So geht Fantastik mit Anspruch!

Sogar kurz ist das Buch! Esther Rochon schrieb mit „Der Träumer in der Zitadelle“ einen Fantasyroman ohne „Rassen“, „Helden“ oder „Antihelden“ und all den anderen Klimbim, der das Genre oft so kitschig macht. Einfach einen Roman also. Hervorragend!


Das erste was an Esther Rochons Der Träumer in der Zitadelle positiv ins Auge fällt ist die Kürze. Ganz ernst gemeint: Irgendwann, spätestens mit dem von Harry Potter befeuerten Fantasyrivival in den neunziger Jahren, hat sich wohl bei Verlegern (und Autoren?) die Überzeugung durchgesetzt, dass sich fantastische Romane nur vermarkten lassen wenn sie mindestens dreiteilig daherkommen (wie eben der epochemachende Herr der Ringe). Wobei mittlerweile für gewöhnlich schon einzelne Bände das Ausmaß des gesamten Ringzyklus erreichen.

Ein Buch ist kein Truthahn

Esther Rochon schrieb Der Träumer in der Zitadelle in den 80ern, lange vor diesem Revival, in einer Zeit als in Fantasy wie Science-Fiction kürzere Erzählungen durchaus noch verbreitet waren (wieso Science Fiction daran festhalten konnte, Fantasy nicht, wäre eine eigene Untersuchung wert). Die dicht gepackten knapp 150 Seiten des Buches zeugen also nicht von besonderem Mut, gegen den Strom zu schwimmen. Dennoch: Die Chancen hier ein gutes Buch zu entdecken steigen. Einfach weil die wenigsten Stoffe der Weltliteratur tatsächlich nach einem 1000-Seiten-Schinken verlangen. Füllsell ist bei heute verbreiteter Fantasy also vorprogrammiert, und – ein Buch ist kein Truthahn – verträgt sich schlecht mit literarischer Qualität.

Dichte Szenerie, knappe Sprache

Doch auch erzählerisch macht Rochons einziger auch auf Deutsch übersetzter Roman einen starken Eindruck. Im ersten Kapitel bekommt der Leser eine dichte Barszenerie vor Augen gestellt. Ein stellenweise mysteriöses Gespräch zwischen einem Mann, der behauptet auf einem fernen Archipel Jahre damit verbracht zu haben einen Tempel, der die Statue des Meeresgottes Haztlén beherbergt, so zu versiegeln, dass niemand in betreten kann, und einer jungen Lebedame deren größtes Problem mit dem ungewöhnlichen Tempeldiener erst einmal ist, dass dieser nicht einen Versuch unternimmt sie ins Bett zu bekommen. Mysteriöser noch:

„Der Tempel hatte keine Tür. Ich habe eine konstruiert. Niemand kann sie öffnen“, sagt der Mann, und trägt der Frau auf, viele Jahre später den Herrschern des Staates Vrénalik, in dem wir uns befinden, mitzuteilen, dass man nicht mehr in der Gnade des Meergottes stünde und dieser Verderben über das ganze Reich bringen werde.

Einmauern/Zurückgezogenheit – Hingabe/Offenheit: Diese Begriffspaare gliedern auch im zweiten Kapitel, das die Begegnung aus der Sicht der Frau rekapituliert, das zentrale Thema der Expostion. Die Welt von Vrénalik, in der Der Träumer in der Zitadelle spielt ist dabei so selbstverständlich präsent wie etwa Algerien in Camus‘ L’etranger, und gerade deshalb nur in Anspielungen in ihrer Geografie, ihrem sozialen Gefüge zu erraten. Gedankenfetzen, Gesprächsfetzen der anderen Bargäste lassen eine lebendige mediterane Szenerie vermuten, doch abseits davon steht der Dialog der Unbekannten im Mittelpunkt. Rochon, wird deutlich, erzählt keine Geschichte um eine Welt zu entwickeln sondern eine Geschichte, aus der sich eine Welt entwickelt. So undeutlich und ambivalent wie in nicht fantastischen Romanen auch. Dass ich an Camus denke mag der französischen Sprache des Buches geschuldet sein, doch die vielsagende Knappheit, der Plot, der zugleich Ereignisschilderung und Parabel sein könnte, nicht zuletzt die Absurdität des Szenarios vom verschlossenen Tempel mit der extra zum Zwecke des Nichtöffnens errichteten Tür – all das lässt Spekulationen über einen Einfluss des bekanntesten Sysiphosauslegers zumindest nicht all zu weit hergeholt wirken.

Und wer ist der Träumer?

Der Träumer in der Zitadelle … erzählt die Geschichte Skern Strénids, des Herrschers der auf Vrénalik und den umliegenden Inseln des gleichnamigen Archipels lebenden Asven, der eines Tages den mit magischen Kräften begabten Shaskath in seiner Zitadelle in der Hauptstadt Frulken einkerkern und mit Hilfe einer speziellen Droge zu einem Träumer machen lässt. Shaskath soll mittels seiner Träume die Stürme beeinflussen und so die Handelsflotte schützen, der Vrénalik seinen Reichtum verdankt. Doch dem Träumer gelingt es, sich dem Bann der Drogen zu entziehen – und das hat Folgen für Vrénalik und den ganzen Archipel …“

So, aus berufenem Munde zusammengefasst, die Haupthandlung, die vor allem ab dem dritten Kapitel deutlich geradliniger entwickelt wird. Doch auch hier spielen architektonische Fragen im weitesten Sinne – als Fragen der Raumordnung, Fragen von innen und außen weiterhin eine bedeutende Rolle, ebenso wie Perspektivität. Auch, wenn jetzt ein auktorialer Erzähler übernimmt.

Machtpolitik, Drogen, ja: Sex auch

So folgt man im dritten Kapitel meist Ftar, der als Fachmann für Drogen nach Frulken bestellt wurde um die Ausbildung (kontrollierte Zudröhnung) des Träumers zu überwachen. Doch unterbreitet ihm Skern ein ehrliches Anliegen, oder soll als Träumer nur ein für minderwertig erachteteter Paradrouïm kaltgestellt werden? Handelt es sich um Machtpolitik – und ist Machtpolitik überhaupt verwerflich? Was der Leser darüber denkt wechselt rasch im Verlauf mehrerer Gespräche, die Ftar in Frulken führt, ohne dass Rochon die Fragwürdigkeit des Geschehens mit großen Worten in den Mittelpunkt stellen würde – sieh her, Sapkowski: So geht ambivalent. Bemerkenswert: Vrénalik scheint sehr wohl eine Gesellschaft, die von sozialen und ethnischen Vorurteilen durchzogen ist. Im Gegensatz zu einem Großteil anderer Fantasyromane beschreibt und arbeitet Rochon aber keine „Rassen“ aus ( Paradrouïm ist dann auch eher ein teils fremd-, teils selbstbestimmter Lebensstil, mehr soziale Gruppe als Ethnie) und vermeidet so jene typische Falle der Fantastik, nach der Rassismus innerhalb der fiktiven Welt für gewöhnlich sich regelmäßig sogar als berechtigt aufdrängt: Denn Orks und Elfen sind nun einmal verschieden, und wem würde man es verübeln die Goblins aus Harry Potter zu verabscheuen, die überraschend oft im Bankensektor arbeiten, ein ganz besonderes Händchen für Handel haben, und zum Eigentum anderer Leute ein sehr gewöhnungsbedürftiges Verhältnis … ?

Auch anderen gesellschaftlichen Strukturen innerhalb ihrer Welt, den Produktionsverhältnissen, der Stellung der Kunst auf Vrénalik und dem Festland, der Sexualität in und außerhalb eheähnlicher Gemeinschaften, nähert sich Rochon auf diese Weise: Über Gespräche, Handlungen und kursorische Eindrücke einer Realität, die vorausgesetzt und nicht breit erklärt wird.

Und gerade die Uneindeutigkeit lässt die Welt sich real anfühlen, obschon wir sehr viel weniger von ihr wissen als von dem akribisch durchenzyklopädisierten Mittelerde.

Die antiklimatische Prophezeiung

Leicht, in träumerische Schwebe gehalten führt uns Rochon durch den weiteren Verlauf ihrer Erzählung, die nicht im Detail nacherzählt werden soll. Die Figurenperspektive wird wie ein Staffelstab von scheinbarem Hauptcharakter zu scheinbarem Hauptcharakter übergeben, unter anderem an den Paradrouïm Joril und Inalga de Bérilis, eine der Ehefrauen Skerns. Eine bilderreiche, jedoch einfache, von starken aber wenigen wiederholten Symbolen durchzogene Sprache macht dabei das Lesen meist zum Genuss. Auch der verschlossene Tempel aus den Anfangskapiteln, den man zwischenzeitlich fast zu vergessen geneigt ist, wird gerade rechtzeitig zuerst als Traumbild wieder in die Handlung eingewebt. Und die dunkle Prophezeiung erfüllt sich. Doch verflochten in die komplexe Verhandlung von Fragen nach persönlicher Freiheit und politische „Sachzwänge“ sowie der Beherrschung der Natur durch den Menschen kommt sie alles andere als schicksalhaft über Vrénalik. Und wird von Rochon faszinierend antiklimatisch gesetzt: Den Schluss der Erzählung markiert stattdessen ein ausführliches poetisches Stillleben des Tempels Haztléns, der detailliert ausgemalt und mit verschiedenen Legenden zur Herkunft der Statue verknüpft wird. Man könnte diesen komplett von handelnden Personen bereinigten Schluss als starke Mahnung lesen: Seht her, der Gott siegt, die Natur holt sich alles zurück, die menschliche Hybris führt in den Untergang. Doch wer schuf dann die Statue? Und zeigt die womöglich gar nicht Haztlén, sondern einem gequälten Dichte, der die Epen eines von den Asven bekämpften Volkes schrieb? Rochon stellt auch hier mehr Fragen, als sie beantwortet. Als Leser dankt man es ihr.

Sartresche Thesenhaftigkeit

Gibt es auch etwas zu meckern? Sicher: Manchmal stört eine Sartresche Thesenhaftigkeit besonders in Dialogen zu politischen Themen. In solchen Momenten tendieren auch Charaktere dazu, die sozialen Konflikte in die sie eingebunden sind viel zu vernünftig und realistisch zu durchschauen. Ob Herrscher oder Arbeiter, ein jeder überblickt die Zwänge in denen er lebt unglaubwürdig deutlich. Doch es gibt Schlimmeres und solche sporadische Schwächen können den Eindruck eines kompakten, dichten, tatsächlich am Erzählen interessierten phantastischen Romans kaum trüben. Es dürfte interessant sein zu prüfen, ob nach Träumer, wo sich vom Titel über die Darstellung bis in die Details der sprachlichen Gestaltung alles zu einem gelungenen Ganzen fügt Rochon dieses Niveau halten kann, wenn sie in den Nachfolgebänden, die leider bisher nur auf Französisch erschienen sind, gezwungen sein wird das ein oder andere an ihrer Welt zu konkretisieren. Oder ob sie in eine der Fallen tappt, derer klassische Fantasy-Strickmuster so zahlreiche aufstellt.

 

Fortschritt der Fantastischen Reise:

rezensiert:

Andrzej Sapkowski – Der Hexer
China Miéville – Perdido Street Station
Walter Moers – Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär
Esther Rochon – Der Träumer in der Zitadelle

nächster Text:

Michael Moorcock – Elric of Melniboné

ausstehend:

Joy Chant – Der Mond der Brennenden Bäume
Viktor Pelewin – Das 5. Imperium
Neil Gaiman – American Gods
Samit Basu – GameWorld
Patrick Rothfuss – The Name of the Wind.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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