Trotzki vs. Stalin – Zur Geschichte eines ungleichen Kampfes

Vor etwa 85 Jahren, im August 1940, wurde Lew Trotzki von Ramón Mercader, einem Agenten des stalinistischen Geheimdienstes, ermordet. So verstummte die Stimme eines der unbeugsamsten Gegner Stalins innerhalb der kommunistischen Bewegung. Mit einigen Aspekten der Fehde zwischen den beiden bolschewistischen Führern, die eine lange Vorgeschichte hat, möchte ich mich in dieser Kolumne befassen.

Leo Trotzki

Trotzkis Entmachtung im Jahre 1924

Die Auseinandersetzung zwischen Trotzki und Stalin prägte entscheidend die gesamte erste Phase des Kampfes um die Nachfolge des im Januar 1924 verstorbenen Lenin. Dabei wurde Trotzkis Machtstreben von vielen Beobachtern in der Regel überschätzt und dasjenige Stalins unterschätzt. Dies ungeachtet der Tatsache, dass Trotzki beim ersten Akt dieses Machtkampfes, der noch zu Lebzeiten Lenins begonnen hatte (im Dezember 1923) eine spektakuläre Niederlage hinnehmen musste.  Wie gelähmt hatte Trotzki damals seiner Entmachtung durch die alte bolschewistische Garde zugesehen (vgl, dazu meine Kolumne vom 8. August 1924). Seine nichtbolschewistische Vergangenheit, die ihm von seinen Gegnern vorgeworfen wurde, betrachtete er selbst als eine Art Makel und gab den Kampf um die Nachfolge Lenins, bald nachdem er ausgebrochen war, praktisch verloren. In den Jahren 1926/27 hingegen befand sich Trotzki mit vielen alten Bolschewiki, mit der sogenannten linken Opposition, im Kampf gegen die Parteimehrheit unter Stalin und Nikolaj Bucharin im gleichen politischen Lager. Aus einem Außenseiter verwandelte sich Trotzki in einen Wortführer der alten Parteigefährten Lenins. Diese neue Konstellation erklärt sicher den außerordentlichen Kampfgeist, den er in den Jahren 1926/27, im Gegensatz zum Jahr 1924, mehrmals unter Beweis stellte.

Plante Trotzki 1926/27 einen „Marsch auf Moskau“?

Obwohl sich Trotzki 1924 beinahe ohne Widerstand hatte zurückdrängen lassen, nahm die Faszination, die diese Gestalt auf die gesamte Partei ausübte, noch kein Ende. Man hielt Mitte der 1920er Jahre die Gefahr eines trotzkistischen Staatsstreiches für durchaus akut. Ruth Fischer, die zum linken Flügel der KPD zählte, berichtet, dass Stalin panische Angst vor einem solchen Staatsstreich gehabt habe. Erst vor kurzem sind Stalins Briefe an einen seiner engsten Gefährten, Molotow, zugänglich geworden. In einem dieser Briefe (23.9.1926) schreibt Stalin: Trotzki sei in Rage und spiele va banque, und dann wörtlich:

Die Frage stellt sich folgendermaßen: Entweder unterwirft sich … (die Opposition) der Partei oder … (die Opposition) unterwirft die Partei. Es ist klar, dass im letzten Fall die Partei aufhören wird, als solche zu existieren.

Nicht nur Trotzkis Gegner, sondern auch seine Verbündeten hielten ihn für durchaus in der Lage, die bestehende Parteiführung gewaltsam zu beseitigen. Ruth Fischer schreibt über ein Gespräch mit einem der Führer der linken Opposition in der bolschewistischen Partei, Grigorij Sinowjew, bei dem dieser das Bündnis seiner Fraktion mit Trotzki folgendermaßen begründete: Die Opposition brauche Trotzki nicht nur wegen seiner intellektuellen Fähigkeiten, sondern auch deshalb, weil die Partei eine starke Hand benötige, um auf den Weg des Sozialismus zurückzukehren. Stalin kämpfe nicht mit Worten, sondern mit Gewalt, man müsse nun gegen ihn eine stärkere Gewalt einsetzen.

1927 verschlechterte sich die außenpolitische Situation der Sowjetunion. Die Parteiführung sprach nun von einer „Kriegsgefahr“ und appellierte an die Opposition, angesichts der „Kriegsgefahr“ ihren Kampf gegen die Parteimehrheit einzustellen. Diesen Appell beantwortete Trotzki am 11. Juli 1927 mit einem Brief an das führende Mitglied der Stalinschen Fraktion Ordschonikidse, der in die Geschichte als der sog. „Clemenceau-Brief“ einging. Trotzki meinte in diesem Brief, dass gerade wegen der Bedrohung des sowjetischen Staates durch eine „kapitalistische“ Intervention die Opposition verpflichtet sei, ihre Bemühungen um die Absetzung der jetzigen unfähigen Regierung fortzusetzen. Falls der Krieg tatsächlich ausbrechen sollte, würden die Schwächen der jetzigen Regierung für alle sichtbar werden. Die Absetzung dieser Regierung wäre dann Voraussetzung für eine bessere Organisierung der Landesverteidigung. Die Opposition müsse dann ähnlich handeln, wie der französische Staatsmann Georges Clemenceau im Herbst 1917 gehandelt habe, als er die damalige französische Regierung stürzte.

Diese Thesen Trotzkis fasste Nikolaj Bucharin in seiner Rede vom August 1927 als Einleitung zu einem Staatsstreich gegen die bestehende sowjetische Führung auf. Ein Marsch der bolschewistischen Linken auf Moskau nach dem Vorbild des Marsches Mussolinis auf Rom stand für viele Beobachter nun unmittelbar bevor. Sie ließen aber außer Acht, dass Mussolini ein parlamentarisches Regime beseitigt hatte, das einer Opposition wesentlich mehr Möglichkeiten bot als die bolschewistische Diktatur. Die Vertreter der linken Opposition hatten früher selbst nicht wenig dazu beigetragen, die Kampfbedingungen der Regierungsgegner im sowjetischen Staat äußerst zu erschweren. Nun mussten sie selbst die Konsequenzen ihrer früheren Politik tragen. Die führenden Vertreter der Opposition verloren im Laufe des Jahres 1926 beinahe alle verantwortlichen Posten sowohl innerhalb der Partei wie auch der Regierung und kämpften praktisch mit leeren Händen gegen ihre Gegner.

Trotzki als „revolutionärer Romantiker“

Abgesehen davon distanzierte sich die linke Opposition, ungeachtet ihrer martialischen Reden, im Wesentlichen von jedem gewaltsamen Vorgehen gegen die herrschende Parteigruppierung. So war sich Trotzki in den Jahren 1926/27 darüber unsicher, ob er im Kampf gegen die Parteimehrheit gewaltsam vorgehen dürfe.

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Der aus der Sowjetunion emigrierte Historiker A. Awtorchanow kritisiert diese Einstellung der Gegner Stalins – vor allem Trotzkis -, die in den 1920er Jahren den Kampf gegen Stalin unter Beachtung der Regeln des bolschewistischen „Ehrenkodexes“ zu führen versuchten. Als Revolutionsführer sei Trotzki ein Gigant, als Machttechniker hingegen bloß ein Zwerg gewesen, meint Awtorchanow. Mit Stalin hätten sich die Dinge genau umgekehrt verhalten.

Statt einen Staatsstreich zu planen, organisierte Trotzki zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution eine Gegendemonstration zur offiziellen Demonstration der Parteiführung. Dieser Schritt Trotzkis war im Grunde von vornherein als Demonstration der Ohnmacht geplant. Er wusste wohl, dass Stalin nicht zögern würde, die Gegendemonstration der Opposition mit Hilfe der Miliz auseinanderzujagen. Deshalb muss Trotzkis Vorgehen am 7.November 1927 eher als romantische Geste denn als durchdachte Kampfmaßnahme angesehen werden. Die Miliz hatte in der Tat keine Mühe, die oppositionelle Demonstration gewaltsam zu beenden. Drei Tage nach dieser Demonstration wurden Trotzki und Sinowjew aufgrund ihres Verstoßes gegen die Parteidisziplin aus der Partei ausgeschlossen. Im Jahr 1927 blieb Trotzki im Grunde derselbe revolutionäre Romantiker, der er auch im Jahre 1917 gewesen war. Die bolschewistische Partei hingegen hatte sich inzwischen in ihrer Struktur grundlegend gewandelt. Für die Mehrheit der Parteimitglieder, die erst nach dem Bürgerkrieg in die Partei eintraten, mutete das Programm Trotzkis schon anachronistisch an. Die These Stalins vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande sprach sie wesentlich stärker an als Trotzkis Idee von der permanenten Revolution bzw. von der vorrangigen Bedeutung der Weltrevolution für die Bolschewiki.

Die Unterschätzung Stalins

Als Stalin Mitte der 1920er Jahre eine Wende in der bolschewistischen Partei vollzog und der von Trotzki favorisierten Idee von der „permanenten Revolution“ die Idee vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande“ (UdSSR) entgegensetzte, atmeten viele westliche Beobachter auf. Stalin galt nun in ihren Augen, im Gegensatz zum revolutionären Romantiker Trotzki, als ausgesprochener Pragmatiker. Trotzki bezeichnete seinerseits Stalin als „Thermidorianer“ (in Anlehnung an die Revolte vom 9. Thermidor 1794, die der Schreckensherrschaft Robespierres ein Ende setzte) und als „Totengräber der Revolution“. In Wirklichkeit verkannte Trotzki, ähnlich wie manche westliche Bewunderer des Stalinschen „Pragmatismus“, das Wesen des Stalinschen Systems. Denn anders als beim „Thermidor“ handelte es sich beim Stalinismus keineswegs um eine Abkehr vom revolutionären Utopismus, sondern im Gegenteil: Gerade Stalin führte diese Entwicklung der russischen Revolution auf ihren Höhepunkt. Bis dahin galt das System des „Kriegskommunismus“ (1918-1921), das die Bolschewiki während des russischen Bürgerkrieges errichtet hatten, als ein solcher Höhepunkt. Mit dem „kriegskommunistischen System“ war untrennbar der grenzenlose „rote Terror“ verbunden, zu dessen wichtigsten Initiatoren neben Lenin und anderen bolschewistischen Führern auch Trotzki gehörte. Von Trotzki stammte das Konzept der „Militarisierung der Arbeit“, das er nach dem von den Bolschewiki gewonnenen Bürgerkrieg entwickelte. Armeen des Bürgerkrieges sollten nun nach der Bezwingung der innenpolitischen Gegner in streng disziplinierte Arbeitsarmeen verwandelt werden. Im Februar 1920 bezeichnete Trotzki „das Gerede über die freie Arbeit“ als Relikt des bürgerlichen Zeitalters und gab offen zu, dass der sowjetische Staat auf Zwang, unter anderem auch auf Arbeitszwang, basiere. Diese Verklärung des Zwangs stellte damals keine Privatmeinung Trotzkis, sondern die Meinung maßgeblicher Kräfte in der bolschewistischen Partei, nicht zuletzt auch Lenins, dar.

Der „Kriegskommunismus“ verkörperte den ersten Versuch der Bolschewiki, die gesellschaftliche Realität des von ihnen beherrschten Landes an ihre Doktrin anzupassen. Obwohl dieser Versuch im ersten Anlauf gescheitert war (1921 mussten die Bolschewiki auf das „kriegskommunistische System“ verzichten), hörte diese „Vision“ keineswegs auf, die Partei zu inspirieren. Dies war die Stunde Stalins. Infolge der von ihm 1929 begonnenen Revolution von oben wurde die sowjetische Wirklichkeit noch stärker an die bolschewistische Doktrin angepasst, als dies während der kriegskommunistischen Periode der Fall gewesen war. Denn Stalin ist es damals gelungen, das zentrale Postulat der Klassiker des Marxismus – die „Abschaffung des Privateigentums“ – zu verwirklichen. Im Juli 1932, als die bis dahin als undurchführbar geltende Aufgabe der Enteignung von mehr als 100 Millionen sowjetischer Bauern beinahe vollendet worden war, schrieb Stalin an seine engsten Gefährten – Molotow und Kaganowitsch:

Der Kapitalismus wäre nicht imstande gewesen, den Feudalismus zu zerschlagen…ohne die Durchsetzung des Prinzips der Unantastbarkeit des Privateigentums…Der Sozialismus wird nicht imstande sein, die kapitalistischen Elemente …zu begraben, wenn es ihm nicht gelingen wird, die Heiligkeit und Unantastbarkeit des gesellschaftlichen Eigentums (zu verteidigen).

Aber Stalin verwirklichte nicht nur das zentrale Postulat des „Kommunistischen Manifestes“ von Marx und Engels – die „Abschaffung des Privateigentums“. Auch Lenins Traum von der Schaffung einer disziplinierten Partei, die handelt und nicht ewig diskutiert, ist erst in der Stalin-Epoche Wirklichkeit geworden. Trotz der Verklärung der Parteidisziplin vermochte Lenin nicht, die von ihm 1903 gegründete Partei in ein monolithisches Gebilde zu verwandeln. Erst Stalin sollte dies gelingen, und zwar zu Beginn der 1930er Jahre, während der Kollektivierung der Landwirtschaft. Der bolschewistische Typ ändere sich, schrieb 1932 der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow. Für die Parteiführung sei nun die bedingungslose Erfüllung der „Generallinie“ viel wichtiger geworden als freiwillige Anerkennung der bolschewistischen Ideen. Die Parteidisziplin werde höher eingestuft als der revolutionäre Idealismus.

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Dieser Entmachtung bzw. Selbstentmachtung der Partei, folgte 1936–1938, zur Zeit des „Großen Terrors“, ihre Enthauptung. Anders als oft vermutet, handelte es sich bei dem 1936 begonnenen Vernichtungsfeldzug nicht in erster Linie um die Abrechnung Stalins mit seinen Kritikern, mit den ehemaligen Partei-Oppositionellen.  Die letzteren spielten machtpolitisch bereits seit Ende der 1920er Jahre keine Rolle mehr.  Die Auseinandersetzung mit ihnen stellte nur einen Randaspekt des Großen Terrors dar. Im Zentrum der Aufmerksamkeit des Diktators stand damals die aktuell herrschende Machtelite, die in ihrer überwiegenden Mehrheit aus überzeugten Stalinisten bestand. So erschütterte die Stalin-Riege das eigentliche Fundament des Regimes. Dies wer eine Operation beispielloser Dimension, die sich nicht einmal mit der jakobinischen Schreckensherrschaft vergleichen lässt. Denn in Frankreich ist es nach zwei Jahren, am 9. Thermidor 1794, gelungen, den Urheber des Terrors zu entmachten. In der Sowjetunion hingegen fand eine Art Thermidor – die Abrechnung mit dem Tyrannen – erst posthum, auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956, statt.

Trotzkis letztes Gefecht

Die weitgehende Vernichtung der alten bolschewistischen Garde, seiner ehemaligen Gefährten, beobachtete Trotzki aus dem Exil, wo er sich seit seiner Ausweisung aus der Sowjetunion Anfang 1929 befand. Aber irgendwie war er in Moskau präsent geblieben, bei allen Moskauer Schauprozessen, die in den Jahren 1936-1938 stattfanden, befand er sich unsichtbar auf der Anklagebank, denn er galt den Urhebern des Großen Terrors als der wichtigste Drahtzieher aller Verschwörungen, die angeblich gegen die Kremlführung geschmiedet worden waren. Und auch viele Gefährten Lenins, die sich nun auf der Anklagebank befanden, bezeichneten in ihren absurden Selbstbezichtigungen Trotzki als ihren Komplizen.

Hat sich die sowjetische Machtelite gegen diesen Vernichtungsfeldzug irgendwie gewehrt? Insbesondere nach der partiellen Öffnung der sowjetischen Archive begaben sich die Historiker auf die Suche nach den Spuren des innerparteilichen Widerstandes gegen die Urheber des Großen Terrors. Spektakuläre Funde erzielten sie dabei aber nicht. Die Versuche der sowjetischen Oligarchie, den gegen sie gerichteten Vernichtungsfeldzug aufzuhalten, hatten in der Regel einen zaghaften und völlig unbeholfenen Charakter.

In seiner Rede über die Moskauer Schauprozesse vom Februar 1937 sagte Trotzki:

Sämtliche Erschossene starben mit Flüchen gegen dieses Regime auf den Lippen.

Die Richtigkeit dieser Aussage lässt sich aber dokumentarisch nicht belegen.

Für die Mehrheit der heutigen Stalinismusforscher, wenn man von den sogenannten „Revisionisten“ (J. Arch Getty, Robert W. Thurston u.a.) absieht, besteht kein Zweifel daran, dass Stalin den Vernichtungsfeldzug von 1936–1938  sowohl initiierte als auch weitgehend kontrollierte.

Trotzki hingegen weigerte sich, in Stalin einen Gestalter der einschneidenden politischen Prozesse zu sehen. In seiner Stalin-Biographie schrieb er:

Stalin riss die Macht an sich, nicht auf Grund persönlicher Leistungen, sondern mit Hilfe eines unpersönlichen Apparates. Und es war nicht er, der diesen Apparat geschaffen, sondern der Apparat hatte ihn geschaffen.

Diesem Urteil Trotzkis widerspricht vehement der bereits erwähnte Sowjetologe A. Awtorchanow. Stalin sei kein Produkt der unpersönlichen bürokratischen Parteimaschine gewesen, wie Trotzki dies behaupte.  Im Gegenteil, dieser bürokratische Parteiapparat der später zur Vernichtung der alten Bolschewiki verwendet worden sei, sei im Wesentlichen ein Produkt Stalins gewesen.

Trotzkis Warnungen vor der nationalsozialistischen Gefahr

Obwohl Trotzki immer wieder dazu neigte, Stalin zu unterschätzen, stellte er bei seiner Auseinandersetzung mit dem wichtigsten ideologischen Kontrahenten des Kreml-Diktators –  Adolf Hitler – einen erstaunlichen Weitblick unter Beweis. Die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und mit Hitler in der Zwischenkriegszeit lässt sich im Grunde als eine Geschichte der Fehleinschätzungen betrachten. Die Erfolge der Nationalsozialisten waren nicht zuletzt mit der Unfähigkeit ihrer Gegner, aber auch ihrer Verbündeten, verknüpft, den Charakter dieser Bewegung adäquat zu begreifen. Nicht zuletzt deshalb verdienen Analytiker, die das Wesen dieser Herausforderung rechtzeitig erkannten, eine besondere Aufmerksamkeit. Zu diesen gehörte auch Lew Trotzki.

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Trotzki – neben Lenin zweifellos der wichtigste Akteur des bolschewistischen Staatsstreiches vom Oktober 1917 – beobachtete aus seinem Exil in der Türkei, wie die Nationalsozialisten, die bolschewistische Taktik aus dem Jahr 1917 nachahmend, konsequent die Machtergreifung in Deutschland anstrebten. Verärgert über seine Ohnmacht musste Trotzki zusehen, wie die Gegner der Nationalsozialisten vergleichbare Fehler begingen, die die Gegner der Bolschewiki 1917 begangen hatten. Die Nationalsozialisten waren in der Tat in der Ausnutzung der Schwächen des parlamentarischen Staates und der Kopflosigkeit ihrer Kontrahenten den Bolschewiki ebenbürtig.

Mit äußerster Schärfe kritisierte Trotzki die selbstzerstörerische Deutschlandpolitik der stalinistischen Führung, der Kommunistischen Internationale und der KPD zu Beginn der 1930er Jahre. Insbesondere prangerte er die Tendenz der Stalinisten an, die Definition „Faschismus“ auf beinahe alle nicht-kommunistischen Kräfte in Deutschland, auch auf die SPD, auszudehnen. Bei der SPD wiederum kritisierte Trotzki ihre übertriebene Staatsfrömmigkeit. Für den Fall einer wirklichen Gefahr setze die SPD ihre Hoffnung auf die preußische Polizei, auf die Reichswehr und auf die Verfassungstreue des Reichspräsidenten Diese Hoffnung sei jedoch trügerisch, schrieb Trotzki einige Monate vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler.

Trotzki verurteilte also bei den deutschen Sozialdemokraten ihre Unfähigkeit, in Krisenzeiten den skrupellosen Gegner ohne Rücksicht auf parlamentarische Gepflogenheiten zu bekämpfen. Alle diese Eigenschaften waren aber auch für die demokratisch gesinnten russischen Sozialisten charakteristisch gewesen. Dies hat den bolschewistischen Staatsstreich vom Oktober 1917, zu dessen wichtigsten Urhebern, wie bereits gesagt, Trotzki zählte, wesentlich erleichtert.

Was die deutschen Konservativen anbetrifft, so diagnostizierte Trotzki bei ihnen bereits im September 1932 die Neigung, mit der NSDAP zu koalieren. Dies werde aber „die Auflösung von Bürokratie, Gericht, Polizei und Armee im Faschismus (nach sich ziehen)“, so Trotzki.

Auch den künftigen Krieg Hitlers gegen die Sowjetunion hat Trotzki frühzeitig vorausgesagt, und zwar noch vor der nationalsozialistischen Machtübernahme.  Nur ein „faschistisches“ Deutschland könne es wagen, einen Krieg gegen die Sowjetunion anzufangen, um dadurch seine unlösbaren innenpolitischen Probleme zu verdrängen, so Trotzki. Deshalb riet er der sowjetischen Regierung, sofort nach der Benachrichtigung von einer nationalsozialistischen Machtergreifung eine Teilmobilmachung der Roten Armee anzuordnen. Diese Warnungen Trotzkis wurden von der stalinistischen Führung der Komintern scharf zurückgewiesen und als Provokationen bezeichnet.

Aber Trotzki „provozierte“ mit seinen Warnungen nicht nur die stalinistische Führung, sondern auch die Regierungen der Westmächte. Die Westmächte seien dem Trugschluss erlegen, dass die nationalsozialistische Expansion sich vor allem gegen den Osten richten werde, schrieb Trotzki einige Monate nach der nationalsozialistischen Machtübernahme. Aus diesem Grund würden sie die Wiederaufrüstung Deutschlands wohl nicht verhindern. In Wirklichkeit sei das eigentliche Ziel Hitlers nicht nur der Krieg gegen die Sowjetunion, sondern eine grundlegende Veränderung des europäischen Kräfteverhältnisses zugunsten Deutschlands. Deshalb, so folgerte Trotzki, werde sich Hitler früher oder später auch gegen den Westen wenden.

Auch die Möglichkeit einer Annäherung zwischen Hitler und Stalin, die im August 1939 zum Erstaunen der Weltöffentlichkeit erfolgte, wurde von Trotzki frühzeitig vorausgesehen. Bereits im März 1939 sagte er sie voraus. Und im Juni 1939 fügte er hinzu:

Vom ersten Tag des nationalsozialistischen Regimes an zeigte Stalin systematisch und nachdrücklich seine Bereitschaft zur Freundschaft mit Hitler.

Aber auch über die Brüchigkeit der „Freundschaft“ zwischen den beiden Diktatoren war sich Trotzki im Klaren. Am 25. September 1939, also kurz nach dem Zusammenbruch des polnischen Staates, der von seinen beiden totalitären Nachbarn in die Zange genommen worden war, schrieb Trotzki:

Zurzeit ist Hitler der Verbündete und Freund Stalins, doch wenn Hitler mit Hilfe Stalins an der Westfront als Sieger hervorgeht, wird er morgen seine Waffen gegen die UdSSR richten.

Nicht zuletzt wegen solcher Warnungen vor den gefährlichen Folgen der kurzsichtigen Politik des Moskauer Tyrannen wurde Trotzki zum Opfer einer von Stalin initiierten Menschenjagd, die letztlich zu dem vom Kreml-Herrscher gewünschten Erfolg führte. Im August 1940 wurde Trotzki ermordet.

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