Putins Tod …

… oder: Wird alles besser, sobald der Chef wechselt? Der friedenssehnsüchtige Westen sieht in Putin den 1 Bösen. Wenn der weg wäre, würde alles schnell wieder gut. Ist das tatsächlich so? Eine Gedankenspiel-Kolumne von Henning Hirsch

Bild: Clker-Free-Vector-Images in Pixabay

Oft liest man in diesen Tagen, Putin unterdrückt sein Volk, nimmt die Russen in Geiselhaft. Einige versteigen sich gar zu Stauffenberg-Fantasien (zur Gedächtnisauffrischung: diese Sache ging gründlich schief). Was alle diese Beiträge eint, ist die Vorstellung, dass das Böse sich in 1 Mann konzentriert. Wäre der über Nacht nicht mehr da, würde das Gute wieder Einzug halten in Russland … klingt schön; ich bitte jedoch bereits an dieser frühen Stelle des Textes um Pardon, denn ich habe da so meine Zweifel.

Dass Putin ein Schurke ist – darüber brauchen wir nicht groß zu diskutieren. Er hat innen- u außenpolitisch mittlerweile derart viel Dreck am Stecken, dass es – ohne Wartezeit – direkt für einen Platz im 5-ten Untergeschoss der Hölle reicht, wo die besonders bösen Buben aufbewahrt und hin u wieder von Lord Satan persönlich gegrillt werden. Die Liga von Hitler & Stalin hat er zwar noch nicht erreicht, aber er arbeitet dran.

Abends im Kreml: Koks & Nutten

Machen wir ein kleines Gedankenspiel: Putin verbringt im Kreis seiner engsten Getreuen einen feuchtfröhlichen Wodkaabend. Zwischendurch werden Kaviar & Koks serviert, ab 22 Uhr gesellen sich ein paar Edelnutten dazu, eine blutjunge Eiskunstläuferin steigt auf den 20m langen Tisch und legt einen atemberaubenden Strip hin, die Männer stecken ihr 100-Dollarscheine zu (mit Rubel kriegt man leider keine Stripperin mehr auf den Tisch), um Mitternacht werden patriotische Lieder angestimmt, die lautstark in der Nationalhymne gipfeln. Gegen 2 Uhr verlässt Putin bestens gelaunt und mittelschwer angeheitert die illustre Runde, um sich noch ein paar Stunden aufs Ohr zu legen, bevor er morgen Früh wieder den zu allem entschlossenen Oberbefehlshaber der in der Ukraine tapfer kämpfenden Truppen gibt. Und es stehen wichtige Telefonate mit seinen Kumpels Bolsonaro, Trump u Erdogan auf dem Programm … jetzt können wir Wladimir Wladimirowitsch Putin entweder eine der vielen Treppen im Kreml runterstürzen (Genickbruch o irgendwas mit Schädelbasis) o ihn an einem drogeninduzierten Schlaganfall in seinem Bett sterben lassen … Tyrann tot – alles wird wieder gut?

Die schwierige Frage der Nachfolgeregelung

Die Getreuen scharen sich um den Leichnam. Es werden ein paar Krokodilstränen vergossen: „Er wird uns und dem Volk fehlen. Was für ein furchtbarer Verlust für Russland.“ Im Anschluss wird überlegt, welcher der beste Zeitpunkt für die Publikmachung der Todesnachricht ist, ob man es überhaupt publik machen soll, ob jemand jemanden kennt, der als Double einspringen könnte. Man beschließt, die Sache 48 Stunden lang geheim zu halten, um sich neu zu sortieren und lässt den Arzt, der den Tod diagnostiziert hat, vorsichtshalber inhaftieren, damit der nichts vorschnell ausplaudert. Dann gehen alle nach Hause, schlafen nochmal ne Runde – denn der gestrige Abend mit Wodka, Koks & Edelnutten zehrt noch an den Kräften der (zumeist) älteren Herren – und verabreden sich für den späten Nachmittag, um die Nachfolge zu regeln. Wobei allen klar ist – und sie betonen es deshalb mehrmals, während sie um den Leichnam herumstehen -, dass man einen großen Anführer wie Putin eigentlich überhaupt nicht ersetzen kann.

Von der zweiten Amtshandlung hängt alles ab

Wir überspringen ein paar Tage (sonst wird der Text für ne Kolumne zu lang). Nach 72 Stunden, die von intensiven Diskussionen, Grüppchenbildung u VIELEN Versprechen geprägt sind, einigen sich die Paladine auf XY (hier können Sie nun entweder die Namen Lawrow, Mischustin, Kolokolzew, Medwedew, Bortnikow o Surkow, o wen auch immer Sie für geeignet halten, einsetzen) als Nachfolger. Dessen erste Amtshandlung besteht darin, eine GIGANTISCHE Beerdingungsfeierlichkeit für Wladimir Wladimirowitsch Putin zu organisieren, zu der Delegationen aus dem gesamten Land eingeladen sind und den Auftrag für ein überlebensgroßes Reiterdenkmal – zu klären ist noch, ob Putin bekleidet o mit nacktem Oberkörper im Sattel gezeigt wird – an einen patriotischen Künstler zu vergeben … der Tyrann ist beerdigt, das Volk trauert, ein Nachfolger ist nach zähem internen Ringen gefunden, und der wird nun als zweite wichtige Amtshandlung was tun?

(A) Den Ukraine-Krieg sofort beenden?
(B) ihn mit gebremstem Schaum erst mal weiterlaufen lassen?
(C) sich mit den wichtigsten Feudalherren (pardon: Oligarchen) des Landes treffen, um in Erfahrung zu bringen, was man als Kremlchef so alles noch nebenbei verdienen kann. Jedes Jahr 4 Wochen Gratis-Sommerferien in Putins Residenz auf der Krim wären schon mal ein prima Start ins neue Amt.

Der friedenssehnsüchtige Westen geht natürlich felsenfest von (A) aus. Gemäß der Gedankenkette: Tyrann tot, DAS Böse besiegt, Volk aus Geiselhaft befreit, Russland wird jetzt Anträge auf EU- u NATO-Mitgliedschaft stellen u.v.a. Atomraketen zu Bausparverträgen. (C) ist egal, weil’s ne interne russische Angelegenheit ist, wer wann und wie lange Urlaub in Putins Sommerresidenz macht. EWIGER Friede wird einziehen in Europa und wir können uns endlich wieder den wichtigen Dingen widmen: Windkrafträder in jeden Vorgarten u korrektes Gendern in Facebook. Okay, da schwelt noch hinten links im Balkan der Konflikt zwischen Serbien u Bosnien. Aber der ist Kleinkram und kann auf Ministerialdirigenten-Ebene erledigt werden.

Friedenssehnsucht kollidiert mit Realität

Ich (alter weißer cis-Mann) tippe allerdings eher auf B. (C. ist mir ebenfalls egal). Vielleicht würde der Nachfolger, um nicht von Beginn an in den Geruch eines Weicheis zu kommen, der sich vom Westen auf der Nase rumtanzen lässt, den Krieg mit der Ukraine sogar noch brutaler führen. Die Rückholung ins Reich als zweite (zur Erinnerung: die erste war die Organisation der 7-tägigen Beerdigungsfeier) große Tat von XY (hier bitte den passenden Namen einfügen).

DENN (das ist ein wichtiges Denn) die Idee der Renaissance von Großrussland war (in unserer kleinen Geschichte ist er seit ein paar Tagen tot; deshalb Vergangenheitsform) ja nicht nur auf den 1 Bösen beschränkt. Seine gesamte Entourage, aus der selbstverständlich auch XY entstammt, sieht es ebenfalls so. Weite Teile des Volkes sehen es so. Der 1 Böse fällt ja nicht plötzlich vom Himmel (bzw. entsteigt eines Nachts einer schwefligen Erdspalte), sondern hat ne längere Vorgeschichte. Und diese Vorgeschichte lautet immer: eine einflussreiche & wohlhabende Clique unterstützt ihn auf seinem Weg an die Macht – hält ihn dort und wird im Gegenzug mit Firmenübereignungen, Ländereien, Steuergeschenken, Ausschaltung von Wettbewerbern und Fußballclubs belohnt – und mit seiner Demagogie trifft er einen empfindlichen Nerv des Volkes. Möchte nicht wissen, wie viele Normalo-Russen (k.A., ob es da überhaupt noch Bürger im westlichen Sinn des Begriffs gibt) die Idee von einem GROßEN Russland ganz hervorragend finden. Es werden zwar nicht alle, aber doch VIELE sein. Bei den in der jüngeren Vergangenheit praktizierten Auseinandersetzungen (Tschetschenien, Georgien, Krim) schoßen Putins Zustimmungswerte während und im Anschluss steil nach oben (wobei Umfragen in einer gelenkten Demokratie natürlich mit einer gewissen Portion Vorsicht zu betrachten sind). Festzuhalten bleibt jedoch an dieser Stelle: In einer durchgängig friedensbewegten Nation kann 1 Böser nicht an die Macht gelangen und sich dort über 20 Jahre lang halten.

Lange Geschichte (bis hierhin sind schon 75% der Leser ausgestiegen, meldet mir eben Facebook), kurzer Sinn: Es ist naiv, daran zu glauben, dass ein bloßes Austauschen der Personen an der grundlegenden Problematik (und das ist der russische Super-Nationalismus) irgendwas ändert. Ein Nachfolger würde es eventuell ein bisschen anders machen als der aktuelle 1 Böse; aber auch er wird an dem Narrativ des von EU & NATO bedrohten Russlands festhalten. Weil’s halt ein schönes Narrativ ist, um die eigenen Expansionspläne (die im Westen vermutlich bis zur Oder reichen) zu verschleiern.

Und jetzt können wir alle wieder wahlweise Teelichter ins Fenster stellen, unsere Profilbilder mit Ukraine-Flaggen verzieren und den Sonntagsreden unserer Politiker lauschen.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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