Global gerecht?
Das Weltrechtsprinzip im deutschen Recht und seine Schwierigkeiten. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz.

Wenn ein Diktator am anderen Ende der Welt Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, könnte man meinen, das sei „nicht unser Bier“. Doch das Weltrechtsprinzip sagt: „Oh doch, das ist sehr wohl unser Bier – und wir zapfen es sogar selbst.“ Willkommen in der faszinierenden Welt des internationalen Strafrechts, wo Deutschland sich nicht nur um Schwarzfahrer in Berlin kümmert, sondern gelegentlich auch um Kriegsverbrecher aus Damaskus.
Das sogenannte Weltrechtsprinzip, juristisch: „universelle Jurisdiktion“, erlaubt es den nationalen Gerichten, bestimmte, besonders schwere, Verbrechen weltweit zu verfolgen – ganz gleich, wo sie begangen wurden oder von wem. In der Theorie klingt das zwar nach einer gerechten Weltordnung,in der Praxis ist es aber eher ein bisschen wie der Versuch, mit einem Laubbläser einen Orkan zu stoppen – kaum möglich, aber immerhin sehr, sehr ambitioniert.
Rechtsgrundlage – Universelle Gerechtigkeit auf deutschem Boden
Im deutschen Recht ist das Weltrechtsprinzip in § 1 des Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) verankert, das 2002 in Kraft trat – kurz nachdem Deutschland erkannt hatte, dass internationale Verantwortung nicht unmittelbar mit dem Eurovision Song Contest endet.
Laut VStGB dürfen deutsche Gerichte Völkermord (§ 6), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7), Kriegsverbrechen (§§ 8–12) und seit jüngerer Zeit auch das Verbrechen der Aggression (§ 13) verfolgen – völlig unabhängig davon, ob der Täter oder das Opfer deutsche Staatsbürger sind, oder ob die Tat in Castrop-Rauxel, Aleppo oder Kiew stattfand.
Der Gedanke dahinter: Bestimmte Verbrechen gehen die gesamte Menschheit an. Und da die Menschheit (noch) über kein Weltstrafgericht mit Polizeigewalt verfügt, übernehmen Staaten wie Deutschland freiwillig ein Stück dieser Verantwortung. Wie bei einem globalen Putzplan, bei dem sich Deutschland gelegentlich bereit erklärt, auch mal die besonders schmutzige Ecke zu schrubben.
Von der Theorie zur Praxis: Der Fall Syrien und andere Premieren
So theoretisch das alles klingt – Deutschland hat das Weltrechtsprinzip tatsächlich genutzt. Ein Paradebeispiel: das Koblenzer Verfahren gegen zwei ehemalige syrische Geheimdienstler wegen systematischer Folter. Einer wurde zu lebenslanger Haft verurteilt – ein historisches Urteil, das auch weltweit Beachtung fand.
Das Besondere: Keiner der Angeklagten war Deutscher, das Verbrechen fand nicht in Deutschland statt, und dennoch war es ein deutsches Gericht, das – mit Hilfe mutiger ZeugInnen und NGO-Recherchen – Recht sprach. Deutschland war plötzlich nicht mehr nur Exportweltmeister für Autos, sondern auch für internationale Strafverfolgung.
Die Kehrseite: Probleme über Probleme (aber auch ein paar kreative Lösungen)
Trotz aller Prinzipien und Paragrafen ist die Anwendung des Weltrechtsprinzips oft ein echter Spießrutenlauf – juristisch, politisch und ganz praktisch. Hier einige der größten Stolpersteine:
Politisches Minenfeld – Zwischen Recht und Realpolitik
Wenn deutsche Ermittler plötzlich anfangen, nach hochrangigen Amtsträgern anderer Staaten zu fahnden, kann das diplomatisch, nennen wir es mal „ungemütlich“, werden. Das Weltrechtsprinzip hat nämlich die unangenehme Angewohnheit, keine Rücksicht auf diplomatische Etikette zu nehmen.
Da klingelt dann auch schon mal das Auswärtige Amt und fragt freundlich, ob man ausnahmsweise nicht den Präsidenten verhaften könne, solange der auf Staatsbesuch ist. Spoiler: Solche Fragen sind nicht einfach zu beantworten.
Ermittlungen à la Indiana Jones
Wer internationale Verbrechen aufklären will, braucht detektivisches Geschick, Ausdauer und – im Idealfall – ein Team aus sprachbegabten Juristen, forensisch geschulten Kriminologen und nervenstarken Zeugenbetreuern. Denn: Die Tatorte liegen oft in Bürgerkriegsregionen. Zeugen leben in Angst. Beweismaterial ist rar und manchmal nur auf alten Handys gespeichert.
Kurz: Wer hier ermittelt, fühlt sich nicht selten wie Sherlock Holmes – allerdings ohne Regenmantel, mit Dolmetscher und unter Zeitdruck.
Ressourcen: Große Taten, kleiner Etat
Völkerstrafverfahren sind wie die „Herr der Ringe“-Trilogie des Strafrechts: episch, komplex und sehr lang. Leider sind deutsche Gerichte und Staatsanwaltschaften eher auf die juristische „Tagesschau“ als auf das ganz große Kino eingestellt.
Ein typischesLandgericht hat einfach nicht die Kapazitäten, ein monatelanges Verfahren mit dutzenden internationalen Zeugen, Dolmetschern und Völkerrechtsexperten durchzuführen – schon gar nicht, wenn parallel noch der Schwimmbadgrabscher verhandelt wird.
Rechtsstaatlichkeit in Reinform – oder: Wie viel Fairness ist möglich?
Auch mutmaßliche Kriegsverbrecher haben Anspruch auf ein faires Verfahren. Klingt für manchen komisch, ist aber richtig. Kein leichtes Unterfangen, wenn Sprachbarrieren, Kulturdifferenzen und traumatisierte Zeugen zusammenkommen. Die Justiz muss hier Maßstäbe setzen – und gleichzeitig aufpassen, nicht auf einem rechtsstaatlichen Seil ohne Netz zu balancieren.
Einordnung im internationalen Konzert
Das Weltrechtsprinzip steht neben anderen völkerrechtlich anerkannten Jurisdiktionsprinzipien wie dem Territorialitätsprinzip, dem Personalitätsprinzip oder dem Schutzprinzip. Es ist allerdings das einzige Prinzip, das sagt: „Es ist mir egal, wer du bist, woher du kommst und was du hier willst – wenn du ein Völkermörder bist, beschäftigen wir uns mit dir.“
Diese Universalität ist nobel, aber auch riskant – denn sie macht nationale Gerichte zu Miniatur-Haager Tribunalen, allerdings ohne dessen Budget oder Rückendeckung.
Weltgerechtigkeit mit deutschem Akzent
Das Weltrechtsprinzip im deutschen Recht ist ein mutiger Versuch, globale Gerechtigkeit lokal umzusetzen. Es zeigt: Deutschland will nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch Verantwortung übernehmen. Und das ist, allen Schwierigkeiten zum Trotz,vielleicht blauäugig, aber dennoch bewundernswert.
Gleichzeitig ist das Prinzip kein Allheilmittel. Es ist teuer, politisch sensibel, ermittlungstechnisch extrem herausfordernd – und läuft Gefahr, pure Symbolik zu bleiben. Dennoch gilt: Jedes Verfahren ist ein Statement, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht ungestraft bleiben dürfen. Nicht in Den Haag, nicht in Damaskus – und eben auch nicht in Koblenz.
Ob das Weltrechtsprinzip irgendwann in ferner Zukunft einmal Alltag wird oder eine noble Ausnahme bleibt? Schwer zu sagen, wohl eher nicht. Aber eines ist klar: Wer partout die Welt retten will, muss manchmal im nationalen Gerichtssaal anfangen. Und vielleicht auch mit einem sehr, sehr dicken Gesetzbuch.