Der Tausendsassa
Mick Jagger wird 75! Ulf Kubanke gratuliert mit einem Porträt, das auch für Fans ein paar neue Facetten bereit hält.
Lebende Legende, Urgestein, Sexsymbol, Inbegriff des Frontman! Keine Superlative könnte je übertrieben klingen, wenn es um Mick Jagger geht. Der Rolling Stones-Boss ist eine der relevantesten wie prägendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Wer hieran Zweifel hegt, halte sich vor Augen: Es gibt nicht viele Menschen, zu deren 29. Geburtstag sich brillante Ikonen wie Andy Warhol, Woody Allen, Truman Capote und Bob Dylan die Klinke in die Hand geben. Nun feiert der schillernde Paradiesvogel den 75. und zeigt sich so umtriebig wie eh und je.
Seine Fitness ist physisch wie psychisch erstaunlich. Gerade bringt er eine zehnmonatige Welttournee hinter sich, die manchen Mitdreißiger überfordert hätte. Auf jeder Stones-Show tobt er etliche Kilometer über die Bühne, zieht sich ein halbes Dutzend mal um und zeigt in punkto Sangeskraft keinerlei Abnutzungserscheinungen. Nebenbei entwickelte er sich zum herausragenden Mundharmonika-Spieler und begleitet u.A. Blueslegende Buddy Guy auf dessen neuem Album. Zwischendurch schauspielert er oder produziert sehenswerte Streifen wie etwa die Spielfilmbiografie über James Browen „Get On Up“. Das alles ist nur ein kleiner Ausschnitt seines überbordenden Talents, nimmer endender Neugier und dem Bedürfnis hochwertige Kunst zu erschaffen. Sei es unmittelbar oder aus dem Hintergrund. Nicht zu vergessen: Vor nicht all zu langer Zeit wurde er zum achten Mal Vater.
Obwohl Michael Philip Jagger mit einiger Berechtigung als Inbegriff des Partylöwen wahrgenommen wird, sollte man nicht vergessen, dass er vor allem über eiserne Selbsrdisziplin verfügt. Eine Eigenschaft mit der er seine zahllosen Projekte jongliert, sich fit hält, um die Familie kümmert und nicht zuletzt die Rolling Stones seit mehr als einem halben Jahrhundert auf Kurs hält. Ein weiteres wichtiges Elemente ist Wasser. Seit vielen Dekaden achtet der Mann aus Dartford genau auf den Wasserhaushalt seines Körpers. Er vermeidet jegliche Dehydration. Vor Gigs nimmt Sir Mick mindestens acht Gläser zu sich, im Wissen auf der Bühne literweise H2O zu verlieren.
Ebenso zentral ist der Sex im Leben des Engländers. Hierzu gibt es eine erheiternde Episode: In den 90ern wurde ihm seine Unersättlichkeit selbst unheimlich. Jagger suchte Rat bei einer Ärztin, die ihm prompt „den Drang eines Sexualvampirs“ bescheinigt. Die Pointe: Frau Doktor erliegt ebenfalls der erotischen Anziehungskraft von Mr. „Satisfaction“. „Er liebte es, mich spielerisch zu versohlen. Das war eine völlig neue Erfahrung für mich.“ Das ist bei weitem nicht die einzige Anekdote. Es muss wahrlich große Situations gewesen sein, als er sein Cottage kaufte. Denn im Gegensatz zu den stocknüchternen Notaren, Anwältern, Maklern etc. war Jagger komplett auf LSD. „Wenn du Rock’n’Roll spielst, kannst du Drogen nehmen und Sex haben. Aber mit den Drogen solltest du beizeiten aufhören, damit du immer noch Rock’n’Roll spielen und Sex haben kannst.“
Mick Jaggers Solo-Katalog –
Die Non-LP-Tracks:
Essentiell: „Dancing In The Streets“ mit Kumpel David Bowie; ein 1985er Cover des 1964 von Marvin Gaye geschriebenen und von Martha & The Vendellas berühmt gemachten Soulklassikers. Es macht Spaß, zu sehen, wie sich diese beiden höchst unterschiedlichen Typen ergänzen. Jagger zappelt als extrovertierter, knallbunter Derwisch durchs Bild, während Bowie seine Dancemoves lediglich elegant andeutet. Auch die Single „Ruthless People“ aus dem gleichnamigen 1986er Film (deutsch: „Die unglaubliche Entführung der verrückten Mrs. Stone“) lohnt sich.
Als unverzichtbaren Anspieltipp empfehle ich folgenden Killer: „Too Many Cooks (Spoil The Soup)“ ist weit mehr als ein Cover des Blues-Klassikers von Willie Dixon. Sogar etlichen Stones- und Beatles-Fans ist diese Zusammenarbeit von Jagger und John Lennon unbekannt. Beide treffen sich 1973 in L.A. und kochen es zum wüsten Funk-Klopper hoch. Lennon produziert. Jagger singt. Beide arrangieren. Auch nach über vier Jahrzehnten büßt der Song kein Quentchen seiner groovy Bissigkeit ein.
Die vier LPs
Von den vier LPs fallen zwei eher befriedigend aus. „Primitive Cool“ (1987) und „Goddess In The Doorway“ (2001) strotzen nicht gerade vor Ideenreichtum. Singles wie „Let’s Work“, „Lucky Day“ oder das knackige „God Gave Me Everything“ (mit Lenny Kravitz) gehen klar. Insgesamt bieten beide Alben jedoch eher routinierte Vorstellungen.
Ganz anders „She’s The Boss“ (1985). Mal hart, mal zart gibt es hier ein Musterexemplar perfekt abgehangenen 80er Rocks. Mit erlesenen Partnern wie Bill Laswell (Bass, Produktion), Jeff Beck oder Nile Rodgers reiht sich ein Highlight ans andere. Das treibende „Just Another Night“ und die gefühlvolle Ballade „Hard Woman“ wurden verdiente Welthits.
Nicht leicht, hiermit auch nur gleich zu ziehen. Doch 1993 gelingt ihm sein insgesamt bestes Album „Wandering Spirit“. Die Gästeliste ist beeindruckend. Lenny Kravitz, Billy Preston oder Flea (Red Hot Chili Peppers) samt Rick Rubin als Producer sind nur einige Namen. Hinzu kommt Annie Leibovitz fürs Cover-Foto. Micks Bandbreite ist enorm. Rock, Funk, Gospel, Folk, sanfter Pop, Dance-Elemente und Blues mischen sich zum schmackhaften Salat. Trotz seiner Vielseitigkeit klingt das Album von A bis Z aus einem Guss.
Zwei Lieder zum Anspielen. „Sweet Thing“ ist einer der souveränsten Ausflüge eines Rockosauriers gen Clubmusic überhaupt. Jagger kontert neongrelle Dancefloor-Ästhetik mit jenem fordernden, dreckigen, Erotomanen-Gesang, den er wie kein zweiter beherrscht. Neben der regulären Singlefassung gibt es etliche extended Varianten, die sich – bis hin zum kongenialen Dub-Mix – durchweg lohnen. Auch ein Vierteljahrhundert nach der Aufnahme klingt die Nummer so taufrisch und lasziv wie am ersten Tag.
Mein absoluter Liebling ist das auf den ersten Blick unscheinbare „Angel In My Heart“. Ich gestehe an dieser Stelle gern meine Zuneigung zum Cembalo. Jagger serviert hier einen der romantischsten Augenblicke seiner Karriere. Kein Song könnte zum Ausklang des Tages und des Artikels besser geeignet sein als diese Ballade. „Let me in your dreams, angel in my heart.“
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