Unterstützung der Ukraine: Solidarität oder Interesse?

Wann sollten Außenstehende in einem Krieg Partei ergreifen, etwa, indem sie eine Seite mit Waffen und Munition ausrüsten oder mit Informationen versorgen, die für die Kriegsführung wichtig sind, oder indem sie der anderen Seite durch den Abbruch von politischen und wirtschaftlichen Beziehungen schaden?


Diese Frage stellt sich zurzeit konkret am Fall von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, sie müsste diskutiert werden, aber sie wird merkwürdig ausgeklammert, fast alle, ob sie eine Unterstützung befürworten oder diese ablehnen, halten die Frage selbst für klar entschieden. Dass sie wohl von den meisten noch nicht einmal erwogen wurde, sieht man an der Unüberbrückbarkeit der Ansichten – man vermeidet gerade die Diskussion über die Gründe des klaren Urteils, das man zu dieser Frage, woher auch immer, hat.

Dabei ist die Frage, ob die europäischen Staaten, die USA und andere Länder sich nicht nur symbolisch auf die Seite der Ukraine stellen sollen, sondern durch Wirtschaftssanktionen, Waffenlieferungen und militärische Unterstützung aktive Unterstützung leisten sollten, gar nicht so klar zu beantworten. Auf Basis welcher Handlungsmaxime ließe sich die Unterstützung der Ukraine – und in welchem Maße – rechtfertigen?

Russland ist der Aggressor – was folgt daraus?

Da ist zunächst die einfache Tatsache, dass Russland die Ukraine angegriffen hat, dass Russland Städte und Infrastrukturen des Nachbarlandes zerstört, dass dabei Menschen sterben, die zuvor friedlich in ihrem Land gelebt haben, dass Menschen ihre Heimat verlieren und ins Unglück gestürzt werden. Das ist sicherlich Begründung genug dafür, mit allen politischen Mitteln gegen den Aggressor vorzugehen. Allerdings lässt sich ein Aggressor nirgends auf der Welt von politischen Verurteilungen beeindrucken. Da der Aggressor für seinen Angriff Ressourcen benötigt, die er letztlich aus seiner Wirtschaft und damit wenigstens zum Teil aus den internationalen Wirtschaftsbeziehungen gewinnt, ist es auch naheliegend, zu versuchen, die Möglichkeiten des Angreifers zu reduzieren, indem man die Wirtschaftsbeziehungen reduziert oder einstellt. Man möchte den Staat nicht stärken, dessen Armee aus dieser Stärke heraus in ein anderes Land einfällt und dort Not, Zerstörung und Tod bringt.

Dies ist umso mehr geboten, wenn man sich, wie Deutschland, über Jahrzehnte in eine wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland gebracht hat, die den heutigen Aggressor gestärkt hat und mit jeder Geschäftstransaktion weiter stärkt.

Darüber gibt es gegenwärtig in Deutschland auch kaum Dissens. Die Maxime dieses Handelns lautet: Unterstütze keine Partei, die den Grundsatz des friedlichen Nebeneinanders verletzt und versuche, Abhängigkeiten zu beenden, die einen Aggressor stärken – auch wenn das für dich Nachteile und Opfer bringt. Das ist sowohl moralisch geboten als auch im Interesse einer langfristigen stabilen Weltordnung. Jeder potentielle Aggressor sollte wissen, dass es für ihn ein wirtschaftliches Risiko ist, andere Länder zu überfallen.

Waffen für die Ukraine – welche politische Maxime gilt?

Wenn man aber von dem Versuch der Schwächung des Aggressors zur aktiven Unterstützung des Landes übergeht, das angegriffen wurde, wird es schwieriger. Hier stellt sich die Frage, wen man da genau unterstützt und welches Vertrauen man zu ihm hat. Es ist ja nicht das ukrainische Volk, welches von uns mit Waffen ausgestattet werden soll, sondern die ukrainische Armee und der ukrainische Staat.

Die Aufrüstung einer Kriegspartei kann moralisch nur gerechtfertigt werden, wenn man sich sicher ist, dass diese Partei wiederum den gleichen moralischen Prinzipien der Friedlichkeit verpflichtet ist wie die, die man selbst für sich reklamiert. Nun ist es schon schwierig, allgemeine Prinzipien der Friedlichkeit etwa für die Länder der europäischen Union vereint sind, sicher zu bestimmen, noch schwieriger wird es, wenn man den Kreis der Länder, die sich womöglich in der Ukraine engagieren, insgesamt ansieht.

Nehmen wir als Konsens wenigstens für Deutschland an, dass wir militärische Mittel selbst nur in einem Umfang einsetzen würden, der gerade dazu ausreicht, den Zustand vor der Aggression wieder herzustellen, und dass wir darüber hinaus keine Kriegshandlungen aus Rache oder Vergeltung zulassen würden, sondern allenfalls den Gegner nachhaltig von erneuten Angriffen abhalten würden, und dass wir zudem immer die Angemessenheit der kriegerischen Handlungen auch am Leid der betroffenen Menschen, der eigenen Bevölkerung und der des Angreifers, beurteilen würden.

Dann stellt sich die Frage, welche Sicherheiten und Kenntnisse wir über die Armee und die Regierung der Ukraine haben, dass diese ebenso denken. Woher wissen wir, dass sie die Waffen, die wir ihnen überlassen, nur in dem Umfang einsetzen werden, die wir selbst für akzeptabel halten? Woher wissen wir, dass das, was die ukrainische Armee mit unseren Panzern und Geschützen tut, das ist, was die ukrainische Bevölkerung will, und dass das auch so bleiben wird?

Ich muss gestehen, dass ich darüber nichts weiß. Alles, was ich habe, ist ein verschwommenes Gefühl, das mir sagt, dass es irgendwie eine größere Nähe der Ukraine zu demokratischen Prinzipien gibt, als ich das für Russland annehme. Und auf jeden Fall bin ich sicher, dass ich dem ukrainischen Volk die Möglichkeit zur Selbstbestimmung wünsche. Was ich nicht weiß, ist, wie viel den Menschen in der Ukraine diese Selbstbestimmung wert ist, ob sie in der Ukraine vor dem Krieg eine Selbstbestimmtheit erlebt haben, die sie verteidigen wollen, ob sie bereit sind und sich wünschen, dass ihr Land mit allen Mitteln militärisch verteidigt wird, damit sie eine demokratische, weltoffene, womöglich westlich orientierte Ukraine gestalten können. Ich weiß nicht, wie die Ukrainerin im Donbass und der Ukrainer in Lwiw darüber denken, ich weiß schon gar nicht, wie ein ukrainischer General oder der Präsident Selenskij darüber denkt.

Deckmantel der Moral

Die moralische Maxime des bisherigen Handelns in der internationalen Politik schien darin zu bestehen, bei solchen Unsicherheiten eher nicht eine Seite militärisch zu unterstützen, auch wenn sie angegriffen worden ist – jedenfalls nicht mit Waffen, die sie ihrerseits zum Angriff nutzen kann. Wenn nun so selbstverständlich in der Ukraine eine Ausnahme gemacht werden soll, muss man sich fragen, ob hier die Moral, verbunden mit einer gefühlten Verwandtschaft, nicht instrumentalisiert wird, damit recht simple politische Interessen verborgen werden, die die eigentlichen Gründe für die militärische Unterstützung der Ukraine sind. Diese Verschleierung ist womöglich nicht in erster Linie oder wenigstens nicht ausschließlich die Absicht der politischen Akteure in der Ukraine und in Europa, es ist vielleicht auch eine Art Selbstbetrug, den jeder von uns begeht, um der schlichten Tatsache nicht ins Auge sehen zu müssen, dass es nicht das Mitleid mit den Menschen in der Ukraine ist, dass die Rufe nach Waffenlieferungen so laut macht, sondern die Angst vor die Konsequenzen, die es für uns hätte, wenn Russland die Ukraine unter seine Vorherrschaft bringt.

Wenn irgendwo in der Welt ein Land ein anderes überfällt, dann ist uns das Berichte in den Nachrichten und ein paar Gespräche voller Mitgefühl im Freundeskreis wert. Wenn es tatsächlich moralische Gründe hat, dass wir im Falle der Ukraine viel energischer Partei ergreifen wollen, dann müssen wir uns fragen, wie universell unsere Moral überhaupt ist, wie schwach unser Gewissen ist, wenn es trotz medialer Nähe nicht bis zu Menschen auf anderen Kontinenten reicht.

Womöglich müssen wir auch einfach zugeben, dass es mit Moral nicht viel zu tun hat, dass wir die Ukraine mit schweren Waffen unterstützen wollen. Es ist die gut begründete Vermutung, dass Putin, wenn er in der Ukraine erfolgreich wäre, auch versuchen würde, die baltischen Länder und andere Staaten der ehemaligen Sowjetunion wieder unter seine Kontrolle zu bringen, und dass uns das früher oder später in einen direkten Krieg mit Russland ziehen würde. Deshalb statten wir jetzt die ukrainische Armee mit Waffen aus, mit denen sie die russische schwächen und zurückschlagen soll, damit Putin es nicht wagt, andere europäische Staaten anzugreifen. Es geht uns um unsere eigene Sicherheit, und für die sind wir bereit, Zerstörung, Leid und Todesopfer unter den Ukrainern und den Russen in Kauf zu nehmen. Es geht auch um die Frage, wie viele Flüchtlinge wir aufnehmen können und welche Kraft wir in das Flüchtlingsmanagement stecken wollen. So einfach ist das. Wir können den Deckmantel der Moral darüber breiten – aber das ändert nichts daran, dass nur so erklärlich ist, was den Ukraine-Krieg in dieser Frage von vielen anderen Kriegen auf der Erde unterscheidet.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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