„A Walk on the Weill-Side“ – Eine Kolumne für den Ausnahmemusiker Gavin Friday

In der Hörmal-Kolumne geht es diesmal um den irischen Ausnahmemusiker Gavin Friday und eines der besten Alben der gesamten 80er Jahre.


Foto: Gavin Friday; used by kind permission of Gavin Friday, copyright by Gavin Friday / bearbeitet: HS

Dublin 1973: Die Party in einem nicht näher benannten Haus strebt langsam aber sicher ihrem Höhepunkt zu. Doch nicht alle Anwesenden sind geladene Gäste. Ein 14jähriger Junge mischt sich unter die Feiernden und versucht etwas zu stehlen. Doch zum Glück des Teenagers und seines späteren Publikums scheitert der Plan auf ganzer Linie. Die gleichaltrigen Jungs Paul und Derek erwischen den Eindringling namens Fionán auf frischer Tat. Doch anstatt die Polizei zu holen oder ihn zu verjagen, werden sie enge Freunde.

Das Leben in Dublin war besonders in jenen Tagen alles andere als leicht. Bittere Armut, wirtschaftliche Depression, Massenarbeitslosigkeit und soziale Unruhen prägten die Situation. Der Konflikt um die ungeklärte Teilung des Landes schuf zusätzlich eine düstere Atmosphäre. Ganz miese Ausgangsposition für ein paar Kids, die eine Zukunft wollen und ganz anders sind als die Gesellschaft. So gründen die obig Genannten eine Clique namens „Lypton Village“. Es ist eine echte Jugendgang, die statt hartem Stoff ihren eigenen Stoff aus dem die Träume sind, webt. Hierzu gehört auch eine neue Identität.

So wird aus Fionán Martin Hanvey kuzerhand das Alterego „Gavin Friday“. Derek Rowen nennt sich von hieran „Guggi“. Und beide erdenken sich für Paul Hewson den Namen „Bono“. Von den Hinterhöfen Dublins bis zur großen Bühne ist der Weg noch lang und steinig. Schnell mahlen sie nicht, die Mühlen des Schicksals. Doch Letzteres nimmt dennoch seinen unbeirrbaren Lauf und bringt schlussendlich zwei musikhistorisch wichtige Bands hervor: U2 und die Virgin Prunes.

 

Der Mond schaut herab und lacht – Fridays frühe Jahre bei den Virgin Prunes

 

Erstere erhalten dennächst eine ganz eigene Kolumne. In dieser Geschichte hingegen spielen die Virgin Prunes und alles, was aus ihnen erwächst die Hauptrolle. Zwar blieb die Band besonders in Deutschland stets ein Geheimtipp. Künstlerisch jedoch gelten die Prunes heute zurecht als absolutes Urgestein der vielschichtigen Post-Punk-Bewegung. Gothics, New Waver und Postpunker mit all ihren Überschneidungen berufen sich gern auf die Iren. Im LP-Regal der Musikgeschichte gehören sie zum selben Rudel wie etwa Killing Joke, Joy Division, Bauhaus, Siouxsie And The Banshees oder The Cure.

Neben Gavin und Guggi gehört unter anderem auch ein gewisser „Dik“ zur Band. Der Gitarrist heißt mit bürgerlichem Namen Richard Evans und ist der ältere Bruder des ebenfalls heutigen Saitenhexers David Evans, den die meisten von Euch unter seinem Künstlernamen „The Edge“ kennen. Zwischen 1977 und 1986 legen diese Pioniere so richtig los; total Underground, total ihrer Zeit voraus, total gut! Für den absoluten kommerziellen Erfolg wandeln die Virgin Prunes all zu weit jenseits des Mainstream-Pfads. Ihre Shows beinhalten – besonders in der Frühzeit – höchst freizügige Performance-Elemente, die mit Prüderie und überkommenen Geschlechterrollen ordentlich Schlitten fahren. Freie Sexualität, Gleichberechtigung von Frauen, Trans- und Homosexuellen? Für die wilden, heterosexuellen Jungs ist das alles kein Fremdwort, in jenen Tagen; gleichwohl allemal zuviel für die konservative, noch sehr vom Katholizismus geprägte irische Gesellschaft.

Auch musikalisch ist es kaum möglich, die Virgin Prunes in eine Schublade zu zwängen. Neben klassischem Post-Punk und Gothic Rock – Genres, die sie miterfinden – fließen ebenso Partikel aus Industrial, Chanson oder des Dark Cabaret in ihren Cocktail. Letzteres bezeichnet eine Ästhetik, die sich stark an der Dekadenz der Weimarer Republik orientiert und durchaus auch Passagen der Burlesque oder des Vaudeville einschließt. Hier haben die Prunes etwas begonnen, das späterhin zu einer kompletten Szene wachsen sollte und u.A. Bands wie The Dresden Dolls, The Tiger Lillies oder Amanda Palmer hervorbrachte. Im erweiterten Rahmen nennen auch Weltstars wie Björk (The Sugarcubes), Trent Reznor (Nine Inch Nails) oder Billy Corgan (The Smashing Pumpkins) die Band „essentiell“ für ihre Entwicklung. Besonders bei „Birthday“, der ihrerseits ledendären ersten Single der Sugarcubes hört man diese Prägung der frühen, tobenden Prunes recht deutlich heraus. Zwei Empfehlungen möchte ich Euch, werten Lesern, gern zum Einstieg an die Hand geben. Da wäre zum einen das hervorragende dritte Album „…If I Die, I Die“ aus dem Jahr 1982; produziert von Colin Newman (Wire). Seine Melange aus klassischem Postpunk und flippender Avantgarde transportiert auch 35 Jahre nach Veröffentlichung verschrobene Frische. Die damalige Single „Baby Turns Blue“ avancierte im Laufe der Zeit zum echten Szenehit und Kultsong auf den dunklen Tanzflächen.

Mein persönlicher Favorit ist ihr 1986er Werk „The Moon Looked Down And Laughed“. Die absolute Konfrontation ihrer Sturm und Drang-Phase ist weitgehend Geschichte. Obwohl die Platte noch immer nicht gerade leicht zugänglich ist, weicht das Spröde hier einer nuancierten Darstellung der Lieder. Der balladeske Grundton und Fridays theaterhaftes Ausformulieren machen das Mondalbum zum Übergangswerk zwischen Bandphase und der folgenden Solokarriere.

 


Gavin Friday zu mir über die Virgin Prunes-Zeit im Rahmen eines Interviews für Laut..de:

Als wir die Prunes gegründet haben, war ich 17. Beseelt vom Punk und der Idee, mich unbedingt ausdrücken zu wollen. Ich mag das ganz alte Zeug bis heute sehr. Aber insgesamt würde ich sagen, bin ich jetzt viel mehr Musiker. Wir haben alle seitdem so viel über Musik gelernt. Damals lag vieles im Schwerpunkt eben auf Ausdruck und Darstellung. Chansons, Brecht. Das war schon immer mein Ding.

…denn jeder tötet, was er liebt – Solostart mit einem der besten Alben aller Zeiten

 

Was hier als Überschrift so vollmundig klingt, ist keine Übertreibung. Das 1989 erscheinende Debütalbum „Each Man Kills The Thing He Loves“ ist eine schwarztraubige Perle unter Perlen. Unter allen defintitiven Rotwein-Alben der Extraklasse nimmt es mit überraschender Lässigkeit ganz selbstverständlich einen der vorderen Ränge ein. Diese Platte gehört ins Regal zwischen Leonard Cohens „Songs Of Love And Hate“, Tom Waits „Small Change“, Scott Walkers „1“ bis „4“, Brels „Les Marquises“, Lou Reeds „Berlin“, Bowies/Brechts „Baal“, John Cales „Fragments Of A Rainy Season“ und Nick Caves „Your Funeral, My Trial“. Gavins Erstling ist auf Augenhöhe mit von der Partie. Egal ob als unverzichtbarer Begleiter für die sprichwörtliche „Einsame Insel“, als Tröster in Zeiten des Unbills – von Liebeskummer bis Ruin – oder als trotziger Tänzer auf den Wunden des Lebens: Diese Plattte ist jeden Kniefall wert.

Während etwa Tom Waits das Kostüm des Hobos und Bartenders seiner Hörer perfektionierte, geht Friday einen anderen Weg. Er übernimmt gleich alle denkbaren Rollen. Er ist der Heilige und die Hure, die Schlampe und ihr liebestrunkener Narr, der sarkastische Killer und das romantische Opfer, der Draufgänger und der Verzagte. Mit jedem einzelnen Song erzählt er eine Geschichte, jedes einzelne Stück birgt eigene Magie. Friday stellt sich ganz in die Tradition der Genies. So kultiviert wie Oscar Wilde, so spröde wie Kurt Weill und so direkt wie Jacques Brel haut Friday dem Hörer seinen Tsunami aus sprachgewaltig akzentuierten Gefühlen entgegen – „the weird and the wonderful“. Der Clou: Trotz durchaus erkennbarer Prägung bleibt alles eine originale, sehr typisch klingende Friday-Show. Nicht ist auch nur entfernt epigonal. Der Dubliner zelebriert seinen Walk on the Weill-Side absolut souverän und drückt allen unterwegs gefundenen Traditionen seinen eigenen GF-Stempel auf.

Doch allein kann man so einen Regenhund von einem Album nicht auf die Beine stellen. Schon das Team ist erlesen. Als Edelgäste fungieren Marc Ribot (u.A. Tom Waits) und Tausendsassa Bill Frisell (u.A. John Zorn, Marianne Faithfull), Fernando Saunders (u.A. Lou Reed, John McLaughlin) oder Maurice Seezer. Ultimativer Joker ist Produzentenlegende Hal Wilner (u.A. Lou Reed, William S. Burroughs, Alan Ginsberg). Mit soviel Könnern an der Hand kann das Ergebnis nur weltklasse ausfallen. Tut es auch.

Schon der Titelsong zeigt als perfekt platzierter Opener, wo es langgeht. „Each Man Kills…“ ist textlich ein Ausschnitt aus Wildes „Ballade Vom Zuchthaus Zu Reading“ („Ballad Of Reading Gaol“). Friday und Seezer lösen den Song aus dem tragischen Zusammenhangs von Wildes Schicksal und zaubern daraus eine gallige, zutiefst sarkastische Gypsyfolk-Nummer, deren sardonischer Zauber – „lei-dah-dah-dei“ – dem großen irischen Schriftsteller sicherlich gefallen hätte.

 


Apropos „Zauber“: Das folgende Arrangemet von „Tell Tale Heart“ ist überirdisch. Bittersüß knüpfen die Instrumente hier einen dunkelbunt schimmernden Teppich, so fragil wie Spinnweben im gleißenden Mondlicht. Heimlicher Star des Tracks ist Michael Blairs Percussion. Und warum das alles? „…for love….all for love.“

Von hier entführt Gavin uns in in eine schummrige Spelunke. Dort wartet bereits einer dieser Typen – ein jeder von uns kennt sie – die mit der Theke verwachsen zu sein scheinen. Trunkenbolde die jedem ungefragt ein Ohr abkauen und als Tavernen-Maskottchen zum Inventar gehören. „So buy me a drink an I’ll bee just like you. Where do ya come from? And what do you do?“ Doch dieser Schluckspecht hat tatsächlich eine hervorragende Story samt verstimmtem Saloonklavier in petto. Titelgetreu geht es in „Rags To Riches“ vom Tellerwäscher zum Millionär, vom Bordstein zur Skyline und leider auch wieder zurück. „That’s life, baby, bada.babab.bow.“ So gönnt Friday sich hier ähnlich deutlich seinen Brecht/Weill-Moment, seine Pocket-Dreigroschen-Oper, wie Bowie es Anfang der 70er mit „Velvet Goldmine“ tat. Beide Songs gehören als ungleiche Brüder hintereinander in eine Playlist.

 Beide Songs gehören als ungleiche Brüder hintereinander in eine Playlist.

Kann man solche Intensität überhaupt steigern? Kaum vorstellbar! Doch Gavin Friday gelingt es mit einer der intensivsten Balladen überhaupt. „Just a Penny for the poor I ask.“ Seine „Apologia“ ist bis zum Rand gefüllt mit Weltschmerz, Fusel und betrogener Liebe. Zwischen dramatisch angeschlagenem Piano und unheilvollem Cello schwelgt und verWeillt Friday in exquisiter Hoffnungslosigkeit. Ist der Protagonist hier grimmiger Täter des Judas-Verrats oder gar sein Opfer und rächender Mörder aus Leidenschaft? Entscheidet selbst.

Und das sind nur vier von insgesamt vierzehn grandiosen Stücken. Es gibt noch einiges zu entdecken, für jene Angefixten, die sich das Album zulegen. Und nicht nur dort. Fridays Katalog und Karriere ist vollgepackt mit etlichen Gipfelmomenten. Auch die im Laufe der Jahre folgenden vier weiteren Alben halten das Niveau spielend, ohne stilistisch vergleichbar zu sein.

Die Friday-Kollaborationen:

 

Im Verlauf der letzten mehr als 30 Jahre arbeitete Friday mit etlichen großen Künstlern zusammen. Hierzu zählen unter anderem The Fall oder die Talking Heads (minus David Byrne). Die wichtigste Kollabo in musikhistorischer Hinsicht ist sicherlich das 1984 erschienene Debüt „Scatology“ der Experimental-Könige Coil. Friday steuert dort Text und Gesang zu „Tenderness Of Wolves“ bei.

  Von Cedarwood nach Hollywood – Gavin Friday und der Film:

 

 Gavin Fridays Karriere ist eng mit den bewegten Bildern verbunden. So taucht er als Schauspieler etwa in Neil Jordans „Breakfast On Pluto“ auf. Besonders bemerkenstwert sind indes Fridays Filmmusiken. Seine Songs – teils exclusiv komponiert – finden sich in berühmten Streifen wie „Romeo & Juliet“, „Short Cuts“, Moulin Rouge“ oder „Im Namen Des Vaters“. Zusammen mit Quincy Jones und Maurice Seezer schrieb er z.B. den Score zur 50 Cent-Filmbiografie „Get Rich Or die Tryin’“. So ziehen sich die Kreise des ehemaligen Jungen aus der Cedarwood Road mittlerweile bis nach Hollywood. Und genau hier schließt sich auch der Kreis dieser Kolumne. Die Story, die mit Gavin und Bono begann, überlasst beiden Freunden auch das letzte Wort. „Im Namen Des Vaters“ (von Jim Sheridan mit den brillant spielenden Daniel Day-Lewis und Pete Postlethwaite) ist nicht nur ein anrührend intensiver Film über die leider wahre Geschichte der „Guildford Four“. Der Soundtrack bietet mit dem Titelsong auch ein hervorragendes Duett von Friday und Bono samt tollen Lyrics.
weiterführende Links:
(m)eine Review über sein 2011er Album „Catholic“: http://www.laut.de/Gavin-Friday/Alben/Catholic-68736

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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