Highly Processed News

Weshalb werden wir süchtig nach Social Media und verkürzten Nachrichtenhäppchen? Chris Kaiser erklärt es anhand unseres konditionierten Griffs nach der Tüte mit den übersalzenen Tortillachips und warnt davor, es mit beiden nicht zu übertreiben. Ein Gastbeitrag.


Image by Werner Weisser from Pixabay

Ich las letztens einen Artikel über die Gefahren von industriell hochverarbeiteten Lebensmitteln. Es gibt mehrere Stufen, in die diese Verarbeitung kategorisiert wird, wobei die erste Stufe sozusagen Rohkost ist, während Mehl schon Stufe 2 einnimmt. Ein geeignetes Beispiel sind Tortilla-Chips, die nicht direkt aus Kartoffeln gemacht werden, sondern dazwischen gebraten, getrocknet, zu Mehl verarbeitet und dann mit einem Haufen von künstlichen Ergänzungen zu Chips gepresst werden.

Eine Studie zeigte, dass Menschen, die sich vorwiegend von hochverarbeiteten Produkten wie diesen Chips und dazu Softdrinks ernährten, bis zu 500 kcal mehr am Tag zu sich nahmen als die Kontrollgruppe, die vorwiegend Nahrung der Stufe 1 und 2 zu sich nahmen. Dabei wurde der Zugang zu Zucker und Fetten nicht eingeschränkt, die Personen aus beiden Gruppen konnten die Menge, die sie aßen, selbst bestimmen.

Hungergefühl

Das lässt folgenden These zu: Hochprozessierte Nahrung – vor allem jene, die noch künstliche Ergänzungen enthält – attackiert die physiologischen Mechanismen des Menschen, die ihn dazu bringen, sich die für sein Funktionieren notwendige Energie zu beschaffen. Der Mensch wird schlicht in seinem Hungergefühl überreizt, über seine physiologische Notwendigkeit hinaus.

Ein Vergleich: Man kann vielleicht drei-vier Äpfel als Äpfel hintereinander essen, aber als Apfelsaft kann man ohne weiteres einen ganzen Liter konsumieren, der aus ca. 10 Äpfeln hergestellt wurde. In Softdrinks kommt dann noch Zucker extra hinzu, der durch Zusatzstoffe kaschiert wird.

Coolness und Rascheln

Das Ganze wird begleitet durch psychologische Tricks, wie die Coolness in der Werbung, das Rascheln der Chipstüte, die einen konditioniert, darauf zu reagieren, das Salz in den Chips, das uns noch mehr Softdrinks trinken lässt, deren Kohlensäure unsere Zunge betäubt, sodass wir nur starkes Salzen schmecken. Es ist eine Optimierung hin zum unkontrollierten Konsum weit über unsere Bedürfnisse hinaus. Das ist eine Folge des Kapitalismus.

Freie Marktwirtschaft und Kapitalismus funktionieren!

Der Kapitalismus, wenn man ihn nicht als normativen Begriff einer Ideologie (oder als Kampfbegriff der Gegenseite) begreift, beschreibt analytisch den ökonomischen Mechanismus, bei dem eine freie Marktwirtschaft die Gewinnmaximierung, die Häufung von finanzieller Macht bei einzelnen Clustern, das ständige Wachstum als Motor hat.

Die freie Marktwirtschaft besitzt gegenüber der Planwirtschaft einen entscheidendem Vorteil: Jede Lücke im Bedürfnis der einzelnen Menschen einer freimarktwirtschaftlichen Gesellschaft kann wegen dieser Freiheit gefüllt und wiederum zur Einkommensquelle eines anderen werden. Die Planwirtschaft ist hingegen viel zu prätentiös. Sie braucht ideale Menschen, die nicht nur allwissend genau vorausplanen können, sondern auch hochdisziplinierte Subjekte, die die marktwirtschaftlichen Mechanismen aus Eigennutz nicht klandestin einführen.

Fehlerhafte Menschen

Diese Anforderung ist schlicht unerfüllbar. Der Kapitalismus hingegen arbeitet genau mit dem fehlerhaften Menschen, sind doch die Gewinnmaximierung und Kapitalanhäufung sozusagen die Steroide, mit der eine Marktwirtschaft richtig in Schwung kommen kann – denn die Bedürfnisse werden noch schneller gefunden und erfüllt. Zusätzlich: Bedürfnisse werden aufgeheizt und vergrößert, sogar erfunden. Denn das Verlangen der Menschen, ihre Bedürfnisse zu stillen, füllt die Kassen der Unternehmen.

Wenn alle 500 kcal mehr am Tag wollen, als sie eigentlich brauchen, sind das somit 10%-20% mehr verkaufte Nahrung. Natürlich ist der Mechanismus viel komplexer und die ideale freie Marktwirtschaft gibt es nicht, die ganz frei von Kapitalismus ist. Abgesehen davon, dass wir ohne diese Kapitalanhäufung wohl kaum größere technologische Errungenschaften erzeugen könnten.

Wir bewegten uns mit dem zwanzigsten Jahrhundert von der Agrar- und Produktionswirtschaft immer weiter hin zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft. Übrigens alles dieses im Zuge des Kapitalismus. Ohne Kapitalismus hätten wir keine Schnellzüge, keine Flughäfen, keine Computer, kein Netflix. Stalin hat zwar die Industrialisierung der Sowjetunion vorangetrieben, aber er wäre nie auf diese Idee gekommen ohne das Vorbild der schon industrialisierten und kapitalistischen Gesellschaften in Amerika und Europa.

Was die Industrialisierung zur vorletzten Jahrhundertwende schaffte, haben wir in dem neu erschlossenen Sektor der vernetzten Informationsgesellschaft in den letzten ca. 15 Jahren nachvollzogen. Die sozialen Medien, in denen wir uns heute so selbstverständlich bewegen, die hatten klein und frei angefangen, erfüllten ein Bedürfnis nach globaler Verbindung und Kommunikation, nach dem Teilen von Nachrichten und Meinungen. Die Weiterentwicklung dieser Produkte ist nicht gratis zu haben, es kam Werbung dazu, denn die Nutzer wären keine zahlenden Kunden geworden. Der Mechanismus des Kapitalismus nahm Fahrt auf.

Unkontrollierter Hunger auf Informations-Chips

Inzwischen sind wir bei hochprozessierten „Nachrichten“, die unseren Hunger auf Information betrügen. Es gibt Clickbaiting, das uns dazu bringt, auf bestimmte Köder in den Eröffnungspostings zu reagieren, wir glauben, es gäbe im Hauptartikel etwas, das uns angeht oder interessiert.

Die absichtlich vagen und/oder sensationalisierenden Stichworte im Teaser wecken den Hunger, darauf zu klicken. Immer mehr solche Artikel stillen diesen Hunger aber nicht, sondern locken uns nur dahin, um die Währung des sozialen Mediums abzuzocken: Klicks (und diese gilt es, in die andere, „echte“ Währung – Geld – umzumünzen). Je aufregender und furchtbarer, je schriller und erregender diese geteilten „Informations“-Stücke sind, desto mehr werden sie geklickt und weiterverbreitet, um wiederum geklickt zu werden. Schneelawinenartig.

In diesem Konkurrenzdruck um Aufmerksamkeit wird inzwischen professionell auf dieselbe Art optimiert gearbeitet, wie mit der Chipstüte und den Softdrinks. Bestimmte Stichworte ziehen mehr, es gibt Emotionen, die den Lawinen-Effekt stärker nach sich ziehen als andere.

Sehen kann man das auch bei Nachrichten, die sich früher in der kalten Nüchternheit der Tagesschau oder der Schwarz-weiß-Zeitungen nur bei direkter Betroffenheit oder besonders leidenschaftlichen Politik-Engagierten Bahn brachen: Tagespolitik. Heute werfen Zitatkacheln mit leichthin dahergesagten Sprüchen eines Politikers nicht gemeinte Schlaglichter und auf einmal stellen Lieschen Müller und Otto Normalnutzer fest, dass das Muster der BILD-Schlagzeile mit Halbwahrheiten und Kontext-Entriss fürs Empöriat auch für sie funktioniert.

Apokalypse-Memes

Einige besonders Talentierte werden es häufiger in die Lawine schaffen als andere, aber ebenso werden durch die schiere Erzeugungsmasse immer ein paar Apokalypse-Memes erfolgreich sein.

Dazu kommen vermutliche Agit-Prop-Krieger aus Trollfabriken, die erlahmende Energie an der Empörungsfront neu zu zünden vermögen. Das Interesse liegt in der Destabilisierung durch Überhitzung und Polarisierung der Gesellschaft. Ebenso ist es aber auch wahrscheinlich, dass die Social-Media-Betreiber selbst aus ureigenem – unternehmerischen – Interesse die Maschine am Laufen halten. Empörungsenergie ist die erfolgreichste Energie.

Und wir Nutzer überreizen nicht nur unseren Magen mit 500 kcal Überschuss, sondern auch unsere Aufmerksamkeit und unser Denken mit diesem Perpetuum Mobile mit den, uns um die echten Gefühle betrügenden, Mechanismen – dem Algorithmus der sozialen Medien.

Chris Kaiser

Chris Kaisers digitales Leben begann 1994, da entdeckte sie im CIP-Pool der Uni Erlangen das Internet und ein Jahr später das Chatten im damaligen IRC, was ihr ein aufregendes Leben 'in and out' des Digitalen bescherte. Nachdem sie bedingt durch Studium, Kinder und andere analoge Kleinigkeiten das alles erstmal auf Eis legte, tauchte sie erst 2011 wieder auf, diesmal auf Facebook, vor allem, weil sie ihren eigenen ersten Roman „Die Jagd“ veröffentlichen wollte. Der Roman ist noch immer auf „bald erscheint er“. Ihre Spezialität ist die „Ästhetik des Widersprüchlichen“, um mit „ja, aber“ allzu feste Meinungen etwas ins Wanken geraten zu lassen.

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