der westlichen Demokratien mit dem faschistischen Franko-Regime oder die Unterstützung für den Putsch Pinochets in Chile sowie die Rolle von NS-Funktionären in der Bundesrepublik waren nur allzu reale Umstände, von denen aus sich die Verklärung des sozialistischen Staatsterrors als Antifaschismus ideologisch entwickeln konnte.
Putins Facebook-Freunde verdienen effektivere Gegenwehr
Um eine Brücke in die Gegenwart zu bauen: Aus heutiger Sicht erscheint der Boykott der Olympischen Spiele in Moskau 1980 durch die USA aufgrund des Krieges der Roten Armee in Afghanistan geradezu als absurdes Theater. Die USA rüsteten in diesem Krieg mit Unterstützung Saudi-Arabiens eine islamistische Internationale finanziell und militärisch auf, deren Erben heute die Welt mit Terror und Gewalt überziehen. Gerade mal sieben Jahre zuvor hatten sich die USA aus Vietnam zurückgezogen; die Skandalisierung des Afghanistankrieges ihres sozialistischen Gegners war eigentlich der klarste Fall von Whataboutism, eine Retourkutsche als Rache für den globalen Imageverlust angesichts der Menschenrechtsverletzungen der US-Army in Vietnam. Trotzdem scheint Whataboutism historisch lediglich die propagandistischen Manöver des Ostblocks zu bezeichnen – die im Falle des US-Boykotts der olympischen Spiele in Moskau eine nur allzu leichte Übung waren.
Der Vorwurf des Whataboutisms konnte die anti-imperialistische Ideologie bei der Diskussion um die Verbrechen der Roten Armee in Afghanistan daher gar nicht erschüttern, wurde sie doch vielmehr in ihrer Grundannahme, der Scheinheiligkeit des Westens, bestärkt. Doch die Gedankenfigur des Whataboutisms offenbart noch viel größere Schwächen als die Verkennung der Funktionsweise anti-imperialistischer Ideologie. Und diese Schwäche zeigt sich heute in der Rolle, die der Vorwurf des Whataboutisms bei Diskussionen in den „sozialen“ Netzwerken einnimmt: Die mit ihm einhergehende Weigerung, gesellschaftliche Zusammenhänge als valide Größe in dem spezifischen Kontext überhaupt anzuerkennen.
Um den Übergang vom Eisernen Vorhang zur digital vernetzten Welt so sanft wie möglich zu gestalten, sei der Blick zunächst auf das dominierende politische Thema bei Facebook des Jahres 2014 gewendet: Die Ukraine- bzw. Krimkrise. Die Annexion der Krim war selbstverständlich völkerrechtswidrig. Und meist waren es Menschen, die die repressiven innenpolitischen Verhältnisse in Russland leugneten oder relativierten, die darauf mit dem Hinweis antworten, dass auch die Abspaltung des Kosovos von Serbien völkerrechtswidrig war. Doch der Vorwurf des Whataboutisms taugt hier trotzdem nicht. Denn nüchtern betrachtet folgt in der internationalen Politik auf A immer B, kann ein staatlicher Verhaltenskodex nur gelten, wenn alle durch ihn profitieren. Wird dieses Verhältnis an einer Stelle ausgehebelt, ist es nicht mehr einzurenken.
Die russische Propaganda hatte 2014 leichtes Spiel und der Vorwurf des Whataboutisms war eine sehr hilflose Reaktion. In Spanien umzingelten hunderttausende beim „Marcha por la dignidad“ in Protest gegen die von der EU erzwungenen Sparauflagen das Parlament – und wurden von den Staatsorganen mit einer Brutalität angegriffen, bei der tatsächlich auch Tote billigend in Kauf genommen wurden. In Ungarn machte sich die Regierung daran, die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz abzuschaffen. Von der EU hörte man fast nichts dazu. Stattdessen wurde der militante Sturz eines gewählten Präsidenten in der Ukraine aktiv unterstützt. Es brauchte für Putin und seine Sympathisantinnen und Sympathisanten im Westen wirklich nur minimale Anstrengungen, die eigenen Schweinereien zu rechtfertigen oder zu bagatellisieren.
Der Vorwurf des Whataboutisms trifft hier einfach nicht, denn er leugnet die Zusammenhänge. Wieso sollte sich Putin davon abhalten lassen, rechtsradikale prorussische Milizen mit Waffen auszurüsten, wenn auf der anderen Seite rechtsradikale ukrainische Milizen für eine von der EU unterstützte Regierung kämpfen? Diese Frage muss zugelassen werden, will man den reaktionären Facebook-Freunden Putins den Zahn ziehen. Sie schöpfen ihre Kraft daraus, dass ihrem virtuellen Gegenüber nicht viel mehr als „Whataboutism“ einfällt, wenn nach dem Wert des Völkerrechtes angesichts des letzten Golfkrieges gefragt wird. Warum wird ihnen nicht entgegengerufen: Was nehmt Ihr die Scheiße in der Welt als Anlass, die Welt noch mehr scheiße zu machen? Wieso ist ausgerechnet Putins Russland Eure Perspektive gegen die Missstände auf der Welt?
Xenophobe Schopenhauerexegese
Doch erst im jungen Jahr 2016 feiert das Wort Whataboutism im deutschsprachigen Facebook den endgültigen Durchbruch – als rhetorische Waffe gegen all jene, die dem nationalen Wehklagen über eine halluzinierte rechtliche Benachteiligung der autochthonen Bevölkerung gegenüber sexuell übergriffigen und klauenden Asylbewerber entgegenhalten, dass nicht verhinderte und kaum aufgeklärte Anschläge auf Unterkünfte für Geflüchtete womöglich der eigentliche Skandal sind. Oder die darauf beharren, dass Sexismus und sexuelle Gewalt gesamtgesellschaftliche Probleme sind und niemals ethnisiert oder kulturalisiert werden sollten.
Und hier bricht womöglich ein ursprünglicher Aspekt in der Gedankenfigur des Whataboutisms hervor: Dass sie immer schon eher von kleingeistigen Besitzstandhalterinnen und -haltern gegen alle eingesetzt wurde, die es wagten, auch nur mit Worten am durch die gesellschaftlichen Verhältnisse eingerichteten Status zu rütteln (die deswegen nicht automatisch sympathische Leute waren). Denn es spielt eine Rolle, wenn eine deutsche Mehrheitsgesellschaft sich als solche behauptet, in dem sie anlässlich temporärer Probleme ihres Leviathans bei der Disziplinierung der Unterprivilegierten über „das Ende des Rechtsstaates“ fabuliert, aber über 800 Anschläge auf Gebäude für Geflüchtete tendenziell achselzuckend zur Kenntnis nimmt. Wenn eine aufgrund dieser Anschläge vielleicht falsche, aber irgendwie verständliche behördliche und mediale Zurückhaltung gegenüber von Geflüchteten begangenen Straftaten zu „Schweigekartell“ und „Lügenpresse“ aufgebauscht wird, die haarsträubenden Vertuschungsleistungen des Verfassungsschutzes bei den NSU Morden aber eher ein „was war da nochmal?“ hervorrufen.
Es geht darum, wer was warum sagt und fragt. Flüchtlingsorganisationen, ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, Organisationen von Migranten und Migrantinnen setzten sich schon immer mit muslimischer Macho-Kultur und dem erhöhten Risiko für junge Migranten, kriminell zu werden, auseinander – auf einem sehr viel höheren Niveau als der entfesselte Facebookmob. Dieser hat ein politisches Ziel, nämlich noch mehr Repression gegen Geflüchtete. Und dieses Ziel wird mit Verweis auf die Gleichgültigkeit gegenüber xenophober und neonazistischer Gewalt und der staatlichen Untätigkeit bis hin zu – im Falle des NSU – vertuschter Mittäterschaft deutlich.
Doch darüber wird mit der Rede über Whataboutism elegant hinweg gegangen. Dazu findet sich nun gefühlt tausendfach der Wort für Wort gleiche Satz: „Das erinnert mich an Schopenhauers eristische Dialektik“. Getroffen werden sollen mit diesem intellektuell anmutenden Statement natürlich diejenigen, denen xenophobe Gewalt als das größere derzeitige Problem gilt und nicht die Whataboutism-Rufenden – ohne auch nur ein Strategem oder einen Sophismus aus dem aufgeführten Werk zu zitieren. Fraglich, dass ihnen dies überhaupt möglich wäre.
Vergleiche oder Hinweise auf Vergleichbares, um auf Kontexte aufmerksam zu machen, sind in Diskussionen um gesellschaftliche Verhältnisse Bestandteil valider Argumentation. Der Vorwurf des Whataboutisms ist Weigerung, Komplexität von gesellschaftlichen Themen anzuerkennen. Sind die Vergleiche Mumpitz oder wird mit ihnen ein schlechtes Ziel verfolgt, lässt sich dies in der Diskussion aufzeigen – ohne sie mit dem Vorwurf des Whataboutisms zu verunmöglichen.
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