Zweifel, los
Wer erwartet, dass in jedem Strafverfahren die Wahrheit gefunden wird, der erwartet Unmögliches.
„Für das Richteramt fehlte mir der dafür notwendige Glaube, dass man die Wahrheit erkennen könne.“ – Ein Satz aus einem Interview, der mir, obwohl er nur als Erklärung dafür gegeben wurde, warum ich mich lange vor dem zweiten Staatsexamen für eine Strafverteidiger- und gegen eine Richterlaufbahn entschieden hatte, einige Kritik gerade von Richtern einbrachte; der aber für mich richtig war und ist.
Mein Ding ist nicht die Gewissheit, sondern der Zweifel. In den letzten Tagen gab es wieder genügend Anlässe, den Zweifel zu loben, egal ob es um eine angebliche Entführung und Vergewaltigung einer 13-jährigen ging, die letzten Sonntag tausende empörte Bürger mit meist russischen Wurzeln auf die Straße brachte und sogar den russischen Außenminister in Stellung, oder um einen angeblich toten Syrer.
Gerade in Strafverfahren sind Zweifel angebracht, denn auch angeklagte Taten müssen nicht tatsächlich stattgefunden haben. Das Gerücht, wonach an jedem Gerücht etwas Wahres dran sei, hat sich als unhaltbares Gerücht erwiesen.
Die Strafprozessordnung erweckt ja in § 244 Abs. 2 StPO zunächst tatsächlich den Eindruck, die Wahrheit ließe sich ermitteln:
„Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.“
Auf der Suche nach der Wahrheit
Das Gesetz definiert selbst aber nicht, was diese Wahrheit denn nun sein soll, deren Erforschung es dem armen Richter auferlegt. Auch für Richter ist es klar, dass in einem Strafverfahren nicht die „reine“ Wahrheit, also eine objektive Wahrheit, ermittelt werden kann. Deshalb müssen sie sich wohl oder übel mit deren kleiner, hässlicher Schwester, der sogenannten „prozessualen Wahrheit“ begnügen.
Das macht insofern auch Sinn, als ein Strafverfahren keine philosophische Veranstaltung ist, sondern dem durch die Anklage klar definierten Ziel dient, herauszufinden, ob die Straftat, die dem Angeklagten vorgeworfen wird, tatsächlich stattgefunden hat. Das klingt zwar einfacher als die Suche nach der reinen Wahrheit – ist es aber auch nicht.
Eine geradezu philosophische Bewertung der Problematik hatte bereits das Reichsgericht im Jahre 1885 – wenn auch in einer Zivilsache – zum besten gegeben, als es erkannte:
»Vermöge der Beschränkung der Mittel menschlichen Erkennens kann niemand (selbst im Falle eigener unmittelbarer Anschauung eines Vorganges) zu einem absolut sicheren Wissen von der Existenz eines Tatbestandes gelangen. Abstrakte Möglichkeiten der Nichtexistenz sind immer denkbar. Wer die Schranken des menschlichen Erkennens erfasst hat, wird nie annehmen, dass er in dem Sinne zweifellos von der Existenz eines Vorganges überzeugt sein dürfe, dass ein Irrtum absolut ausgeschlossen wäre.« (RGZ 15, 338 (339))
Ein Satz, den man am besten vor jedem Prozesstag laut vorlesen sollte, um die entscheidenden Menschen an die Fehlbarkeit ihres Erkennens zu erinnern. Nur so, sicherheitshalber.
Es gibt nicht nur Ärzte, die als „Halbgötter in Weiß“ glauben, immer alles richtig zu machen, es gibt leider auch die schwarzen Päpste, die allen Ernstes meinen, unfehlbare Überzeugungen bilden zu können. Die selbst im Nachhinein nie einen eigenen Fehler erkennen oder sich sogar dafür entschuldigen können.
Da das Ziel des Strafverfahrens, die Entscheidung über Schuld oder Unschuld des Angeklagten, also nicht über eine objektive Erkenntnis führen kann, muss das Gericht sich mit Hilfe der zulässigen Beweismittel auf den steinigen Weg machen, die Grundlagen für seine Entscheidung aus der Hauptverhandlung zu gewinnen oder zu schöpfen – oder sollte man doch besser sagen zu erarbeiten?
Die Beweismittel, also das, was die Staatsanwaltschaft so zusammengetragen hat, um die Anklage zu einer Verurteilung werden zu lassen, und das was die Verteidigung noch findet, sind der Dreh- und Angelpunkt der Hauptverhandlung. Leider sind auch diese selbst mit diversen zwangsläufigen Fehlerquellen behaftet.
Da gibt es einmal die Fehlerquellen im Beweismittel selbst und dann die Fehlerquellen bei der richterlichen Bewertung dieser Beweismittel.
Fehlerquelle Mensch
Die größte Fehlerquelle ist dabei natürlich wie immer und überall der Mensch als Zeuge.
So ein Zeuge, also jemand der seine eigene Wahrnehmung „bekunden“ soll, um dem Gericht zu einer richtigen Entscheidung zu verhelfen, wird vor seiner Aussage erst einmal belehrt. In § 57 StPO steht drin, was Inhalt dieser Belehrung sein muss:
„Vor der Vernehmung werden die Zeugen zur Wahrheit ermahnt und über die strafrechtlichen Folgen einer unrichtigen oder unvollständigen Aussage belehrt. Auf die Möglichkeit der Vereidigung werden sie hingewiesen. Im Fall der Vereidigung sind sie über die Bedeutung des Eides und darüber zu belehren, dass der Eid mit oder ohne religiöse Beteuerung geleistet werden kann. „
Naja, das mit der Wahrheit kennen wir ja nun schon, die kennt der Zeuge sowenig wie sonst jemand, er soll halt nur nicht lügen, nichts weglassen und nichts hinzufügen. Klingt doch machbar.
Name, Vorname und Alter dürfte in den meisten Fällen halbwegs unproblematisch sein, obwohl viele Zeugen da manchmal plötzlich ins Rechnen kommen oder manche Damen verschämt fragen, ob sie die Frage nach dem Alter wirklich beantworten müssen. Diese Fragen dienen aber auch mehr der Identifikation des Zeugen, als der Rekonstruktion dessen, was denn so passiert sein soll. Die Frage nach einer verwandtschaftlichen Beziehung zum Angeklagten dient der Feststellung von Zeugnisverweigerungsrechten des Zeugen, über die dieser dann ebenfalls zusätzlich zu belehren ist.
Und dann geht es los. Der Zeuge soll dem Gericht nach Möglichkeit zunächst einmal eine zusammenhängende Schilderung dessen geben, was er selbst wahrgenommen hat.
Das scheitert häufig aus den unterschiedlichsten Gründen.
„Das war doch so, oder?“
Es gab einmal einen Amtsrichter, der die Aussage der Zeugen dadurch „erfragte“, dass er ihnen nach der Belehrung ausführlich erzählte, was sie seiner Meinung nach so wahrgenommen hatten, um dann am Ende seines zusammenhängenden Monologs lediglich zu fragen: „Das war doch so, oder?“ – meistens wurde das dann bestätigt. Die Zeugen freuten sich, so eine schöne, schlüssige, zusammenhängende Aussage gemacht zu haben und den Sitzungssaal schnell wieder verlassen zu können. Der Richter freute sich, dass der Zeuge die Anklage bestätigt hatte. Bis auf den Angeklagten waren alle froh.
Es gibt auch Zeugen, die noch nie im Leben irgendetwas im Zusammenhang frei erzählt haben und sich in der Schule schon nicht trauten aufzuzeigen oder ein Referat zu halten. Manche Zeugen schlottern geradezu vor Angst oder Aufregung und sind dankbar dafür, dass ihnen jemand die passenden Worte in den Mund legt, welche, ist dann auch schon völlig egal, Hauptsache sie sind schnell wieder raus aus dem Gerichtssaal.
placebo – ich werde gefallen
Bei Hauptverhandlungen ohne Verteidiger ist das hoch problematisch, weil natürlich eine derartig „angeleitete“ Aussage recht stromlinienförmig zum Urteil führt. Ist ein Verteidiger eingebunden, dessen offizielles Fragerecht leider erst nach dem des Richter und des Staatsanwalts beginnt, können manche dieser „Aussagen“ immerhin wieder korrigiert werden. Mancher Zeuge traut sich dann aber einfach auch nicht mehr einzugestehen, dass er vorher blanken Bullshit erzählt hat. Zeugen möchten, wie jeder andere Mensch auch, grundsätzlich erst mal gut dastehen und viele wollen auch bewusst oder unbewusst die vermeintlichen Erwartungen des Gerichts bedienen. Sie möchten gefallen. Das bedeutet gar nicht, dass sie lügen. Die meisten Menschen sind, was ihre eigenen Wahrnehmungen angeht, gar nicht in der Lage zu differenzieren, was sie wirklich selbst wahrgenommen haben und was lediglich Rückschlüsse oder Bewertungen sind.
Das menschliche Gehirn hat die im Alltag ganz praktische Angewohnheit, wahrgenommene Sachverhalte logisch zu ergänzen. Der Stürmer fällt, also muss er wohl gefoult worden sein, und wenn es der Stürmer der eigenen Mannschaft ist, schreit man Foul! Elfmeter! Auch wenn man das Foul jedenfalls mit seinen Augen gar nicht sehen konnte, vor seinem geistigen Auge hat man es gesehen. Ist es der Stürmer der gegnerischen Mannschaft, hat man selbstverständlich eine „Schwalbe“ gesehen. Beim Wembley-Tor war die Wahrnehmung national gefärbt recht unterschiedlich, obwohl alle dieselben TV-Bilder hatten.
Brutal nachgefragt
Sie glauben gar nicht, wie oft bei einer konkreten Nachfrage die Antwort kommt: „Also, wenn Sie jetzt so (ein Zeuge ergänzte „brutal“) nachfragen, nein, gesehen habe ich das nicht, aber dass muss ja so gewesen sein“. Muss es natürlich nicht. Es kann auch ganz anders gewesen sein. Nichts muss so sein wie es scheint.
Hinzu kommt, dass eine Hauptverhandlung häufig erst sehr lange nach einem Vorfall stattfindet. Wissen Sin noch exakt, was Sie vor einem oder zwei Jahren gesehen oder gehört haben? Wenn Sie jetzt ja sagen, möchte ich Sie zur Vorsicht anhalten. Auch hier spielt uns unser Gehirn manchen Streich, indem es Erinnerungslücken mit einer Art neurologischen autofill-Funktion selbsttätig schließt.
Erinnern ist kein Abrufen von Daten, die auf einer Hirnfestplatte gespeichert sind, es ist jedes mal ein aktiver, kreativer Vorgang, bei dem das Gehirn aus verschiedenen Teilerinnerungen einen neuen Film zusammenstellt und unscharfe Stellen glättet.
„Weiß ich nicht“
Das Gehirn selektiert schon bei der Wahrnehmung und es selektiert bei dem, was ihm behaltenswert erscheint. Die imaginäre – und eigentlich gar nicht vorhandene – Festplatte im Gehirn wird sozusagen zuverlässig von temporären Dateien befreit. Es nützt auch nichts, wenn manche Richter die Zeugen dazu auffordern, ihre Erinnerung gehörig anzustrengen, es schadet sogar. Der Zeuge, der gerade noch wahrheitsgemäß gesagt hat: „Weiss ich nich …“, steht plötzlich unter einem massiven Erwartungsdruck. „Daran müssen Sie sich doch erinnern!“, macht eine echte Erinnernung nicht leichter. Das Gehirn des Zeugen, dass schließlich hauptberuflich exklusiv für ihn arbeitet und nicht für die Justiz, löst dieses stressige Problem ganz pragmatisch, indem es ihm flink eine passende Erinnerung liefert, die ihm gerade angemessen erscheint. Das Bewustsein bekommt das gar nicht mit.
Am Ende steht dann so oder so eine Zeugenaussage, deren Beweiswert der Richter zu beurteilen hat. Richtig spannend wird es immer dann, wenn mehrere Zeugen ihre Aussagen machen – und jeder etwas anderes erzählt. Das ist weder selten noch verwunderlich, weil eben jeder Mensch unterschiedliche Wahrnehmungen und Erinnerungen hat. Es kommt eben immer auf die Perspektive an. Zeugen, die den Angeklagten liebend gerne im Knast sehen wollen, nehmen geradezu zwangsläufig an diesem negative Dinge wahr, Zeugen, die dem Angeklagten nahestehen, haben manches Negative entweder gar nicht wahrgenommen oder in ihrer Erinnerung ausgeblendet. „So etwas tut der nicht.“, ist eben keine Erinnerung, sondern eine Wertung, die aber als Prämisse sowohl die Wahrnehmung als auch die Erinnerung manipuliert. Oder beide Gruppen von Zeugen lügen, dass sich die Balken biegen.Gibt’s auch. That’s life.
Und jetzt muss der Richter oder auch mehrere Richter sich eine Überzeugung bilden. Nur weil sich die Zeugenaussagen widersprechen, muss er die Flinte noch nicht ins Korn werfen.
Erst einmal macht er sich Gedanken über die Glaubwürdigkeit der einzelnen Zeugen, wobei Zufallszeugen, die in keinerlei Beziehung zum Angeklagten oder zum eventuellen Opfer stehen, grundsätzlich als neutral und deshalb besonders glaubwürdig angesehen werden. Kann stimmen, muss aber nicht.
Warum wird Polizeibeamten eher geglaubt?
Auch Polizeibeamte genießen einen gewissen Glaubwürdigkeitsvorschuss. Die Frage, warum sollte der Polizeibeamte denn etwas Falsches sagen, beantworte ich gerne mit der Gegenfrage, ja, warum denn nicht ? Selbst wenn es keinen konkreten Hinweis darauf gibt, bedeutet das ja nicht, dass es nicht so sein kann.
Und dass ein Polizist als Zeuge ja gar kein Interesse an der Verurteilung eines Angeklagten hat, kann man so auch nicht sagen. Wenn man die aktuelle Empörung einiger Polizeibeamten über die „Kuscheljustiz“ hört, darüber das Angeklagte freigesprochen werden und danach lachend den Sitzungssaal verlassen, dann kann man schon an der Objektivität solcher polizeilicher Zeugen und deren Rechtsstaatsverständnis zweifeln. Warum sollte ein Freigesprochener nicht lachen?
Ich hatte mal einen Polizeibeamten als Zeugen, der sich seit Jahren in den Kopf gesetzt hatte, der Angeklagte sei ein Brandstifter und der bei fast jedem Brand in einer bestimmten Ortschaft gegen Angeklagten ermittelte, und zwar nur gegen den Angeklagten. Auf meine Frage, wie er denn darauf komme, dass mein Mandant ein notorischer Brandstifter sei, kam die für einen Polizisten erstaunliche Antwort, „Das weiß doch Jeder !“.
Auf Nachfrage, wer denn Jeder sei, ob er mir ein paar Namen dieses „Jedermanns“ nennen könne, musste er dann einräumen, jeder sei er. Dass dieser Zeuge, der ausweislich der Aussagen von Kollegen seine Meinung auch über den Flurfunk gestreut hatte, kaum als besonders glaubwürdig anzusehen war, liegt auf der Hand. Bei der ersten Vernehmung des Angeklagten hatte dieser Zeuge dem bestreitenden Angeklagten auch gleich schon gesagt – und erstaunlicherweise auch protokolliert – „Ihnen glaubt hier niemand“.
Meine Frage , wer dieser Niemand denn sei, antwortete er in erfrischender Einfalt, “ Ich bin Niemand“, – was ich ihm gerne bestätigt habe. Da war er eingeschnappt. Solche Zeugen kennt jeder Verteidiger, nicht immer kommt man ihnen aber so leicht auf die Schliche. Gerade aussagerfahrene Polizisten können sich da in der Regel besser verkaufen.
Ureigenste Aufgabe
Der Richter „sortiert“ sich also die Zeugen nach Glaubwürdigkeit und guckt dann mal, was so übrig bleibt. Die wirklichen Kriterien sind kaum überprüfbar, die Begründungen für und wider die Glaubwürdigkeit der Zeugen oder die Glaubhaftigkeit der Aussagen häufig austauschbar. Da die Beurteilung von Beweismitteln laut Rechtsprechung die „ureigenste Aufgabe“ des Richters ist, gesteht sich auch selten mal ein Richter ein, dass es vielleicht hilfreich sein könnte, auch bei erwachsenen Zeugen ein aussagepsychologisches Gutachten einzuholen. Schade eigentlich, obwohl auch diese Gutachten natürlich keine Gewissheit bringen können, aber manchmal wenigstens ein paar bedenkenswerte Argumente. Oft genug irren auch Gutachter.
Vernünftige Zweifel
Dass das Ganze alles noch spekulativer wird, wenn die Zeugen gar keine unmittelbaren Tatzeugen, sondern nur Puzzleteile in einem Indizienprozess sind, versteht sich von selbst. Da gibt es dann oft Indizienketten, die an keinem Hals hängen blieben, wenn sie Perlenketten wären.
Ja, werden Sie als aufmerksamer Prozessbeobachter, Recht-klar-Leser und eifriger Krimiseher anmerken, es gibt aber doch den Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“. Ja, gibt es. Dummerweise setzt der aber voraus, dass der Richter überhaupt Zweifel hat. Und dann reichen nicht nur „theoretische“ Zweifel, sondern es müssen „vernünftige“ Zweifel sein. Oft genug wird dann ein von der Verteidigung geweckter Zweifel auf den Vornamen „Theoretisch“ getauft, was ist schon vernünftig und was nicht? Je voreingenommener und selbstherrlicher ein Richter ist, um so seltener wird er überhaupt an seinem Urteilsvermögen zweifeln. Und wenn ein Richter unbedingt gerne verurteilen möchte, hat er noch ein ganz tolles Argument gegen aufkommende Zweifel – die „allgemeine Lebenserfahrung“. Wessen Lebenserfahrung das genau sein soll, erfährt man zwar selten, aber so oft wie man diesen Begriff hört und liest, muss es sie wohl geben.
Der Klassiker „Alle Türken lügen vor Gericht“ wurde allerdings bereits 1979 als Erfahrungssatz ebenso kassiert, wie die allgemeine Lebenserfahrung, wonach Polizisten niemandem in Gegenwart von anderen an den Haaren ziehen. Solche an den Haaren herbeigezogenen „allgemeinen Lebenserfahrungen“ wollten Richter damals tatsächlich erkannt haben.
Die Erkenntnis Alfred Polgars,
„Die Menschen glauben viel leichter eine Lüge, die sie schon hundertmal gehört haben, als eine Wahrheit, die ihnen völlig neu ist.“,
gilt auch für Richter. Dummerweise ist das oft Gehörte nicht immer das Richtige und manches Mal ist die Realtität so skuril, dass ein Richter sie für ein Märchen hält.
An die „freie“ Beweiswürdigung eines Gerichtes kommt man in der Revision nur dann rechtlich ran, wenn sie logische Fehler, also Verstöße gegen Denkgesetze, Zirkelschlüsse oder ähnliche Schnitzer – wie bei den „allgemeinen Lebenserfahrungen“ – enthält. Das kommt dann doch seltener vor, aber es kommt vor.
Spuren sind Spuren
Andere Beweismittel, die den Eindruck von naturwissenschaftlicher Präzision erwecken, sind leider auch nicht immer viel besser. Klar ist es ein Indiz, wenn an der Tatwaffe DNA-Spuren des Angeklagten gefunden wird, es ist aber kein Beweis für die Täterschaft. Eine Spur beweist immer nur eine Spur, nicht mehr. Wird am Tatort ein Haar oder eine Zigarettenkippe des Angeklagten gefunden, dann bedeutet das nicht, dass der Angeklagte am Tatort war, sondern nur, dass ein Haar oder eine Kippe von ihm wie auch immer an den Tatort gelangt ist. Das kann auch schon wochenlang da rum liegen oder vom Opfer dorthin getragen worden sein, unter dem Schuh zum Beispiel oder der wirkliche Täter hat es bewusst dort platziert, um eine falsche Spur zu legen. Das kann bei Pässen von Selbstmordattentätern auch so sein. Es kann auch vom Angeklagten sein. Aber dieser Schluss kommt eben oft zu schnell und dann konzentriert sich häufig alles nur noch auf einen Verdächtigen.
Dann beginnen die Scheuklappenermittlungen und alles was rechts und links davon liegt, wird als unergiebig bewertet.
Wenn keine Spur einer anderen Person am Tatort gefunden wurde, bedeutet das eben nicht, dass keine andere Person am Tatort war, sondern nur, dass keine andere Spur gefunden wurde; sei es weil gar keine Spur da war, sei es weil die Spurensicherung sie nicht gefunden oder auch versehentlich vernichtet hat, sei es, dass gar nicht gründlich gesucht wurde. Ein Fingerabdruck an einem Messer sagt nichts darüber aus, wann er auf das Messer gekommen ist oder wo. Vielleicht hat der Verdächtige sich damit auch nur ein Stück Salami abgeschnitten, bevor der Täter das Messer dann mit Handschuhen zum Mord benutzt hat. Spurenlesen konnte Winnetou, aber den gab es ja nicht wirklich und Karl May war ein Betrüger.
Manche Spur führt nur zur Verurteilung, weil dem Gericht die Phantasie für eine alternative Erklärung fehlt oder weil die alternative Erklärung der Verteidigung als „lebensfremd“ oder „konstruiert“ – das sind die Brüder der „allgemeinen Lebenserfahrung“ – verworfen wird. Mag sein, dass auch die Erwartung der Öffentlichkeit eine gewisse Rolle spielt.
Der Richter muss sich eine Überzeugung bilden, so oder so. Es ist sein Job. Er muss von der Schuld des Angeklagten überzeugt sein. Er muss die Beweise „würdigen“, in freier Beweiswürdigung, ohne feste Beweisregeln. Der Bundesgerichtshof hat das einmal so zusammengefasst:
Das ist keine leichte Aufgabe und manchmal geht sie halt auch schief. Ich muss glücklicherweise nicht entscheiden. Ich muss nur zweifeln, für den Angeklagten, nach alternativen Deutungen der Beweise suchen, auch kreativ, nicht im Dienste der absoluten „Wahrheit“, aber eben im Dienste des Beschuldigten und damit letztlich auch der Gerechtigkeit. Darüber bin ich froh, damit bin ich zufrieden. Die Richter beneide ich nicht. Sie haben eine verdammt schwere Aufgabe und verdienen dafür grundsätzlich den Respekt der Gesellschaft.
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