Ich habe gewählt. Und Sie?
Morgen ist Landtagswahl in NRW. Haben Sie schon gewählt? Oder tun Sie das nicht? Eine Kolumne von Heinrich Schmitz
Foto: Geralt pixabay
Bei der letzten Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2017 lag die Wahlbeteiligung bei 62,5%. Das war eine um 5,6% höhere Beteiligung als noch im Jahr 2012. Es gaben aber 37,5% der Wahlberechtigten ihre Stimme erst gar nicht ab. Und nun schauen Sie mal, wie sich die Zweitstimmen verteilt haben:
SPD | CDU | GRÜNE | FDP | PIRATEN | DIE LINKE | AfD | ANDERE | |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
31,2% | 33,0% | 6,4% | 12,6 | 1% | 4,9% | 7,4% | 3,7% |
Mit 37,5% hätten die Nichtwähler glatt einen Regierungsauftrag vergeben, so sie denn gewählt hätten. Warum jemand nicht wählt, kann viele Gründe haben.
Nichtwähler
Da sind diejenigen, die die Demokratie sowieso ablehen, diejenigen, die aus Protest gegen wen oder was auch immer nicht wählen, diejenigen, die lieber in der Sonne liegen, diejenigen, die meinen, sie seien zu dumm zum Wählen und diejenigen, die meinen, sie seien viel zu klug dazu und dann noch die, die meinen, ihre eine Stimme könne eh nichts ausrichten. Okay, da kann man machen, da darf man rechtlich auch machen. Denn das Wahlrecht ist nunmal ein Recht und keine Pflicht.
Ich habe bereits gewählt. Per Briefwahl. Zum einen, weil ich mir den Wahlschein in aller Ruhe zuhause auf dem Tisch auslegen kann, was in der Wahlkabine selten klappt, weil der Zettel länger ist als der Tisch und der arme Einzelkandidat von VOLT erst irgendwo kurz vor dem Fußboden auftaucht, zum anderen, weil ich ja nie genau weiß, ob ich am Wahltag überhaupt ins Wahllokal komme. Ich könnte schon tot sein, wie eine gute Freundin, die vor ein paar Tagen gestorben ist, deren bereits per Briefwahl abgegebene Stimme aber trotzdem weiter gültig ist. Das muss ja nicht unbedingt bei dieser Wahl schon sein, aber irgendwann aus dem Jenseits mitzuwählen fände ich schon cool.
Politikmüde
Dabei kann ich im Ansatz schon verstehen, wenn Menschen keinen Bock mehr auf Politik haben. Wir haben hier im Flutgebiet einen über blöde Witze lachenden Ministerpräsidenten erlebt, wir haben erlebt, dass durch verspätete Reaktionen, späte Warnungen Menschenleben in Gefahr gebracht wurden. Wir haben erlebt, dass die Fluthilfe großmundig zugesagt und dann kleinbürokratisch oder auch gar nicht ausgezahlt wurde, wir haben erlebt, dass undurchschaubarer Coronaregeln aufgestellt, aber nicht wirklich kontrolliert wurden. Ja, alles wahr, alles ärgerlich und ja, zum Abgewöhnen.
Daraus nun aber die Konsequenz zu ziehen, bewusst auf sein Wahlrecht zu verzichten, kann nur derjenige, dem das demokratische System als solches nicht erhaltenswert scheint. Dass man etwas für die Demokratie tun kann, indem man nicht wählen geht, ist grober Unfug. Und es ist darüber hinaus auch noch eine unbewusste Überbewertung der Parteien.
In Art. 21 des Grundgesetzes steht:
(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.
Da steht nicht, der Staat gehört den Parteien. Sie wirken bei der politischen Willensbildung nur mit. Aber nicht nur sie sind zur Mitwirkung berufen, sondern jeder einzelne Bürger. Auch wenn er nicht in eine Partei ist. Auch und gerade Intellektuelle – wer oder was auch immer das sein mag – könnten ja mal nicht nur an der Politik herummeckern, sondern konkrete Verbesserungsvorschläge machen. Natürlich ist es wichtig und notwendig, wenn man Fehler aufzeigt und offen kritisiert. Das mache ich ja auch ständig.
Scheissjob
Aber es ist wohlfeil, auf denen, die sich in die Politik begeben, ausschließlich herumzutrampeln, ohne deren Tagesabläufe selbst auch nur ansatzweise mitmachen zu wollen. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich gemütlich auf dem Sofa oder hinter einem Schreibtisch sitzend bei einem schönen Glas Rotwein einen gesellschaftspolitischen Text schreibe, oder ob ich Tag für Tag als Politiker durch die Mangel gedreht werde. Ich könnte das gar nicht. Das ist ein Scheissjob.
Ich habe eine ganze Reihe von Kontakten zu Politikern aus allen, na sagen wir, fast allen Parteien. Im persönlichen Gespräch sind alle, die ich kenne, vernünftige und verantwortungsbewusste Menschen, die sehr wohl nicht nur ihre eigenen Interessen im Auge haben, sondern auch das Wohl des Staates und der Bürger. Puh, jetzt hab ich Schwein gehabt, dass ich Andy Scheuer nicht kenne.
Die einzelnen Politiker haben oft auch andere Ansichten als ihre Parteiführung. Kommt es dann zu einer Abstimmung, stimmen sie aber gar nicht mal selten mit der Partei, gegen ihre persönliche Meinung. Wer das nicht will, wird schon mal von seinem Fraktionsführer zusammengeschissen. Sie kennen das noch? Fresse nicht mehr sehen, und so. Das ist blöde, aber wohl kaum zu ändern.
Hier liegt aus meiner Sicht auch das Hauptproblem der anschwellenden Abneigung gegen Politiker. Und hier liegt auch die große Chance einer Wiederbelebung demokratischer Willensbildung.
Antreten
Was wir am 15.5. wählen, ist nicht die Landesregierung oder den Ministerpräsidenten. Wir wählen Abgeordnete. Wir wählen ein Parlament. In dieses Parlament können wir wählen, wen wir wollen. Diejenigen von denen wir wissen oder denken, dass sie unserem Willen eine Stimme geben. Das können Politiker aus Parteien, das können aber auch Einzelkandidaten sein. Das könnten sogar die demokratiemüden Intellektuellen sein, wenn sie denn die Eier hätten, sich zur Wahl zu stellen. Würde gar nichts schaden, ein paar Philosophen und andere Denker und echte Querdenker – also nicht schwurbelnde Leerdenker, die sich für Querdenker halten – im Parlament zu haben. Im Parlament sollen die Ideen streiten, nicht die Idioten. Parteisoldaten, die außer treu an der richtigen Stelle mit der Partei zu stimmen, keine besondere Qualifikation haben, Mitläufer und Schwachmaten muss man nicht wählen. Auch nicht, wenn man ihre Partei vielleicht ganz gut findet.
Ich bekam vor ein paar Tagen in einem Altenheim ein Gespräch zweier betagter Damen mit, die beide ihre bestehende Briefwahlentscheidung diskutierten:
„Isch wählen der XY. Der kennen ich.“ „Äwwer der kannste doch nit legge.“ Nä, äwwer der kennen isch. Die andere kennen isch all nit.“ Un met der Zweitstemm?“ „Ja, moss ich dann noch en zweite Stemm affjevver?“ „Jo, dat mosste.“ „Jo, dann wählen ich der Zweite och noch.“ „Wie der Zweite?“ „Der, der unger dem XY steht.“ „Nee, die zweite Stemm moss de op der rechte Sit affjevve.““Asu, jo, do wählen ich die Partei von dem XY.“ „Ävver der kannste doch nit legge.“ „Jo, ävver der kennen ich doch.“
Übersetzung:
„Ich wähle den XY. Den kenne ich.“ „Aber den kannst Du doch nicht leiden.“ „Nein, aber den kenne ich. Die Anderen kenne ich alle nicht.“ „Und mit der Zweitstimme?“ „Ja muss ich denn noch eine zweite Stimme abgeben?“ „Ja, das musst Du.“ „Ja, dann wähle ich den Zweiten auch noch.“ „Wie der Zweite?“ „Der unter dem XY steht.“ „ Nein, die zweite Stimme muss Du auf der rechten Seite abgeben.“ „Ach so, ja, dann wähle ich die Partei von dem XY.“ „Aber den kannst Du doch nicht leiden.“ „Ja, aber den kenne ich doch.“
Nun ja. So können Wahlentscheidungen auch fallen. Ich hoffe und vermute, dass diese Form der Stimmvergabe sich irgendwie auf alle Parteien mehr oder weniger gleichmäßig verteilt. Denn wählen darf jeder Wahlberechtigte; wie er seine Wahl trifft, ist seine Sache. Er kann sich informieren, er kann es aber auch lassen. Der Spruch, „Keine Macht den Doofen“ gilt eben nicht.
Ich glaube aber, dass die Mehrheit der Wähler ihre Wahl durchaus nach bestimmten Kriterien trifft. Dabei kann bei weniger an Politik Interessierten auch der Wahl-O-Mat durchaus hilfreich sein. Wobei ich allerdings auch sagen muss, dass die ersten vier Parteien meines Ergebnisses so kleine Parteien waren, dass ich die wegen des sicher zu erwartenden Scheiterns an der 5%-Hürde mal außen vor gelassen habe. Im Übrigen kam die Reihung dann aber schon meiner persönlichen Gewichtung sehr nah. Und die Partei, die ich auf keinen Fall wählen würde, landete abgeschlagen mit 30% auf dem letzten Platz.
Meine „Parteikarriere“
Ich war als 15-jähriger selbst einmal für kurze Zeit in einer Partei bzw. in der Jugendorganisation einer Partei aktiv. Nach ein paar Monaten wählten die anderen mich zum Kreistagsdelegierten. Ich fand das cool. Allerdings nur bis einen Tag vor der Delegiertenkonferenz. Da wollte mir nämlich ein alter Mann aus dem Parteivorstand erklären, wie ich bei den einzelnen Tagesordnungspunkten abzustimmen hätte. Ich habe mir das brav angehört und dann abgestimmt, wie es mir richtig erschien. Danach habe ich die Partei verlassen. Seitdem bin ich bekennender Wechselwähler und splitte auch meine Stimmen fast immer auf. Bei der Erststimme nehme ich unabhängig von der Partei den Kandidaten, der mir authentisch erscheint. Die Zweitstimme vergebe ich an eine Partei, die Ziele vertritt, die mir am Herzen liegen. Dass es dabei eher selten eine 100%ige Übereinstimmung gibt, geschenkt. Ohne Kompromiss läuft gar nichts.
Die Option, nicht zu wählen, ist bei aller pseudo-intellektuellen Begründung eine beleidigte Kleinkindreaktion. Die sind alle doof und wollen nicht mit mir spielen, da spiel ich eben nicht mit. Je geringer die Wahlbeteiligung um so wahrscheinlicher wird es, dass zum Beispiel verfassungsfeindliche Parteien eine Chance auf einen Parlamentsauftritt bekommen. Das muss ich nicht haben. Wenn Sie keine der jetzt im Parlament vertretenen Parteien wählen möchten, dann gibt es ja durchaus Alternativen. Nicht unbedingt die, die sich selbst „Alternative für“ nennt, sondern vielleicht auch mal VOLT, das mehr eine europäische Bewegung als eine Partei ist. Vielleicht finden sie auch noch andere Parteien oder Sie entscheiden sich spaßeshalber für die PARTEI, den die ist gut. Es ist ganz egal, was sie wählen, wenn sie es bewusst tun.
Mein Traum einer 100%igen Wahlbeteiligung wird immer ein Traum bleiben. Aber stellen sie sich mal vor, was das für eine Stärkung des Parlaments und der Demokratie bedeuten würde. Mit welchem Selbstbewusstsein Abgeordnete aus allen politischen Richtungen diskutieren würden. Da käme Leben in die Bude, ganz egal wer die Regierung führt. Kompetente Opposition statt langweiliger Klüngelei. Neue Gesichter und Köpfe, frische Gedanken und Argumente.
Natürlich haben Sie auch das Recht nicht zu wählen. Aber erzählen Sie mir bitte nicht, Sie würden das aus Sorge um die Demokratie, das Land oder den Staat machen. Je geringer die Wahlbeteiligung ist, um so weniger sind die Angeordneten legitimiert für das Volk zu sprechen. Und durch wen soll es dann sprechen? Durch populistische Hassprediger auf der Straße? Durch beleidigte Intellektuelle, die selbst nicht bereit sind in den Ring zu steigen, aber offene Briefe schreiben? Durch Anarchie? Die mag ja vielleicht ein paar Tage lang ganz lustig sein, aber wie lange?
Im Gegensatz zu Milliarden Menschen auf der Welt haben wir das Recht zu wählen. Das war nicht immer so. Und wir wissen aktuell auch nicht, ob das ewig so bleibt. Wenn Sie meinen, dass das beim letzten Mal nicht so richtig geklappt hat, dann ändern Sie es einfach. Sie haben die Wahl. Nutzen Sie die.