Irreführende Parallelen – lassen sich Demokratien mit totalitären Diktaturen vergleichen?

Der Charakter der totalitären Diktaturen, die in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden waren, wird seit Jahrzehnten von unzähligen Autoren erforscht. Minuziös werden die Unterschiede zwischen den totalitären Tyranneien und anderen Herrschaftssystemen herausgearbeitet. Umso bedenklicher wird es, wenn man die Ergebnisse dieser Forschung missachtet, und zwar durch eine partielle Gleichsetzung der totalitären Regime mit Systemen ganz anderer Art. Besonders verbreitet ist der Vergleich zwischen der US-amerikanischen Politik mit derjenigen des NS-Regimes.


Kurz vor der amerikanischen Präsidentschaftswahl vom 3. November 2020 kommentierte die amerikanische Philologin und Professorin für Gender Studies Karen Tongson eine BBC-Rede Thomas Manns vom Juli 1942, in welcher der Exilschriftsteller das baldige Ende des „scheusäligen“ NS-Systems voraussagte:

Aus wird es sein mit seiner Schund- und Schand-Philosophie und mit den Schund- und Schandtaten, die daraus erflossen.

Frau Tongson nutzte diese Ansprache Thomas Manns, um auch über den Zustand der amerikanischen Demokratie am Vorabend der Präsidentschaftswahl zu reflektieren und sagte, dass sie „etwas weniger optimistisch“ als Thomas Mann sei. Dann fügte sie hinzu: „Ich muss nicht all die vielen ´Schund- und Schandtaten´ des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten aufzählen, das würde zu lange dauern“. Das Fazit von Karen Tongson lautete: „Die Demokratie in den USA steht am Rande des Abgrunds“ („Süddeutsche Zeitung“ vom 28. Oktober 2020).

Auch andere Beobachter der US-Szene waren äußert besorgt darüber, ob das amerikanische System von Checks and Balances das permanente Rütteln Donald Trumps an seinen Grundpfeilern überdauern könne.  Dies insbesondere nach der Weigerung Trumps das Ergebnis der Präsidentschaftswahl vom 3. November 2020 zu akzeptieren. Letztendlich zeigte aber die Bestätigung des Wahlsieges von Joe Biden durch das Electoral College“ am 14. Dezember, dass es nicht so leicht ist, wie von vielen Beobachtern befürchtet, das organisch gewachsene politische Gefüge der amerikanischen Demokratie aus den Angeln zu heben. Erneut erwiesen sich also die gelegentlich geäußerten Vergleiche zwischen den Entwicklungen in den heutigen USA und denjenigen in Deutschland der 1930er Jahre als zu alarmistisch, wobei diese Vergleiche sich nicht nur auf die Ära Trump bezogen, sondern auch auf die Amtszeit seines Vorvorgängers George W. Bush. Typisch hierfür waren die Thesen der amerikanischen Schriftstellerin Naomi Wolf, die sie in ihrem Interview für die „Süddeutsche Zeitung“ am 9. 11. 2007 äußerte. Da sich die Tendenz zur Verwischung der grundlegenden qualitativen Unterschiede zwischen den totalitären Diktaturen und den demokratischen Staaten in der Argumentation von Frau Wolf besonders drastisch widerspiegelt, möchte ich auf ihre Thesen genauer eingehen.

Wiederholen sich die 1930 Jahre?

In ihrem SZ-Interview vergleicht Naomi Wolf unentwegt die amerikanischen Zustände in der Ära von Bush junior mit der Lage Deutschlands in den 1930er Jahren.  Dabei geht es bei diesem Vergleich nicht um die krisengeschüttelte Weimarer Demokratie der Jahre 1930–1933, sondern um die 1933 errichtete Hitler-Diktatur. Die USA in der Ära von George W. Bush werden also mit einem Staat verglichen, in dem sich das Parlament infolge des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 in eine Marionette der Machthaber verwandelte, in dem die politischen Parteien bis auf die herrschende aufgelöst, die freien Gewerkschaften zerstört und die freien Medien gleichgeschaltet wurden. Von diesem Zeitpunkt an durfte der Kurs der Regierung nur durch Anspielungen, nur zwischen den Zeilen kritisiert werden, wie dies z.B. die „Frankfurter Zeitung“ tat.

Die 1930er Jahre im NS-Staat – das sind auch die Konzentrationslager, der sogenannte „Arierparagraph“, die Nürnberger Rassengesetze, die Novemberpogrome von 1938 und schließlich Hitlers Ermächtigungsschreiben vom Oktober 1939 zum Beginn der sogenannten „Euthanasieaktion“, deren Ziel die Ermordung von psychisch Kranken war.

Außerhalb Deutschlands wird das NS-Regime in den ausgehenden 1930er Jahren mit den „Einsatzgruppen“ an der Ostfront assoziiert, die „bereits Mitte September 1939 ihren Vernichtungskampf mit der Liquidation der geistigen und geistlichen Oberschicht Polens“ begonnen haben (so der deutsche Historiker Friedrich Battenberg).

Was veranlasst Frau Wolf zu einem so gewagten Vergleich eines demokratischen Gemeinwesens mit einer totalitären Diktatur? Sie sagt:

(Diese) Regierung (hat) sieben Jahre lang den Gesellschaftsvertrag unserer Demokratie mit Füßen getreten …Sie geht einfach davon aus, dass wir das nicht bemerken. Und da soll ich als Amerikanerin nicht das Recht haben, das mit Hitler in den Dreißigern zu vergleichen?

Versuche der Bush-Administration, Bundesanwälte zu entlassen, werden mit den „Maßnahmen Goebbels’“ verglichen. Dann fügt sie noch Folgendes hinzu:

Oder nehmen sie die Ärzte, die Folter unterstützt haben. Ärzte und Psychiater, die per Eid dazu verpflichtet sind, niemandem Schaden zuzufügen, und die per Unterschrift Praktiken zulassen, die das Rote Kreuz als Folter klassifiziert. Solche Ärzte gab es auch in Deutschland.

Zwar versucht Frau Wolf diese Aussage etwas zu relativieren und erklärt: „(Das) ist kein Vergleich, sondern eine Parallele“. Diese Kasuistik vermag aber nicht zu überzeugen. Auch dem Gesprächspartner von Naomi Wolf ist nicht ganz klar, welcher Unterschied zwischen einer Parallele und einem Vergleich bestehen soll.

Zur Verwirrung trägt auch die Tatsache bei, dass Naomi Wolf die Regierung Bush nicht nur mit dem NS-Regime, sondern auch mit einer anderen totalitären Diktatur, nämlich mit dem Regime Stalins vergleicht. Sie zieht z.B. eine Parallele zwischen der US-amerikanischen Bekämpfung des Terrorismus und der stalinistischen Jagd nach den Staatsfeinden:

Das gab es auch unter Stalin, diese ständig veränderbare Definition eines Staatesfeindes, eines Subversiven, eines Saboteurs.

So werden die USA in der Zeit der Bush-Administration mit einem Regime verglichen, das allein in den Jahren 1937/38 mehr als 680.000 angebliche „Volksfeinde“ hinrichten ließ.

Totalitarismus vs. Demokratie

Dies allein zeigt, wie bizarr die Gedankengänge Naomi Wolfs sind. Sie versucht das Unvergleichbare miteinander zu vergleichen, was sie zu einem logischen Fehlschluss nach dem anderen verleitet. Denn Demokratien, auch wenn sie von Krisen geschüttelt sind, befinden sich institutionell und strukturell quasi auf einem anderen Planeten als totalitäre Diktaturen. Zum Wesen der totalitären Regime gehört nicht nur eine partielle Aushöhlung der politischen und gesellschaftlichen Kontrollmechanismen, wie dies in Demokratien gelegentlich geschieht, sondern deren gänzliche Ausschaltung. Die Tatsache, dass die zerstörerische und selbstzerstörerische Politik Hitlers erst durch die überlegene Militärmacht der Anti-Hitler-Koalition und diejenige Stalins erst nach dem Tode des Diktators gestoppt werden konnte, ist mit dieser gänzlichen Zerstörung der innenpolitischen Kontrollmechanismen verbunden. Die USA von heute verfügen hingegen über eine unüberschaubare Fülle solcher Kontrollinstanzen – die beiden Kammern des Parlaments, die unabhängige Gerichtsbarkeit, föderale Strukturen, Selbstverwaltungsorgane und last but not least: die freie Presse – die „vierte Gewalt“. Eine offene Anprangerung der Politik Stalins oder Hitlers, wenn man von solchen Ausnahmen wie Bischof von Galen absieht, stellte für die Kritiker in der Regel ein Todesurteil dar. Die radikale Kritik am Vorgehen der Bush-Administration füllte tagtäglich unzählige Spalten der amerikanischen Presse. Diejenigen, die diese grundlegenden Unterschiede als irrelevant abtun, befinden sich in einer konstruierten Pseudowirklichkeit, in der die wahren Sachverhalte praktisch auf den Kopf gestellt werden. Einen solchen gespenstischen Eindruck vermitteln auch die Gedankengänge von Frau Wolf. 80 Jahre mühsamer Versuche der Politik- und Geschichtswissenschaft, totalitäre Systeme zu definieren, ihre Unterschiede zu den autoritären Regimen hervorzuheben, den unterschiedlichen Charakter der totalitären Diktaturen rechter und linker Prägung zu analysieren – all das ist an Frau Wolf wohl spurlos vorübergegangen.

„Es liegt etwas Ähnliches in der Luft“?

Als Donald Trump nach seiner Wahl zum amerikanischen Präsidenten einen Grundpfeiler der amerikanischen Demokratie nach dem anderen zu erschüttern begann, wurden von manchen Beobachtern erneut Befürchtungen geäußert, dass das „deutsche Szenario“ der 1930er Jahre sich nun in den USA (aber auch in Europa) wiederholen könne. „Es liegt etwas Ähnliches (wie in den 1930er Jahren) in der Luft“, meinte die amerikanische Historikerin und Publizistin Anne Applebaum in ihrem Interview für den „Tagesanzeiger“ (Dezember 2016). Der amerikanische Totalitarismusforscher Timothy Snyder fügte in seinem 2017 erschienenen Buch „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand“ hinzu:

Der Fehler liegt in der Annahme, Machthaber, die durch die Institutionen an die Macht kamen, könnten genau diese Institutionen nicht verändern oder zerstören – selbst wenn sie angekündigt haben, genau dies zu tun.

Das Gebäude stürzte wie ein Kartenhaus zusammen

Dieser von Snyder geschilderte Glaube an die Festigkeit der Institutionen war übrigens auch bei vielen Beobachtern der deutschen Szene zu Beginn der 1930er Jahre verbreitet. Kurz nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler bezeichnete der Redakteur der liberalen „Frankfurter Zeitung“, Benno Reifenberg, es

als eine hoffnungslose Verkennung unserer Nation zu glauben, man könne ihr ein diktatorisches Regime aufzwingen: Die Vielfältigkeit des deutschen Volkes verlangt die Demokratie.

Nur wenige Analytiker erkannten damals die Bedeutung der Zäsur vom 30. Januar 1933. Zu diesen Ausnahmen gehörte der kommunistische Dissident August Thalheimer, der bereits kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, das Ausmaß der sich anbahnenden Katastrophe erkannte. Seine Prognosen sollten sich bekanntlich in kürzester Zeit erfüllen. Insbesondere nach der Verordnung des Reichspräsidenten „Zum Schutz von Volk und Staat“, die nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 erlassen wurde, begann eine beinahe völlige Demontage pluralistischer Strukturen im Lande, und zwar in einem atemberaubenden Tempo. Bereits Anfang Juli 1933 zog der französische Botschafter in Berlin François-Poncet folgende Bilanz der ersten Monate des NS-Regimes:

(Hitler) musste nur pusten – das Gebäude der deutschen Politik stürzte zusammen wie ein Kartenhaus.

Was viele Beobachter zusätzlich erstaunte, war die Tatsache, dass dieser Prozess der weitgehenden „Gleichschaltung“ im Lande nur auf wenig Widerstand stieß. Die spektakuläre Ablehnung des bereits erwähnten „Ermächtigungsgesetzes“ durch die Reichstagsfraktion der SPD stellte eher eine Ausnahme dar. Der katholische Publizist Waldemar Gurian sprach in diesem Zusammenhang von einer „moralischen Kraftlosigkeit“ der Gegner der Nationalsozialisten:

(Die) morsch gewordenen Gegenkräfte hatten den Glauben an sich selbst verloren und kapitulierten, um ihr Leben zu retten, und merkten nicht, dass sie gerade darum, weil sie letzte Entscheidungen aufschoben, ihr Ende besiegelten.

Auch manche russische Exildenker, die 16 Jahre zuvor den Zusammenbruch der „ersten“ russischen Demokratie erlebt hatten, waren über die Unfähigkeit der deutschen Demokratie (wie auch mancher anderer westlicher Demokratien) verwundert, die Angriffe ihrer totalitären Gegner abzuwehren. Dies ungeachtet der Jahrhunderte alten rechtsstaatlichen Tradition, die dieser Teil Europas im Gegensatz zu Russland besaß.

Keine Wiederholung des „deutschen Szenarios von 1933“ in der Ära Trump

Nun aber zurück zu Donald Trump und zu den oft geäußerten Befürchtungen, den USA drohe eine Art Wiederholung des „deutschen Szenarios“ von 1933. In seinem bereits zitierten Buch „Über Tyrannei“ schrieb Timothy Snyder:

Wir Amerikaner sind heute nicht klüger als die Europäer, die im 20. Jahrhundert erleben mussten, wie die Demokratie dem Faschismus, dem Nationalsozialismus oder dem Kommunismus wich. Unser einziger Vorteil ist der, dass wir aus ihrer Erfahrung lernen können. Dafür ist es jetzt an der Zeit.

Im Interview für die „Süddeutsche Zeitung vom 7. Februar 2017 fügte Snyder hinzu:

Wir müssen akzeptieren, dass die Institutionen (Trump) nicht zähmen. … (Für) Trump sind Institutionen und Gesetze Hindernisse, die ihm im Weg stehen und die er beseitigen will.

Besonders häufig werden in diesem Zusammenhang die Worte des ehemaligen Beraters von Trump, Steve Bannon, zitiert, der sich selbst als einen „Leninisten“ bezeichnete, dessen Ziel die Zerstörung des bestehenden amerikanischen Systems sei.

Letztendlich haben indes Trump und seine Berater die Robustheit der demokratischen Institutionen in den USA, die auf eine mehr als 240-jährige Geschichte zurückblicken können, unterschätzt.  Trumps Wahlniederlage vom 3. November 2020 wie auch die Tatsache, dass er bei allen seinen Versuchen scheiterte, den Wahlsieg seines Kontrahenten gerichtlich anzufechten, stellt ein deutliches Indiz hierfür dar. Die pluralistischen Strukturen in den USA sind nach vier Jahren der Trump-Administration zwar erheblich ramponiert aber nicht zerstört, wie dies in Deutschland infolge der Gleichschaltung von 1933 der Fall gewesen war.

Dessen ungeachtet darf man die Folgen der Trumpschen Herausforderung für die amerikanische Demokratie natürlich nicht unterschätzen.  Durch seine Egomanie und seine hartnäckige Realitätsverweigerung fügte Trump der politischen Kultur der USA einen schweren, womöglich bleibenden Schaden zu. Zwar ist Joe Biden davon überzeugt, dass das „Vertrauen (der Amerikaner in ihre) Institutionen“, trotz der Turbulenzen der letzten Jahre, „gehalten hat“.  Ob diese Zuversicht des designierten Präsidenten aber berechtigt ist, bleibt offen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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