Die schwarze Grün-Paranoia
Er weiß zwar noch nicht, wo er am 23. Februar sein Kreuz setzen wird, wundert sich aber seit Wochen über den scharfen Anti-Grün-Kurs der Union. Warum lässt man geradezu fahrlässig 1 mögliche Regierungsoption links liegen? Paranoia-Kolumne von Henning Hirsch.
Wer als braver Parteien-der-Mitte-Wähler morgens die Zeitung aufschlägt, abends die Nachrichten im TV anschaut oder durch Facebook & Twitter/X scrollt, bekommt seit Wochen die „frohe“ Botschaft verkündet = die Grünen sind unfähig oder gar pfui und an die Regierung darf man diesen desolaten Haufen schon mal gleich überhaupt nicht lassen, will man als deutscher Steuerzahler nicht Gefahr laufen, dass der Wir-steigern-das-Bruttosozialprodukt-Karren vollends gegen die Wand gefahren wird. Garniert mit ein paar Firmeninsolvenzen und Ankündigungen von Mittelständlern, ihre Produktion demnächst ins kostengünstigere Ausland zu verlagern, entsteht beim um seinen persönlichen Wohlstand bangenden und von diffusen Abstiegsängsten geplagten Bürger allmählich der Eindruck, wir befänden uns kurz vor dem Rückfall ins Zeitalter des Naturaltauschs. Als ob das für sich alleine genommen nicht schon alarmierend genug ist, sind die Grünen ebenfalls verantwortlich dafür, dass wir die Einwanderung in unser schönes Land nicht besser in den Griff bekommen, weil Linke sich halt lieber mit Gendern als mit richtigen Problemen beschäftigen. Aus dem ursprünglichen Quartett, das mir als notorischem Wechselwähler bisher für mein Kreuzchen zur Verfügung stand, wird also 1 Akteur rausgemobbt, und übrig bleibt ein Trio, das sich aus Union, FDP und SPD zusammensetzt. Da die Liberalen – unterstellt, sie schaffen überhaupt den Sprung über die 5-Prozent-Hürde – in 2025 nicht für die Mehrheitsbeschaffung benötigt werden, gibt’s wenig Grund, sie am 23. Februar zu wählen (es sei denn, man ist ein Libertärer, der mehr Musk & Milei wagen möchte). Dann sind es plötzlich nur noch 2, zwischen denen ich mich entscheiden darf. Und da diese 2 mit einiger Wahrscheinlichkeit zum 127sten Mal miteinander koalieren werden, ist es eigentlich egal, wohin mein Würfel fällt; denn sowohl mit CDU als auch SPD erhalte ich am Ende ne (klitzekleine) Groko. Nur das Personal wird ein anderes sein als bei der letzten Auflage dieses immerwährenden deutschen Schauspiels.
Immer vs. bisher
Nun wäre das Grünen-Bashing nur halb so schlimm, wenn wir es in die Rubrik „Wahlkampfgeklingel“ einsortieren könnten. Jede Partei versucht, sich von den anderen abzugrenzen, jede stellt nen eigenen Kanzlerkandidaten auf, jede träumt von der eigenen Mehrheit. Wenn dann am Abend des 23. Februar die ersten Hochrechnungen über die Bildschirme flimmern, alle Parteien feststellen, dass es mal wieder zur alleinigen Mehrheit nicht gereicht hat und zwangsläufig eine Koalition geschmiedet werden muss, wenn man das Land regieren möchte, wird auf den Aschermittwochskater rasch Ernüchterung folgen, alle 4 Spieler des Parteien-der-Mitte-Quartetts haben sich wieder lieb, setzen sich an einen Tisch und loten in Sondierungsgesprächen Gemeinsamkeiten für eventuell anschließende Koalitionsverhandlungen aus. So war es bisher immer nach Bundestagswahlen.
Jedoch liegt die Betonung dieses Mal mehr auf „bisher“ als „immer“. Denn im Unterschied zu bisher gibt es 2025 zwei Besonderheiten:
Die AfD schickt sich an, zweitstärkste Kraft im kommenden Bundestag zu werden
Das Grünen-Bashing der Union (und hier speziell aus den Reihen ihres kleinen süddeutschen Ablegers) ist um den Faktor 10 schriller als gewöhnlich in Wahlkampfzeiten.
Jetzt fragt man sich als braver Parteien-der-Mitte-Wähler zweierlei:
(1) Warum wird, ohne erkennbare Not, die mögliche Partnerauswahl von 2 (SPD & Grüne) auf 1 (SPD) eingeschränkt?
(2) Was passiert, falls sich Union und SPD nicht einigen können? Werden die Grünen dann doch wieder über Nacht salonfähig, oder liegt für diesen Fall ein Geheimplan im Safe des Konrad-Adenauer-Hauses verborgen?
Anti-grün Argumente überzeugen nicht
Auch durch intensives Zeitunglesen (Publikationen verschiedener Couleur, um nicht Gefahr zu laufen, mich vom linksgrünen Mainstream indoktrinieren zu lassen) und Studium VIELER Facebook-Beiträge ist es mir nicht gelungen, 1 plausiblen Grund für die neue schwarze Grün-Paranoia zu entdecken. Staatstragender – für Konservative eigentlich ein superwichtiges Kriterium – als die aktuellen Grünen geht’s doch kaum noch. Im Vergleich zu Robert Habeck mutet selbst Olaf Scholz wie ein Hasardeur an, von den Polit-Hallodris Linder & Söder ganz zu schweigen. Wer verkörpert den Die-Ukraine-muss-siegen-Gedanken glaubwürdiger als Anton Hofreiter? Wann hat man von den Grünen in den letzten Jahren irgendwas anti-europäisches oder gar „Wir müssen raus aus der NATO“ gehört? Habeck regt mittlerweile sogar eine deutliche Aufstockung des deutschen Wehretats an, damit wir im Erlebnisfall unserer Bündnispflicht nachkommen können. Und diese, vollumfänglich auf dem Boden der FDGO stehende, Partei soll nun der alleinige Auslöser der deutschen Tristesse sein? Wer jenseits von Hardcore-Konservativen soll dieses Märchen glauben? Ja ja, das gescheiterte Heizungsgesetz – echt jetzt? Wie viele Gesetzesvorhaben haben denn die 4 Kabinette Merkel in den Sand gesetzt, ohne dass der CDU deshalb die Regierungskompetenz abgesprochen wurde?
Das Argument, die Union erziele nur mittels STRIKTER Abgrenzung zu den Grünen ein gutes Wahlergebnis, überzeugt nicht. Zum einen ist die Schnittmenge der beiden Wählermilieus groß, zum anderen dümpeln CDU& CSU in den Prognosen seit Monaten bei knapp über 30 Prozent. Dass man in den verbleibenden knapp 7 Wochen bis zum Stichtag da weitere 10 Punkte durch Grünen-Bashing drauflegen kann, glaubt außerhalb von Kloster Seeon niemand ernsthaft. Ebenfalls die Erklärung, Schwarz-Grün führe unweigerlich zu Hellblau, ist zu kurz gedacht. Das passiert nur dann, falls Schwarz und Grün sich gegenseitig blockieren, mehr zanken als gestalten und sich öffentlich beschimpfen. Wenn respektvoll miteinander umgegangen wird und seriöses Regieren im Vordergrund steht, ist Schwarz-Grün genauso ne valide Option wie Schwarz-Rot (zur Erinnerung: am kakophonsten ging’s im Kabinett Merkel 2 zu. Damals hieß der Partner: FDP). Warum sollte auf Bundesebene nicht das gelingen, was in den Ländern Ba-Wü, NRW und S-H ganz passabel klappt?
Zahlen ermöglichen 3 Farbkombinationen
Wären heute Wahlen, käme es zu diesen Ergebnissen:
CDU/CSU: 31,1%
AfD: 19,1
SPD: 16,0
Grüne: 13,8
BSW: 5,2
FDP: 3,7
Linke: 3,1
FW: 1,8
Sonstige: 6,2%
Quelle: https://dawum.de/Bundestag/
[Besonderheit: DAWUM wertet kontinuierlich die Befragungen von 7 Instituten aus, gewichtet die Prognosen anhand der Anzahl der Teilnehmer und errechnet den Mittelwert].
Dies führt zu folgender Sitzverteilung:
Union: 230
AfD: 141
SPD: 118
Grüne: 102
BSW: 39
Quelle: https://dawum.de/Bundestag/
[Der neue Bundestag ist kleiner als der momentane = in Zukunft nur noch 630 Sitze. Falls FDP und Linke beide draußen bleiben sollten, reichen bereits 43% der Stimmen, um die Mehrheit im Parlament (316 Sitze) zu erzielen].
Wie man unschwer erkennt, sind 3 Zweierkonstellationen theoretisch (praktisch natürlich auch) möglich:
(A) Schwarz-Hellblau
(B) Schwarz-Rot
(C) Schwarz-Grün
Da (A) mit einer Brandmauer versehen ist und (C) immer mehr verunsödert wird, bleibt als einzige Option nur (B). Was aber, wenn die SPD Steuern für die Reichen erhöhen, die Schuldenbremse aussetzen, Mindestlohn & Bürgergeld anheben und schnell Frieden mit Moskau schließen will (und zudem wenig Bock hat, zum 127sten Mal den Juniorpartner zu spielen)? Falls also diese Gespräche platzen sollten -> was dann? Kehrtwende um 180° – das ganze Antigrün-Gerede Schnee von gestern? Oder weitere Neuwahlen (bis das Ergebnis endlich passt) oder dann doch der Abriss der Brandmauer? Weil ja Rechtspopulisten/-extreme eingehegt in ein konservatives Kabinett gar nicht so schlimm sind (und in Regierungsverantwortung selbstverständlich entzaubert werden)? Rubrik: 1933 lässt grüßen.
Paranoia im Verein mit bajuwarischem Führungsanspruch
Da die oben genannten Argumente allesamt nicht ausreichen, um als braver Parteien-der-Mitte-Wähler das momentan recht exzessiv demonstrierte Grünen-Mobbing zu begreifen, bleiben 2 Erklärungsansätze:
(1) Die Konservativen sind bei ihrer Öko-Impression in den 80-ern hängengeblieben. Damals beherrschten selbstgestrickte Pullover, unrasierte Frauenbeine, Anti-AKW-Demonstrationen, Sitzblockaden vor Endlagern, pazifistische Ostermärsche und der im Parlament Turnschuh tragende Joschka Fischer das Bild. Seitdem hat sich jedoch VIEL bei den Grünen geändert. Kaum vorstellbar, dass Robert Habeck heutzutage Seite an Seite mit Gert Bastian gegen den NATO-Doppelbeschluss zu Felde zöge, oder gemeinsam mit Petra Kelly „Schwerter zu Pflugscharen“ anstimmt.
(2) Es geht gar nicht so sehr um anti-grün, sondern mehr um die Pflege 1 bajuwarischen Egos. Gemäß dem Motto: Wenn ich nicht Kanzler sein kann, dann diktiere ich zumindest die Bedingungen, unter denen diese Kanzlerschaft stattfinden darf. Völlig egal, ob ich vor kurzem noch Bäume umarmt habe.
Am wahrscheinlichsten ist dabei der Mix aus (1) + (2) = ein Hybrid zwischen schwarzer Grün-Paranoia und gekränktem bayerischen Selbstwertgefühl, das in einen destruktiven Führungsanspruch umgeschlagen ist. Rubrik: Fragt mal Herrn Laschet.
Wollen wir für das Wohlergehen unseres Landes hoffen, dass im Frühjahr eine stabile Regierung zustande kommt, die im Anschluss intern geräuscharm die gesamte Legislaturperiode überdauert. Ob die Farbkombination Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün lautet (Schwarz alleine wird es nicht, und ebenfalls Schwarz-Gelb ist – Stand heute – ausgeschlossen), ist dabei zweitrangig. ALLES ist besser als Faschisten in Regierungsverantwortung!
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