§ 188 StGB und Meinungsfreiheit

Was man alles über PolitikerInnen sagen darf, ohne sich strafbar zu machen, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Im Kern der Debatte steht dabei der § 188 StGB. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz.


Bild von BRRT auf Pixabay

Extrawurst für Politiker?

Die politische Auseinandersetzung lebt von der freien Meinungsäußerung. Doch in Zeiten zunehmender digitaler Verrohung und gezielter Desinformationskampagnen stellt sich die Frage, wie weit dieser Schutz reichen darf – insbesondere, wenn er mit dem Persönlichkeitsrecht politischer Akteure kollidiert.

Der § 188 StGB normiert einen besonderen Schutz für Personen des politischen Lebens gegenüber übler Nachrede und Verleumdung. Während seine gut gemeinte Intention darin besteht, die demokratische Willensbildung vor diffamierenden Eingriffen zu schützen, wird der Paragraph zunehmend zu Recht als privilegierender Eingriff in die Meinungsfreiheit diskutiert.
Ziel dieser Kolumne ist es, § 188 StGB – möglichst verständlich – systematisch und kritisch zu analysieren, wobei sowohl seine dogmatische Einordnung als auch die verfassungsrechtliche Problematik im Mittelpunkt stehen.

Systematische Stellung und Tatbestandsmerkmale

§ 188 StGB stellt keine eigenständige Ehrdelikts-Norm dar, sondern modifiziert lediglich die bereits vorhandenen allgemeinen Tatbestände der üblen Nachrede (§ 186 StGB) und der Verleumdung (§ 187 StGB) durch eine Strafschärfung, sofern sich die Äußerung gegen eine Person des politischen Lebens richtet. Im Klartext bedeutet das, wenn Sie einen Politiker verleumden ist das schlimmer, als wenn Sie mich verleumden. Der Schutzzweck liegt laut Gesetzesbegründung aber nicht so sehr im verbesserten Schutz des Politikers als vor allem im Erhalt der Integrität politischer Entscheidungsprozesse und der Sicherung der Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen.

Voraussetzung für die Anwendung ist neben der Erfüllung des Grundtatbestands – also der Verleumdung oder der üblen Nachrede – auch, dass:

1. die betroffene Person dem politischen Leben zuzuordnen ist, und
2. die Handlung geeignet ist, die öffentliche Meinungsbildung zu beeinflussen.

Die gesetzliche Definition bleibt hinsichtlich beider Kriterien äußerst vage, was leider zu einer weiten Auslegung durch die Rechtsprechung führt. Besonders umstritten ist schon, wann eine Person „dem politischen Leben“ zuzurechnen ist – der Begriff wird funktional verstanden und schließt regelmäßig Mandatsträger, Regierungsmitglieder, aber auch kommunale Amtsinhaber ein. Ein politischer Autor oder Aktivist genießt also nicht diesen speziellen  Schutz. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Rechtsprechung und Anwendungsbeispiele

Zwei Beispiele:

LG Berlin, Urteil vom 8. Februar 2021 – 27 Ns 12/20
Ein Aktivist hatte einem Bürgermeister öffentlich unterstellt, er habe absichtlich Flüchtlingen Schaden zugefügt. Die Aussagen basierten auf erfundenen Fakten und wurden über soziale Netzwerke verbreitet. Das Landgericht sah darin einen Fall des § 188, da die Äußerungen geeignet waren, das Vertrauen in die öffentliche Verwaltung zu untergraben und das politische Amt zu beschädigen.

 Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 4.4.24 – 1 BvR 820/24
Wer nun meint, er habe den Tatbestand verstanden und „korrupt“ sei schon genug, wird durch diesen lesenswerten Beschluss des höchsten deutschen Gerichts, eines Besseren belehrt. Hier hatte der von Amts- und Landgericht Verurteilte geäußert:

„Der gesamte Vorgang lässt nur einen Schluss zu: Regierungspräsident (…D4…) ließ nur deswegen die Ausnahmegenehmigung zur (…D3…)wald-Rodung erteilen, weil er aufgrund langjähriger Sponsoringgelder von Stahlwerksbesitzer (…D5…) mit diesem freundschaftlich verbandelt ist. Von Rechtsstaatlichkeit keine Spur. […] (…D4…) ist korrupt, auch wenn hier vermutlich nur 250 Euro flossen und Stahlwerkschef (…D5…) den Rest in Form freundschaftlicher Gefallen zahlen wird.“ „

Dazu meint das Gericht u.a.:

bb) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Die Gerichte gehen mit einer verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht genügenden Begründung vom Vorliegen einer Tatsachenbehauptung aus und verkürzen damit den grundrechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit. Die Gerichte haben insoweit außer Acht gelassen, dass die Äußerung, jemand sei „korrupt”, abhängig vom Gesamtkontext durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt sein und deshalb in vollem Umfang am Schutz des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG teilnehmen kann. Sowohl das Amtsgericht als auch das Landgericht benennen weder den Maßstab eines unvoreingenommenen Durchschnittspublikums zur Ermittlung des Aussagegehalts, noch wird überhaupt dargelegt, welchen genauen Aussagegehalt der Protestaktion zu entnehmen ist und inwieweit hieraus ein ehrenrühriger Korruptionsvorwurf hervorgeht. Das Landgericht beschränkt sich vielmehr auf die nicht näher begründete Feststellung, die „auf die oben bezeichnete Weise behaupteten Korruptionsvorwürfe“ seien geeignet gewesen, den Geschädigten herabzuwürdigen beziehungsweise die Angeklagten hätten behauptet, „dass der Geschädigte korrupt sei“. Weitergehende Ausführungen enthält auch die amtsgerichtliche Entscheidung nicht. Insbesondere erfolgt jeweils keinerlei Einordnung in den Kontext.

Wie man sieht, ist der 188 StGB ein Rätsel. Der Grundsatz, dass Strafgesetze so genau definiert sein müssen, dass man als potentieller Täter vorher weiß, was erlaubt und was verboten ist, greift hier nicht wirklich. Ich bekomme häufig Anfragen, in denen jemand wissen will, ob er dieses oder jendes ungestraft schreiben kann. Eine 100% sichere Antwort kann ich selten geben.

Verfassungsrechtliche Bewertung

1. Spannungsverhältnis zu Art. 5 Abs. 1 GG
Die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG zählt zu den tragenden Säulen der demokratischen Grundordnung. Die politische Rede ist besonders geschützt, insbesondere wenn sie sich auf staatliches Handeln oder Personen des öffentlichen Lebens bezieht. Eine Einschränkung dieser Freiheit muss daher strengen Anforderungen genügen. Die Strafbarkeit von Meinungsäußerungen ist stets an der Grenze zu Schmähkritik oder Tatsachenbehauptung zu messen. § 188 kann hier höchst problematisch sein, wenn er den Maßstab für legitime Kritik zu eng zieht.

2. Verhältnismäßigkeit und Übermaßverbot
Insbesondere im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist fraglich, ob die mit § 188 einhergehende Strafschärfung in jedem Fall gerechtfertigt ist. Die Erhöhung des Strafrahmens sowie die potentiell abschreckende Wirkung auf politische Gegner und kritische Öffentlichkeit werfen Bedenken hinsichtlich des Übermaßverbots auf. Der Eingriff erscheint dann unverhältnismäßig, wenn er nicht mehr ausschließlich dem legitimen Ziel des Schutzes demokratischer Prozesse, sondern dem Schutz des Ansehens einzelner Personen dient.

3. Völkerrechtliche Implikationen (EMRK)
Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) genießen Amtsträger zwar einen gewissen Ehrenschutz, müssen sich jedoch auch schärfere Kritik gefallen lassen als Privatpersonen. In Lingens v. Austria (1986) stellte der EGMR klar, dass die Grenzen zulässiger Kritik gerade gegenüber Politikern weiter gezogen werden müssen, da sie sich freiwillig dem öffentlichen Diskurs aussetzen. Da greift das Motto, wer die Hitze nicht verträgt, sollte aus der Küche bleiben.

Kritik

§ 188 StGB bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen notwendigem Schutz demokratischer Repräsentanten und der Gefahr der unangemessenen Privilegierung einer politischen Klasse. Die recht unklare Begriffsbestimmung und die strafverschärfende Wirkung bergen das Risiko eines „chilling effect“ auf die politische Meinungsäußerung. Die normativen Grenzen zwischen legitimer Kritik, polemischer Zuspitzung und strafbarer Diffamierung sind fließend, was zu unerwünschter Rechtsunsicherheit führt.

Zudem sind die Anforderungen an die „Beeinflussung der öffentlichen Meinungsbildung“ derart niedrigschwellig formuliert, dass selbst kleinere Reichweiten (etwa bei Social-Media-Posts mit ein paar wenigen Kontakten) bereits zur Anwendung der Norm führen können. Dies steht in einem bedenklichen Verhältnis zu Art. 5 GG und könnte langfristig das Vertrauen in eine offene Debattenkultur untergraben.

Mein Bier dazu

§ 188 StGB soll auf der einen Seite eine Schutzfunktion erfüllen, deren demokratische Legitimität unbestritten ist: Die öffentliche Debatte darf nicht durch gezielte Falschbehauptungen untergraben werden. Dennoch bedarf diese komische Norm einer sehr restriktiven und differenzierten Anwendung, wenn sie nicht dazu führen soll, dass sich die BürgerInnen in der legitimen Ausübung ihrer Grundrechte gehemmt fühlen.

Die Justiz ist gefordert, die Voraussetzungen der Strafbarkeit mit Augenmaß auszulegen und insbesondere das Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit stets mitzubedenken. Das Bundesverfassungsgericht wird vermutlich noch reichlich Gelegenheit bekommen, die Grenzen  dieser gesetzgeberischen Missgeburt aufzuzeigen. Es wäre allerdings fatal, wenn künftig ständig Pillepallesachen, die die Amts- und Landgerichte verbockt haben, vom Bundesverfassungsgericht korrigiert werden müssten. Das hat Wichtigeres zu tun.

Eine gesetzgeberische Präzisierung der Tatbestandsmerkmale sowie eine stärkere Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR wären dringend erforderlich und könnten dazu beitragen, den Anwendungsbereich von § 188 StGB rechtsstaatlich zu schärfen.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

More Posts - Website